Bettine von Arnim war eine Schriftstellerin der Romantik und eine schillernde Persönlichkeit, die sich nicht den Konventionen ihrer Zeit fügte. Als Witwe begann sie zu schreiben. Sie setzte sich für arme und benachteiligte Menschen ein, wollte den preußischen König belehren und die Welt verbessern, eckte dadurch jedoch auch innerhalb der eigenen Familie an.

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Catharina Ludovica Elisabetha Magdalena Brentano, wie sie mit vollem Mädchennamen hieß, wird am 4. April 1785 in Frankfurt geboren. Den Namen Bettine gibt sie sich selbst, so signiert sie ihre Briefe. Sie ist das dreizehnte Kind ihres Vaters Peter Anton Brentano (1735 – 1797), der aus einer alten italienischen Kaufmannsfamilie stammte, die ursprünglich aus Tremezzo am Comer See nach Frankfurt eingewandert war. Nach dem Tod seiner ersten Ehefrau ging Peter Anton – oder auch Pietro Antonio – mit 38 Jahren eine zweite Ehe ein. Er heiratete die 18jährige Maximiliane (1756 – 1793), Tochter von Sophie von La Roche (1730 bis 1807) und Georg Michael Frank von La Roche (1720 bis 1788).

Bettine von Arnim, Porträt mit Büchern von Ludwig Emil Grimm
Um 1809. Zeichnung von Ludwig Emil Grimm.
Quelle: Wikipedia

Die Mutter Maximiliane, der man heutzutage womöglich eine Depression bescheinigen würde, stirbt, als Bettine acht Jahre alt war. Vier Jahre später stirbt der Vater, zu dem Bettine trotz seiner häufigen Abwesenheiten ein enges Verhältnis gehabt haben soll. Neuer Vormund wird ihr Halbbruder Franz Brentano.

In der großen Familie mit der unübersichtlichen Geschwisterschar – zwanzig Kinder von drei Ehefrauen hatte der Vater insgesamt – fehlt es oft an Bezugspersonen für die junge Bettine, was ihr hohes Maß an Resilienz umso bemerkenswerter macht. Später blickt sie in ihrem literarischen Werk mit einer gewissen inszenierten Leichtigkeit auf ihre Kinder- und Jugendjahre zurück. Doch die Ehebriefe an Achim von Arnim oder die Briefe an ihre Söhne verraten – mehr als ihr literarisches Werk es könnte – etwas über die wahre Bettine, offenbaren auch Verunsicherung, Frustration und Zweifel.

Erziehung in der Kindheit – die Schwebereligion

Schon vor dem Tod der Mutter wird Bettine mit zwei ihrer Schwestern in ein Kloster der Ursulinen nach Fritzlar geschickt, wo sie insgesamt vier Jahre bleibt. Bemerkenswert sind Bettines Ansichten zur Religion. Im Kloster in Fritzlar gefallen ihr vor allem der Garten und die Natur. Die Gottesdienste verschläft sie hingegen, mit dem Katholizismus kann sie nicht viel anfangen, insbesondere nicht mit der Vorstellung, dass die Menschen Sünder seien. Bettine kennt zwar die Bibel, entwickelt jedoch ihren eigenen Glauben, da sie mit der Drohbotschaft des Christentums nichts anfangen kann. Sie bezeichnet Jesus als „Seelenschmetterling“ und die Kirchgänger als „ängstliches Raupengeschlecht.“ Bettines Religion ist der zu sich selbst kommende Mensch.

„Ich soll doch mein eigen werden, denn sonst wäre ich umsonst.“ Vertrauen auf Gott bedeutet für sie Selbstvertrauen, fromm sein heißt, die eigene Schönheit zu lieben. „Sei mit dir selbst wie mit einer Geliebten. Wer sich nicht liebt, ist sich verloren.“ Sie spielt sogar mit dem Gedanken, eine eigene Religion gründen, die sie die „Schwebereligion“ nennt. Bettines Credo: „Jeder soll neugierig sein auf sich selber und soll sich selbst zutage fördern wie aus der Tiefe ein Stück Erz oder einen Quell.“

„Mir deucht, mit den fünf Sinnen, die Gott uns gegeben hat, könnten wir alles erreichen.“

Bettine von Arnim

Bei der Großmutter Sophie von La Roche

Mit elf Jahren kommt Bettine – wiederum mit zwei Schwestern – zu ihrer als Schriftstellerin berühmten und sehr erfolgreichen Großmutter Sophie von La Roche. Sowohl im Kloster als auch bei der Großmutter wird ihr die typische eher mangelhafte und unsystematische Mädchenbildung der damaligen Zeit in Musik, Zeichnen und Malen zuteil. Bettine besitzt jedoch einen unerschütterlichen Glauben an die Selbstbildungsfähigkeiten des Menschen und noch dazu relativ große Freiheiten, sich lesend zu bilden. Bettine erweist sich als sehr begabte Schülerin, stilisiert sich jedoch im Nachhinein als bildungsunwillig. Sie mag keine Geschichte, denn männliche Heldentaten sind ihr zuwider, und sie mag keine Philosophie, durch die sie sich eingeengt fühlt. Dafür philosophiert sie selbst, ist beständig auf der Suche nach Wahrheit.

Sophie von La Roche, ihre Tochter Maximiliane und deren Gatte Peter Anton Brentano auf einem Familienbild, etwa 1773/1774 (Wikipedia)

Die Großmutter Sophie von La Roche, geborene Gutermann, hatte 1770 den überaus erfolgreichen Briefroman Das Fräulein von Sternheim veröffentlicht, den ersten deutschsprachigen Roman, der von einer Frau verfasst wurde. Sie unterhielt in ein Ehrenbreitstein einen literarischen Salon und galt als „Erzieherin der weiblichen Jugend zu Sitte und Anstand“. Sie fördert zwar die Bildung von Mädchen, ist jedoch gleichzeitig der Meinung, dass zu viel Bildung die Chancen auf dem Heiratsmarkt einschränkte.

Mit 12 Jahren lernt Bettine ihren sieben Jahre älteren Bruder Clemens Brentano (1778 – 1842) kennen. Ab 1801 beginnt der regelmäßige Briefwechsel zwischen den beiden, der ihr neue Impulse gibt.

Auf dem Heiratsmarkt

Als Bettine siebzehn ist, zieht sie zu ihrem Halbbruder Franz nach Frankfurt, um bei seiner Frau Antonie die Tugenden einer Hausfrau zu erlernen. Mit dem Umzug nach Frankfurt ist das schöne freie Leben für Bettine erst einmal vorbei. Sie ist unglücklich, denn sie würde gerne reisen, was ihr aber nicht gestattet wird. Auf die Entfaltung ihrer Begabung besteht keine Aussicht, nur die Ehe gilt für eine Frau als erstrebenswert.

1803 gibt es einen ersten reichen Heiratskandidaten, den Bettine entsetzt ablehnt, obwohl er sehr reich ist. Sie findet, „er ist ein Esel“. Ihr Bruder Clemens schlägt ihr seinen Freund Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861) vor, doch der „fürchtet sich vor ihr“. 1804 heiratet Savigny die Schwester Gunda. Clemens stellt ihr Achim von Arnim vor (1781 – 1831). Die beiden freunden sich an und schreiben sich, haben jedoch zunächst ein rein freundschaftliches Interesse aneinander.

Bettine von Arnim Porträt
Bettine von Arnim. Quelle: Wikipedia

In den folgenden Jahren lebt Bettine in Marburg bei Savignys, dann in Kassel bei der Schwester Lulu, die einen Bankier geheiratet hat, dann wieder bei den Savignys in Landshut. Sie hilft im Haushalt und mit den Kindern. Bettine ist jetzt 23 Jahre alt. Obwohl sie gemeinsam mit den Schwestern endlich reisen kann und viele Bekanntschaften macht, gefällt es ihr nicht, auf ihre Verwandten angewiesen zu sein. Sie bezeichnet sich selbst als traurig und unruhig, empfindet Isolation und Einsamkeit, fühlt eine gewisse Fremdheit zwischen sich und der Familie.

Bettine von Arnim und Clemens Brentano

Clemens Brentano ist, genau wie seine Halbschwester Bettine, innerhalb der großen verzweigten Familie Brentano ein Außenseiter. Kaufmännisch weder interessiert noch begabt, widmete er sich vor allem der Schriftstellerei. Gemeinsam mit Achim von Arnim bringt er von 1805 bis 1808 die Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn heraus. Bettine gegenüber wirkt er zwar gutwillig, aber auch übergriffig. Er glaubte immer zu wissen, was für Bettine gut ist, sagt ihr, was sie lesen, wie sie sich bilden soll. Auch gibt er ihr Handarbeiten auf, um sie beschäftigt zu halten, und er rät ihr, sich nie allein mit Männern abzugeben sondern stets nur in Gesellschaft von Franz und Toni. Sie schreiben sich nun regelmäßig – und Bettine beginnt, sich herrlich spitzzüngig gegen die Erziehungsversuche des Bruders zu wehren:

„Dein Rat ist: Scheine in der Gesellschaft stets lieber dumm als vorlaut“, empört sie sich. Oder sie verbietet dem Bruder den Mund mit den Worten: „Mit meinem Mund gebe ich einen Kuss auf deinen. In welcher Sprache kann ich gebieterischer ausrufen: Halt’s Maul Bruder.“ Sie verlangt: „Fordere nun nicht mehr, ich soll dir treu bleiben. Ich bleibe dir in allem treu, Was meine Natur nicht verleugnet.“ Einmal lautet ihr Fazit auch:

„Dein Brief ist so voll sorgender Liebe zu mir und doch so ohne Zutrauen, dass ich eigentlich nicht weiß, ob ich mich freuen soll oder nicht.“

Bettine von Arnim an ihren Bruder Clemens

1844 bringt Bettine den Briefwechsel mit ihrem Bruder stark überarbeitet unter dem Titel Frühlingskranz heraus.


Bettine von Arnim und Karoline von Günderode

1804 beginnt für Bettine eine intensive Freundschaft mit der fünf Jahre älteren Karoline von Günderrode (1780 – 1806). Die Freundin stammt aus verarmtem Adel. Der Vater starb früh, und Karoline lebte in einem evangelischen Damenstift in Frankfurt, wo sie Philosophie, Geschichte, Literatur und Mythologie studiert. Ab 1804 publizierte sie unter dem Namen Tian. Literatur von Frauen gilt vielen männlichen Zeitgenossen als etwas vollkommen Unnatürliches und gegen die „Bestimmung des Weibes“ gerichtet. Außer Begabung, Können und Fleiß ist zu diesen Zeiten von einer Dichterin vor allem auch Robustheit gefragt, was Karoline jedoch fehlt.
Karoline verliebt sich in den Altertumswissenschaftler Friedrich Creuzer (1771 bis 1858), der aus Pflichtgefühl mit der 13 Jahre älteren Witwe seines einstigen Professors verheiratet ist. Das leidenschaftliche Liebesverhältnis mit Karoline dauert von 1804 bis 1806. Creuzer spricht von Scheidung. Doch dann wird er krank und seine Frau pflegt ihn, woraufhin er mit der Günderode bricht und ihr die Nachricht von einer dritten Person überbringen lässt. Karoline bringt sich daraufhin in Winkel am Rhein um, indem sie sich einen Dolch ins Herz stößt. Die Freundschaft ist deshalb so bedeutend, weil Bettine ihrer Freundin 1840 mit dem Briefroman Die Günderrode ein literarisches Denkmal setzt. Es ist ihr zweites Werk nach Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, das 1835 erscheint.

Karoline von Günderrode
Karoline von Günderrode 1797 (Quelle Wikipedia)

Bettine von Arnim und Frau Rath

Ab 1806 pflegt Bettine einen engen Kontakt zu Goethes Mutter, in Frankfurt unter dem Namen „Frau Rat“ bekannt. Katharina Elisabeth Goethe (1731-1808) war die Mutter von Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832). Bettine geht täglich zu der 75 jährigen. Die fühlte sich zuvor etwas einsam und bittet Bettine, sie solle sie Mutter nennen. Die Verbindung ist tief – beide sprechen von Seelenverwandtschaft – und nicht auf Goethe beschränkt, auch wenn sie viel über ihn reden. Bettine schreibt auch auf Goethes ausdrücklichen Wunsch hin alles auf, was die Mutter über Goethes Kindheit erzählt. Bettine setzt auch Frau Rat ein schriftstellerisches Denkmal. In ihrem Buch von 1843 – Dies Buch gehört dem König – führt Frau Rath fiktive Gespräche mit Königin Luise, der Gattin von Wilhelm III. und repräsentiert somit das stolze freie Frankfurter Bürgertum. Goethe wiederum verwendet Bettines Mitschriften in seinem Buch „Dichtung und Wahrheit“.

Catharina Elisabeth Goethe
Catharina Elisabeth Goethe (Quelle: Wikipedia)

Bettines Ehe mit Achim von Arnim

Ihren späteren Ehemann lernt Bettine bereits 1802 kennen. In Briefen nähern sie sich einander an, dennoch ist nicht abzusehen, dass daraus einmal ein Liebesverhältnis entstehen könnte, vielmehr verlieben sie sich in jeweils andere und tauschen sich über ihren Kummer aus. Doch 1810 stirbt Achim von Arnims Großmutter, die ihn auch erzogen hat, und sie setzt nicht Arnim, sondern dessen Kinder (d. h. Söhne) als Erben und Achim als deren Vermögensverwalter ein. Nun braucht er eine Braut. 1810 macht er Bettine einen Heiratsantrag. Bettine ist 25 Jahre alt und willigt ein. Es handelt sich weder um eine Vernunftehe noch um eine Liebesheirat, sondern um eine Heirat aus gegenseitiger Wertschätzung, aus der mit der Zeit Liebe wird.

Auch in der Liebe bleibt Bettine sich treu. Sie ist der Meinung:

Die Liebe soll helfen, sich zu finden.

In rascher Folge werden die Kinder geboren: Freimund (1812), Siegmund (1813), Friedemund (1815), Kühnemund (1817), Maximiliane (1818), Armgart (1821) sowie Nachzüglerin Gisela (1827). Bettines Schwangerschaften sind schwer, den Entbindungen sehen sie und ihr Mann jeweils mit großer Sorge entgegen. Kein Wundern, denn am Ende des 18. Jahrhunderts stirbt jede zwölfte Frau im Kindbett.

Streit um den Wohnort

Ständiger Streitpunkt des Ehepaars ist der Wohnort. Achim von Arnim hätte gerne eine Stelle als preußischer Beamter oder als Offizier angenommen, doch das gelingt ihm nicht. Darum ist er gezwungen, auf das geerbte Gut Wiepersdorf zu ziehen. Er findet Gefallen an der Landwirtschaft. Bettine jedoch fehlt Berlin und der kulturelle Austausch. Ab 1817 wohnt sie mit den Kindern hauptsächlich in Berlin, was zu neuen, anderen Konflikten mit Achim führt, die nun vor allem per Brief ausgetragen werden. Vor allem über die Finanzen und die Erziehung der Kinder streiten sie sich. Achim ist viel konservativer als seine Frau. Der Ton wird rauer, Bettine klagt über die „Verbauerung ihres Mannes“ und vermisst den Dichter. Sie beschwört Achim, seine geistigen Freiräume zu nutzen.

Berlin, In den Zelten 5, Bettina von Arnims Wohnung in den Jahren 1847 bis 1859
Berlin, In den Zelten 5, Bettina von Arnims Wohnung in den Jahren 1847 bis 1859, Zeichnung von Armgart von Arnim (Quelle: Wikipedia)

Doch da zeigt sich die Verschiedenartigkeit der beiden. Achim braucht die Abgeschiedenheit des Landlebens, Bettine das Kommunikative der Stadt. Bettine hat etwas eigenes Geld von der Familie, was ihr Unabhängigkeit verschafft. 1831 stirbt Arnim überraschend mit 49 Jahren – die jüngste Tochter Gisela ist erst 4 Jahre alt. Sie trauert sehr um ihn, trägt ihn jedoch weiterhin in ihrem Herzen, sagt, er bliebe ihr „als Gesprächspartner erhalten“. Vormund der Kinder wird ihr Schwager Carl von Savigny. 1835 ereilt Bettine ein weiterer schwerer familiärer Schicksalsschlag, als ihr Sohn Kühnemund nach einem Badeunfall mit 18 Jahren an einer Kopfverletzung verstirbt.

Bettine von Arnim und Johann Wolfgang von Goethe

Nach dem Tod ihres Mannes beginnt Bettines Leben als Schriftstellerin. Ihr erstes publiziertes Werk wird ihr größter Erfolg, nämlich Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Bettine hat schon als Kind viel von Goethe gehört und begegnete ihm 1807, mit 22 Jahren, endlich persönlich. Bettine ist von ihm begeistert, Goethe ist ihr gegenüber reserviert, und das bleibt auch so.

Von 1807 bis 1811 schreibt sie ihm 41 Briefe, Goethe schreibt ihr 17, sie teilweise von seinem Sekretär verfasst werden. Sie bittet ihn, seine Mutter in Frankfurt zu besuchen, die mittlerweile todkrank ist. Goethe erkennt seine Chance und bittet sie, Märchen, Anekdoten und Geschichten aus seiner Kindheit für ihn mitzuschreiben. Er verwendet die Notizen, teilweise wortwörtlich für Dichtung und Wahrheit.

Titelblatt Erstausgabe Goethes Briefwechsel mit einem Kinde Bettine von Arnim

Bettine die Goethe-Verehrerin

1810 begegnet sie ihm wieder. Ihre Schilderungen dieses Ereignisses geraten von Mal zu Mal erotischer. So schreibt sie beispielsweise, dass er ihr „viele Küsse auf den Hals drückt“. 1811 besucht sie Goethe zusammen mit ihrem Mann – und da kommt es zum Eklat mit Goethes Frau Christiane. Doch Bettine lässt sich auch dadurch nicht aufhalten. Sie plant ein Goethe-Monument und zeichnet es selbst. Sie zeigt es ihm 1824, woraufhin er kurzzeitig etwas gnädiger gestimmt ist. 1832 stirbt Goethe in Weimar und sie beginnt, ihre Veröffentlichung vorzubereiten. In Goethes Briefwechsel mit einem Kinde kombiniert sie collageartig Kindheitserinnerungen, philosophische Betrachtungen und die Behandlung politischer Themen und thematisiert in keiner Weise die reale problematische Beziehung zu Goethe. Vielmehr betreibt sie eine Form von Geniekult, bei dem das Individuum sich durch Kontakt mit dem Genius weiterentwickelt und zu sich selbst findet.

Goethe und Psyche, Statue
Goethe und Psyche (Statue von Carl Steinhäuser, 1851) Quelle: Wikipedia

Viele sehen die Publikation höchst kritisch. Clemens Brentano merkt an, dass weder Arnim und Goethe die Veröffentlichung gutgeheißen hätten. Sie trifft auf massiven Widerstand der Familie, alle sind dagegen, auch ihre Schwester Gunda von Savigny, ihr Sohn Siegmund, der jetzt 22 Jahre und preußischer Beamter ist. Doch Bettine lässt sich nicht abbringen. Der Erstdruck erfolgt 1835 und die erste Auflage von 5000 Exemplaren. ist rasch verkauft. Bettine ist auf einen Schlag berühmt und wird zur Hoffnungsträgerin der aufbegehrenden deutschen Jugend. Die Schriftsteller des Jungen Deutschland sehen zu ihr auf.

Die politische Bettine – Dies Buch gehört dem König

Bettine war von jeher eine Person mit einem sozialen Gewissen und eine, die angesichts von Armut und Elend nicht wegschaut. Als im Jahr 1831 eine Cholera Epidemie in Berlin wütet, versucht, sie die ärgste Not zu lindern. Sie bleibt in Berlin, auch wenn sie die Kinder zu Verwandten schickt, sammelt Geld, organisiert Kleidung, Schuhe und Decken und organisiert Arbeit für die Erwerbslosen. Als Anhängerin der homöopathischen Medizin Samuel Hahnemanns verteilt sie Belladonna.

Karitativ waren alle damals Damen tätig, Bettine aber erkennt die Ursachen.

Man soll Mitleid mit niemand haben, man soll sich schämen, dass es so werden konnte.

„Tugendgekitzel“ nennt sie derlei Wohltäterei, die den Gebern schmeichelt, die Nehmenden demütigt und ansonsten die Welt belässt wie sie ist. Sie interveniert für sogenannte Kleine Leute, steht beispielsweise der Mutter eines Schneidergesellen bei, der von Gendarmen krankenhausreif geschlagen wird und verstirbt. Und sie engagiert sich für arme Studenten. Angesichts der Not um sie herum wird sie politisch. Sie hofft auf eine Lösung „von oben“, fürchtet aber die revolutionären Wirren. Ihr schwebt ein „soziales Königtum“ vor.

Im Jahr 1843 mündet ihr politisches Engagement in einer Publikation, die die Widmung im Titel trägt. „Dies Buch gehört dem König“. Darin stellt sie die Forderung auf, der König solle revolutionär werden“. Sie fordert die Einheit von König und Demagogen, glaubt noch an einen „guten König“.

Geldschein 5 DM Bettine von Arnim

Im Buch behandelt sie brisante Themen der Zeit. Sie erklärt das Konzept des Volkskönigs, ergeht sich in Ausführungen zu Justiz und zum Gefängniswesen, kritisiert eine Religion die Menschen klein hält und behandelt Fragen des Pauperismus, denn Löhne unter dem Existenzminimum sind ein großes Problem.

Das Buch beinhaltet auch eine Sozialreportage, Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtland, die Bettine ihrem ›Königsbuch‹ hinzufügt. Der Text geht auf die Aufzeichnungen des Schweizer Studenten Heinrich Grunholzer zurück, der anhand einer Auflistung von Einzelschicksalen die Lebensbedingungen der Bewohner des Vogtlandes, das war damals eine Armenkolonie in der Berliner Vorstadt, schildert. Bettine hält den Bericht für so bedeutend, dass sie ihn Grunholzer abkauft.


Auszug aus der Reportage

«Im Dachstübchen Nr. 76 wohnt ein Schuster, Schadow. Ich sah lange Zeit durch die gespaltene Türe ins Zimmer. Er arbeitete fleißig; die Frau saß am Boden und nähte einige Lumpen zusammen; zwei kleine, halbnackte Kinder saßen am Boden und spielten mit einer alten Tabakspfeife. Als ich eintrat, war Schadow ganz. erschrocken; er hatte mich für den Inspektor gehalten, dem er Miete schuldig ist, und sah sich gern enttäuscht. Das Zutrauen der Unglücklichen hat man sich bald erworben: es dauerte nicht lange, so erzählte mir der Mann seine ganze Lebensgeschichte; dass er dabei nicht viel von seinen Fehlern sprach, schien mir sehr verzeihlich und zum Teil überflüssig, da ich an ihm ja leicht merken konnte, dass er den Branntwein liebt und seine Frau sehr unordentlich ist. (…) 1836 zog er ins Familienhaus. Fünf seiner Kinder starben an den Pocken, und während sie krank waren, fehlte es ihm an Arbeit. Von niemandem unterstützt, geriet er dadurch so in Schulden, dass er mehrmals aus dem Hause geworfen werden sollte.

Er verkaufte Hausgeräte und Kleider und ist jetzt so entblößt von allem, dass er nicht einmal ein Hemd besitzt. Durch Arbeit kann er sich nicht wieder auf-schwingen, weil es ihm an Leder fehlt und die Flickarbeit, die er den Leuten im Familienhause macht, schlecht bezahlt wird. Zudem hat er mit zwölf andern Schustern, die am gleichen Orte wohnen, zu konkurrieren. Ich sah es selbst, wie seine Frau um Arbeit ausging und er unterdessen die Kinder hütete. Es war drei Uhr abends, und er hatte an demselben Tag erst zwei Silbergroschen verdient; den einen gab er wieder aus für Zwirn, für den andern kaufte er Brot. Das Kleine fing an, vor Hunger zu weinen. Sch. hatte soeben einen Schuh geflickt und gab ihn der Frau mit den Worten: ›Trage ihn fort, laß dir einen Sechser dafür geben und bring dem Kind ein Semmelbrot; es hungert.‹ Die Frau kam mit leerer Hand zurück; das Mädchen, dem der Schuh gehörte, konnte nicht bezahlen. Das Kind weinte noch immer, und Vater und Mutter weinten.«

zitiert nach der Bettine-Biographie von Michaela Diers, Seite 164.

Reaktionen auf das Buch

Die Reaktionen auf das Buch sind gespalten. Fortschrittliche sind begeistert, aber in Bayern und Österreich wird das Buch verboten. Die Preußen reagieren hingegen gelassen, weil sie annehmen, dass Form und Sprache des Werks sich nicht für eine größere Verbreitung eignen.
König Wilhelm IV wurde im Jahr 1840 König. Sie korrespondierte schon vor dessen Amtsantritt mit ihm und setzte sich unter anderem für die Gebrüder Grimm ein, die nach ihrer Entlassung aus der Universität Göttingen in Berlin Aufnahme fanden. Doch sie täuscht sich im König. Wilhelm IV. hängt vorabsolutistischen Vorstellungen an. Er begreift sich als ein König von Gottes Gnaden zum Wohle eines nach Ständen geordneten Volks. Zwar mag er hier und da milde erscheinen, im Kern bleibt er jedoch hart.

Bettine wird Hetze vorgeworfen

In einer weiteren Broschüre veröffentlicht Bettine von Arnim eine Analyse zur entfremdenden Industriearbeit, die den Menschen zum „Automat“ herabwürdigt. Sie lässt 750 Exemplare auf eigene Kosten drucken. Als es im Jahr 1844 zum Weberaufstand in Schlesien kommt, dem sogenannten Armenhaus Preußens, wird Bettine von Arnim vorgeworfen, sie aufgehetzt zu haben. Auch ihre Verwandten wollen sich Bettines Argumentation nicht anschließen. Ihr Schwager Savigny ist beispielsweise der Meinung, die Schlesier seien niederträchtig und verdienten kein Erbarmen.

Bettine ist empört. Sie wehrt sich mit den Worten: „Allein den Hungrigen helfen wollen heißt jetzt Aufruhr predigen“. Bereits seit ihrem Goethebuch schart sie in ihrem Salon junge Leute um sich. Nun findet sie sich im Lager der Staatsfeinde wieder. Man befürchtet gefährliche Umtriebe
in ihrem Salon. 1848 bricht die Revolution aus und der Riss geht auch durch die Familie von Arnim. Im Hause von Arnim gibt es fortan zwei Salons, einen demokratischen und einen aristokratischen.

Wilhelm IV. versucht, die Revolution mit Zugeständnissen zu zerschlagen. Als ihm das nicht gelingt, greift er beispielsweise in Baden und in der Pfalz militärisch hart durch. In Berlin gibt es am 18. März 1848 230 Todesopfer zu beklagen. Die angebotene Kaiserkrone lehnt Wilhelm IV. ab.

Die letzten Jahre

In ihren letzten Lebensjahren lässt Bettine in ihrem Engagement kaum nach. Sie setzt sich beispielsweise, wenn auch vergeblich, beim König für Gottfried Kinkel ein, der ein Mitglied der pfälzischen Revolutionsregierung gewesen war. Außerdem arbeitet sie weiter an der Umsetzung ihre Goethe-Monuments. 1852 erscheint Des Königsbuchs zweiter Band, Gespräche mit Dämonen, das kaum mehr Beachtung findet. 1853 werden ihre sämtlichen Werke in 11 Bänden herausgegeben. Die Politik wird währenddessen immer reaktionärer. Im Bundestag werden 1854 alle Arbeitervereine verboten, Streiks werden fortan mit Gefängnis bestraft.

Ende Oktober 1854 erleidet Bettine einen schweren Schlaganfall, 1856 folgt ein zweiter. Sie wird von ihren Töchtern Armgart und Gisela umsorgt. Sie stirbt am 20. Januar 1859 73jährig im Kreise ihrer Familie in Berlin und wird auf dem kleinen Friedhof von Schloss Wieperdorf neben ihrem Mann Achim von Arnim beigesetzt.

Bettine von Arnim

Die konservativen Familienmitglieder sorgen dafür, dass Bettines Nachlass zunächst unter Verschluss bleibt. Aus finanziellen Gründen wird er 1929 versteigert und ist nun verstreut oder verloren. Das politische Engagement von Bettine von Arnim geriet in Vergessenheit. In der DDR begann seit den 1950er Jahren die Aufarbeitung, in der BRD entdeckten sie die 68er. Bettine von Arnim war die Einzige, die das freiheitlich-individualistische Denken der Frühromantik in den Kampf um politische Freiheit und gesellschaftliche Gerechtigkeit überführt hat. Die einst scheinbar rebellischen Herren (ihr Bruder Clemens Brentano, die Brüder Schlegel, von Görres oder Eichendorff) verabschiedeten sich nämlich sämtlich in Richtung Katholizismus.

Quelle und Leseempfehlung: Michaela Diers: Bettine von Arnim. Deutscher Taschenbuch Verlag. 2010

Hörempfehlungen:

Mit jedem Druck der Feder drück ich Dich an mein Herz. Aus dem Briefwechsel von Bettine von Arnim und Achim von Arnim. Lesung mit Corinna Kirchhoff und Max Volker Martens. Hörbuch

MDR Kultur, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, Hörspiel

Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

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Heute begrüßt der Frauenleben-Podcast wieder eine Gästin, nämlich die Autorin Rebekka Eder. Rebekka schreibt historische Romane und hat unter anderem eine dreiteilige Reihe über die Familie Stollwerck in Köln verfasst: „Die Schokoladenfabrik“.

Rebekka Eder Die Schokoladenfabrik

Während ihrer Recherchen hat Rebekka sich viel mit dem Frauenbild im 19. Jahrhundert auseinandergesetzt – und das ist auch das Thema der heutigen Folge. Wir reden über Frauen damals und heute und versuchen herauszufinden, wie es dazu kommen konnte, dass man den Frauen jegliche Befähigung zum Intellekt und zur höheren Bildung abgesprochen hat. Außerdem sprechen wir über das Gleichgewicht von Fakten und Fiktion im historischen Roman, über die Erwartungen der Leser:innen und wie wir diese erfüllen. 

Für uns war es eine sehr spannende und unterhaltsame Dreiviertelstunde. Danke Rebekka für den Besuch und euch viel Spaß mit dieser Folge!

Die Schokoladenfabrik / Die Stollwerck-Saga:
Teil 1: Die Tochter des Apothekers
Teil 2: Das Geheimnis der Erfinderin
Teil 3: Der Traum der Poetin

Außerdem: Der Duft von Zimt

Rebekka ist zu finden bei Instagram: https://www.instagram.com/rebekka.mit.k/

Bei TikTok: https://www.tiktok.com/@rebekka.mit.k

Und auf ihrer Website: www.rebekkaknoll.de

Und hier geht’s noch zum Podcast Platonisch nackt: https://platonischnackt.de

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Beitragsbild von Mario Wezel

Die schottische Astronomin und Mathematikerin Mary Somerville war in den europäischen Wissenschaftskreisen des 19. Jahrhunderts eine Berühmtheit. Ihre Publikationen erlangten ebenso wie ihre Person Kultstatus.

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Obwohl Mary Somerville als Kind so gut wie keine formale Schulbildung erhielt, ging sie als eine der letzten Universalgelehrten in die Geschichtsbücher ein. Aber auch mit ihrer liberalen politischen Einstellung, ihrer Ablehnung der Lehre der Kirche, ihrem Einsatz für die Bildung und für das Wahlrecht von Frauen machte sie von sich reden. Außerdem war sie die Mentorin und Lehrerin der berühmten Mathematikerin Ada Lovelace.

Mary Somerville und ihre Handschrift

Nach Mary Somerville wurden Straßen, Plätze, Häuser, eine High School in Australien, eine Insel und ein Schiff benannt. Außerdem tragen ein Mondkrater und ein Asteroid und seit dem 1. April 2022 ein Satellit ihren Namen. Seit 2016 ist sie auf der schottischen 10-Pfund-Note zu sehen.

Google Doodle von 2020 zu Mary Somerville

Nachtrag:
Im Podcast rätseln wir kurz darüber, was Ada Lovelace damals übersetzt hat. Im Beitrag zur Podcast-Episode steht die Antwort: „Sie übersetzt einen wissenschaftlichen Artikel zur Maschine aus dem Französischen ins Englische und fügt einen Anhang bei, dessen Umfang den ursprünglichen Aufsatz um das Dreifache übersteigt. Darin hält sie unter anderem Handlungsanweisungen für die Maschine zur Berechnung von Bernouillizahlen fest und schreibt somit das erste Programm.“

Gegen Ende dieser Folge weisen wir auf eine Publikation von Mary Somerville hin, die als wissenschaftliches Lehrwerk bis ins 20. Jahrhundert hinein genutzt wurde, und dabei fällt auch das Wort „Rasse“, da dieser Begriff in dem Werk vorkommt. Die Erwähnung fand eine unserer Hörerinnen unpassend, darum weisen wir noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass dies natürlich ausschließlich dem historischen Zusammenhang geschuldet ist. Wir wissen, dass menschliche Rassen nicht existieren.

Den vollständigen Artikel über Ada Lovelace und die Podcast-Episode findet ihr hier.

Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

Frauenleben-Podcast 

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Quellen:

Margaret Alic, Hypatias Töchter, „Mary Somerville, die Königin der Naturwissenschaft“

Public lecture with Professor Jim Secord, Department of History and Philosophy of Science, Cambridge, The Royal Society

Die Isländerin war Frauenrechtlerin, Lehrerin, Schulrektorin und die erste Frau im Parlament Alþing. Ingibjörg H. Bjarnason gründete eine Stiftung für den Bau des Nationalkrankenhauses und setzte sich für Mädchenbildung ein.

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Ingibjörg H. Bjarnason wurde am 4.12.1867 in Þingeyri geboren. Dieser Ort liegt in den abgeschiedenen Westfjorden, hatte jedoch damals einiges an Bedeutung, weil er der älteste Handelsplatz der Region war und im späten 18. Jahrhundert amerikanische Fischer dort ihren Stützpunkt hatten.

Ihr Vater Hákon Bjarnason war Kaufmann und Reeder. Als das Mädchen zehn Jahre alt war, kam er bei einem Schiffsunglück ums Leben. Mutter Jóhanna Kristín Þorleifsdóttir blieb allein mit fünf Kindern zurück. Neben Ingibjörg waren das vier Söhne, die später Psychologe, Politiker, Einzelhandelsunternehmer und Linguist/Lehrer wurden.

Umzug nach Reykjavík

Die Mutter führte Reederei und Laden eine Weile weiter, ging dann jedoch in die Hauptstadt Reykjavík. Ingibjörg wurde nach ihrer Konfirmation auf die Reykjavíker Kvennaskólinn („Frauenschule“) geschickt, die es erst seit 1874 gab und als Privatschule geführt wurde. Dort lernte sie vor allem Hauswirtschaft und machte 1882 ihren Abschluss.

Ingibjörg H. Bjarnason zwischen 1890 und 1905, Porträtbild
Ingibjörg H. Bjarnason zwischen 1890 und 1905, Porträtbild

In den folgenden zwei Jahren nahm sie Privatunterricht bei Þóra Pétursdóttir, einer bildenden Künstlerin (einer der ersten isländischen Frauen, die Kunst studierten), die ein Buch über isländische Volkslieder herausgab und journalistische Artikel u. a. im von Bríet Bjarnheðinsdóttir herausgegebenen Kvennablaðið („Frauenzeitschrift“) veröffentlichte. Als Tochter des Bischofs und eines der reichsten Männer des Landes war sie allen gut bekannt.

1884 ging Ingibjörg H. Bjarnason zur weiteren Ausbildung nach Dänemark – für junge Männer damals ganz normal, für Frauen weniger. Sie ließ sich am Poul Petersen Institut zur Gymnastiklehrerin nach Pehr Henrik Ling ausbilden. Ihre Mutter kam ebenfalls nach Kopenhagen und führte dort ein Heim für Schülerinnen/Studentinnen, die wie Ingibjörg ohne ihre Eltern zum Lernen den Heimatort oder sogar das Land verlassen mussten.

Tätigkeit als Lehrerin und Schuldirektorin

Zwischen 1893 und 1903 unterrichtete sie Gymnastik in Reykjavík und reiste nach Deutschland und in die Schweiz, um dort mehr über Schulverwaltung zu lernen.

Ingibjörg H. Bjarnason
Ingibjörg H. Bjarnason

Ab 1903 war sie dann Lehrerin an „ihrer“ Kvennaskólinn und unterrichtete Turnen, Zeichnen, Handarbeiten, später auch Dänisch und Gesundheitswissenschaften. 1906 wurde sie zur Direktorin der Schule ernannt und blieb dies bis zu ihrem Tod im Jahr 1941. Sie wurde von Kolleg:innen für ihre Ausdauer und harte Arbeit gelobt, und die Schülerinnen bewunderten sie ebenfalls. Sie setzte sich stark für ihre Schule ein, reiste wiederholt ins Ausland, um sich weiterzubilden, forderte mehr öffentliche Gelder und fand ein größeres Gebäude samt Wohnheim. Nach und nach führte sie die Fächer Säuglingspflege, Erste Hilfe und häusliche Pflege ein.

Andere Aktivitäten

1911 war Ingibjörg H. Bjarnason Mitgründerin des Lestrarfélag kvenna („Frauenlesevereins“), und auch bei der Gründung des isländischen Handarbeitsvereins war sie dabei.

Politische Karriere

Bereits nach ihrer Rückkehr nach Island wurde sie in der Frauenbewegung aktiv. Ab 1908 durften verheiratete Frauen bei Lokalwahlen wählen und Teil des Stadtrats werden. Am 19. Juni 1915 wurde dann das landesweite Frauenwahlrecht eingeführt. Der 19. Juni ist heute der Frauentag.

Es gab eine große Kundgebung, eine Botschaft an den dänischen König wurde verlesen, eine Parade durchs Stadtzentrum organisiert. Fünf Frauen zogen ins Parlamentsgebäude ein und hielten Reden, auch Ingibjörg H. Bjarnason.

Exkurs: das isländische Parlament

Das isländische Parlament heißt Alþing (oder Althing) und existiert bereits seit der Landnahme im Jahr 930, als sich Menschen aus Norwegen in Island niederließen. Jedes Jahr zur Sommersonnenwende trafen sich die Familien und Clans im Südwesten des Landes in Þingvellir (oder Thingvellir), wo vom Lögberg („Gesetzesberg“) aus rechtliche Entscheidungen verkündigt wurden. Die Zusammenkunft war gleichzeitig auch Volksfest und Heiratsmarkt.

Þingvellir, wo das älteste europäische Parlament tagte
Þingvellir, wo das älteste europäische Parlament tagte

1262 wurde Island doch wieder der norwegischen Krone unterworfen. Ende des 14. Jahrhunderts kam es unter dänische Herrschaft. 1800 wurde das Alþing aufgelöst, 1844 in moderner Form wiederhergestellt. 1918 wurden die Strukturen weiter modernisiert, als Island zu einem unabhängigen Königreich in Personalunion mit Dänemark wurde.

Das war die Zeit von Ingibjörg H. Bjarnason. Die Ausrufung der Republik Island im Jahr 1944 hat sie nicht mehr erlebt.

Bau eines neuen Krankenhauses

Nach Erlangung des Wahlrechts war es eines der größten Anliegen der Frauen und Frauenvereine, den Bau eines neuen Krankenhauses voranzutreiben. Sie gründeten eine Stiftung, die heute noch aktiv ist und deren Vorsitzende damals Ingibjörg H. Bjarnason wurde. 1925 konnte dank ihrer engagierten Geldsammelaktionen mit dem Bau des Landspítali begonnen werden. Der Grundstein wurde von Königin Alexandrine gelegt. Auf ihm steht: „Dieses Haus wurde mit dem Geld gebaut, das isländische Frauen gesammelt haben …, um zu pflegen und zu heilen.“

Als erste Frau im Parlament

1922 trat Ingibjörg H. Bjarnason für eine parteiunabhängige Frauenliste (Kvennalistinn eldri) an, die bei der Wahl auf erfolgreiche 22,4 % kam. Ingibjörg H. Bjarnason zog am 15. Februar 1923 als erste Frau ins Parlament ein.

Sie sagte:

Ich sehe mich selbst als jemanden, die hierherkam, um die Interessen meiner Leute zu schützen, so gut wie ich es kann … Aber natürlich erwarte ich auch, dass es zu Situationen kommen kann, in denen ich besonders die Rechte der Frauen schützen muss.

Und:

Natürlich stehen die ersten Frauen, die Pionierinnen, vor diversen Herausforderungen, nur weil sie Frauen sind … Wenn die Zahl der Frauen im isländischen Parlament zunimmt, verschwindet, dass sie speziell angegriffen werden, weil sie Frauen sind.

Ihre Reden sind heute noch im Wortlaut im Internet abrufbar. Interessanterweise wollte sie damals durchsetzen, dass die Reden der Parlamentarier:innen nicht mehr veröffentlicht werden; sie wollte die Druckkosten sparen. Dabei wären ihre eigenen Reden gar nicht so teuer gewesen, denn sie bestand immer darauf, sich kurzzufassen.

Typisch Frau? „Typisch Frau“ wurde sie jedenfalls auch belächelt, wenn sie ihre Emotionen zeigte, während sie jedoch darauf bestand, sie würde logisch argumentieren und würde keine Lästereien dulden.

Platz am Tisch

Die ersten Frauenrechtlerinnen, so wird im Rückblick analysiert, dachten wohl, dass mit dem Wahlrecht alles gewonnen sei. Sie beklagten sich, dass die Männer sie jedoch nicht „reinlassen“ würden, obwohl Frauen doch aufgefordert werden wollten, wichtige Aufgaben zu übernehmen. Erst später verstanden sie, dass sie selbst weiter um einen Platz am Tisch kämpfen müssen.

Ingibjörg H. Bjarnason wurde später Mitglied der konservativen Íhaldsflokkurinn und später der Sjálfstæðisflokkurinn (Unabhängigkeitspartei), wofür sie von anderen Frauen kritisiert wurde. Das seien doch beides typische Männerparteien. Doch sie schien sich dort wohlzufühlen.

Konservative Partei Íhaldsflokkurinn, 1924, mit Ingibjörg, nicht schwer zu erkennen
Konservative Partei Íhaldsflokkurinn, 1924, mit Ingibjörg, nicht schwer zu erkennen

Diskussion um Kindererziehung

Es wurde diskutiert, ob Jungen und Mädchen getrennt zur Schule gehen sollten oder nicht. Die konservative Ingibjörg H. Bjarnason war der Meinung, Mädchen sollten getrennt unterrichtet werden, da nur sie wirklich wüssten, wie Haushalt und Familie funktionieren. Trotzdem sollten die Mädchen mehr als das lernen und die gleichen Rechte haben wie Jungen bzw. Männer.

Ihr Gegner dabei war der sozialdemokratische Jónas frá Hriflu – eine sehr interessante, nicht unumstrittene Politikerpersönlichkeit, für die ich auf Wikipedia verweisen möchte.

Ingibjörg H. Bjarnason setzte sich weiterhin gegen Armut (und die typischen Reykjavíker Kellerwohnungen) ein sowie für Frauenrechte, Bildung und Kunst. 1925 bis 1927 war sie zweite Vizepräsidentin des Oberhauses, 1928 bis 1932 Mitglied des Kultusministeriums. Sie starb im Jahr 1941.

Porträt von Ingibjörg H. Bjarnason, das heute im isländischen Parlament hängt
Porträt, das heute im isländischen Parlament hängt

Ehrung

Seit 2015, zum 100-jährigen Jubiläum des Frauenwahlrechts, steht vor dem Parlamentsgebäude eine Statue von Ingibjörg H. Bjarnason, geschaffen von der Bildhauerin Ragnhildur Stefánsdóttir.

Statue von Ingibjörg H. Bjarnason vor dem isländischen Parlament von Ragnhildur Stefánsdóttir
Statue von Ingibjörg H. Bjarnason vor dem isländischen Parlament von Ragnhildur Stefánsdóttir

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Quellen:
Hver var Ingibjörg H. Bjarnason…?
Kvennasólastjóri, fyrst kvenna alþingismaður: Ingibjörg H. Bjarnason
Málsvari íslenskra kvenna

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Artwork und Musik: Uwe Sittig 

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Die Leipzigerin Bertha Wehnert-Beckmann (1815–1901) war die erste Berufsfotografin Europas. Experimentierfreudig, geschäftstüchtig und kreativ widmete sie sich ab den 1840er Jahren zunächst der Daguerreotypie, als diese noch in den Kinderschuhen steckte, und dann der Kalotypie, ein Vorläufer der späteren Papierabzüge. Tausende Originalaufnahmen sind von ihr in privaten Sammlungen und öffentlichen Institutionen erhalten geblieben.   

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Bertha Wehnert-Beckmann stammt aus einer kinderreichen Familie, ihr Vater ist Damenschneidermeister in Cottbus, zwei ihrer Brüder arbeiten später auch als Fotografen. Sie erlernt zunächst das Handwerk der Galanteriearbeiterin, fertigt für einen Juwelier in Dresden Bilder und Miniaturen aus Haaren und Wachs – ab dem Biedermeier sehr beliebt für die Erinnerungskultur.

1842/43 reist sie nach Prag, wo sie bei dem berühmten Fotografen Wilhelm Horn die 1839 erstmals vorgestellte Technik der Daguerreotypie zu beherrschen lernt. Sie wird Wanderfotografin, so wie viele ihrer männlichen Kollegen der damaligen Zeit auch, sie fotografiert unter anderem in Gera, Ronneburg, Altenburg und immer wieder auch in ihrer Heimatstadt Cottbus. 

Katalog zur Ausstellung über die Fotografin Bertha Wehnert-Beckmann

Begleitbuch zur Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig,
25. Januar – 26. April 2015

Fotografisches Atelier in New York am Broadway

1845 heiratet sie den Fotografen Eduard Wehnert aus Leipzig, den sie während ihrer Reisen kennengelernt hat. Als dieser ein Jahr nach der Heirat stirbt, übernimmt sie allein das Atelier in Leipzig, das sie zuvor gemeinsam geführt haben. Von 1849 bis 1851 betreibt sie ein Atelier am Broadway in New York, wo sie sich auf die Kalotypie spezialisiert, wodurch sie sich von den zahlreichen Wettbewerbern abhebt. Sie wirbt damit, dass sich die Fotografien „ohne Anwesenheit der Person“ vervielfältigen lassen, was bei den Daguerreotypien (= nuancen- und detailreiche Fotografie auf einer versilberten Kupferplatte) nämlich nicht möglich war. Spätestens ab diesem Zeitpunkt arbeitet sie nachweislich parallel mit beiden technischen Verfahren. Im Oktober 1850 bekommt sie für ihre Leistungen eine Ehrenurkunde und eine Silbermedaille des „American Institute“ verliehen.

Das eigene Atelier in Leipzig

Ab 1851 ist sie wieder in Leipzig tätig. 1864 wird sie in dem von Louise Otto-Peters verfassten Roman „Neue Bahnen“ zur literarischen Figur, zumindest ist davon auszugehen, dass die Autorin aus Leipzig Bertha Wehnert-Beckmann vor Augen hatte, als sie ihre Protagonistin Frau Reichmann wie folgt beschreibt: 

„Frau Reichmann’s Photographien hatten einen ziemlichen Ruf, sie war damit in der Damenwelt der höheren Kreise Mode geworden und auch die Künstlerinnen vertrauten sich am liebsten ihr an. Man wußte, daß sie nicht nur die besten Apparate hatte, sondern daß sie auch gewissenhaft darauf sah, daß selbst nicht der kleinste Toilettenfehler vorkam und daß sie für jede Person die vorteilhafteste Stellung zu finden, die Faltenwürfe auf das Malerischste zu ordnen wusste.“

Louise Otto-Peters, Neue Bahnen, Leipzig 1864, Seite 68

Haus an der Elsterstraße in Leipzig

1853 kauft sie ein Grundstück an der Elsterstraße in Leipzig, die Planung ist sehr langwierig, so dass erst 1865 mit dem Bau begonnen werden kann. Nach Fertigstellung zieht sie mit dem Atelier um in den prachtvollen Neo-Rokoko-Palais – der heute noch steht. (Heutige Adresse: Elsterstraße 38). Sie hat mehrere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, darunter Emilie Louise Blau, die über sie unter anderem Folgendes sagt: „Frau Wehnert war eine begabte geistvolle Frau von fast männlicher Energie. … Ihre Kunst bestand darin, die Aufzunehmenden bei der doch ziemlich langen Belichtungszeit durch Unterhaltung so zu fesseln, dass die Gesichtszüge lebendig blieben.“ (zitiert nach: Die Fotografin, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Seite 21/22).

Das Haus wird 1881 an einen Kommerzienrat verkauft, von dem Erlös sichert sie sich ihren Lebensabend. Bertha-Wehnert-Beckmann starb am 5. Dezember 1901 im Alter von 86 Jahren. 

Daguerreotypien von Bertha Wehnert-Beckmann (von Museum digital:deutschland)

Porträt zweier Frauen von Bertha Wehnert-Beckmann (1850-1859) Herkunft/Rechte Stadtgeschichtl. Museum Leipzig Haus Böttchergäßchen
Porträt eines Paares von Bertha Wehnert-Beckmann (1850-1859) Herkunft/Rechte Stadtgeschichte. Museum Leipzig Haus Böttchergäßchen
Porträt eines Paares von Bertha Wehnert-Beckmann (1850-1859) Herkunft/Rechte Stadtgeschichtl. Museum Leipzig Haus Böttchergäßchen
Gruppenporträt von Bertha Wehnert-Beckmann (1850-1859) Herkunft/Rechte Stadtgeschichtl. Museum Leipzig Haus Böttchergäßchen

Quellen:

Die Fotografin. Bertha Wehnert-Beckmann 1815-1901. Begleitbuch zur Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig 25. Januar – 26. April 2015

Jochen Voigt: A German Lady. Bertha Wehnert-Beckmann, Leben & Werk einer Fotografiepionierin, 2014 Edition Mobilis Chemnitz

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Patriotische Heldin und „Indianerprinzessin“? Der Mythos Sacagawea hat einen überraschend feministischen Ursprung. Sicher ist eigentlich nur: Sie war die einzige Frau und die einzige Native American, die an der Lewis-und-Clark-Expedition teilnahm und zwischen 1804 und 1806 den nordamerikanischen Kontinent querte. Immer dabei: ihr Säugling und ihr unnützer Ehemann Charbonneau.

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Quellen:
Stephen E. Ambrose: Undaunted Courage. Meriwether Lewis, Thomas Jefferson, and the Opening of the American West, Simon and Schuster 1996.
Eva Emery Dye: The Conquest – The True Story of Lewis and Clark. Grosset & Dunlap 1914.
Ella E. Clark und Margot Edmonds: Sacagawea of the Lewis and Clark Expedition, University of California Press 1979.
Donna J. Kessler: The Making of Sacagawea. A Euro-American Legend, The University of Alabama Press 1996.

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Nana Yaa Asantewaa war eine ghanaische Königsmutter und Politikerin. Sie führte die Aschanti-Rebellion gegen die britischen Invasoren an, um den Goldenen Stuhl zu verteidigen.

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Das Aschanti- oder Asante-Reich bestand von 1680 bis 1896 – über 200 Jahre lang waren die Asante (die wiederum Teil des Akan-Volkes sind) eine regionale Großmacht, deren Gebiet sich über das heutige Ghana hinaus erstreckte. Die Asante waren eines von wenigen Völkern, die Widerstand gegen die europäischen Invasoren leistete und nicht zu einem Protektorat werden wollten. Prägend waren dabei vier Kriege, die von 1826 bis 1896 dauerten. 1900 unterlagen sie den Briten jedoch endgültig.

Zwillingsgeburten in Ejisu

Zur Zeit der Geburt von Yaa Asantewaa (um 1840) gab es in der Region Ejisu, aus der sie stammt, mehrere Todgeburten von Zwillingen, und eine Frau aus der königlichen Familie bekommt Zwillinge, von denen ein Kind ein „formloser Körper“ ist. Das Orakel sagt, dieser „einzigartige“ Körper sei von den Göttern geschickt und ebenfalls eine Gottheit namens Ateko, die die Asante anbeten sollen.

In den kommenden Jahren sind die Asante im Krieg besonders erfolgreich, und es gelingt ihnen, ihr Land zu vergrößern – das war Atekos Verdienst.

Yaa Asantewaas Leben in Ejisu

Yaa Asantewaas Eltern, Kwabena Ampoma und Madam Attah Poh, gehören zur königlichen Familie und leben (vermutlich) im Ort Besease. Sie wird 1832 oder 1840 geboren und erhält eine umfassende Erziehung in ihrer Kultur erzogen, um später Königsmutter von Ejisu zu werden. Sie gilt als religiös bzw. spirituell und nimmt, sobald sie ihre erste Menstruation bekommt, an einem Ritual statt, das zeigt, dass sie nun erwachsen ist. Sie heiratet einen Mann von außerhalb und bekommt ein Kind: eine Tochter, die sie Serwaa Brakatuo nennen. Ihr Mann hat, wie es bei den Asante üblich ist, mehrere Frauen und mit denen weitere Kinder, um die sich Yaa Asantewaa genauso gut kümmert wie um ihre eigene Tochter.

Vermutlich ein echtes Foto von Yaa Asantewaa
Vermutlich ein echtes Foto von Yaa Asantewaa

Yaa Asantewaa ist Bäuerin und liebt ihre Arbeit. Angeblich vergeudet sie nicht gern Zeit mit nachbarschaftlichem Geplauder – dafür ist immer zu viel zu tun. Sie möchte, dass Frauen selbstständiger werden und sagt: Männer sind keine Kissen, gegen die die Frauen sich lehnen sollten. Sie selbst ist von ihrem Mann finanziell unabhängig.

König Prempeh I. geht ins Exil

Am Ende der langen Kriegsjahre entscheidet sich König Prempeh I. 1896, nicht mehr gegen die Briten zu kämpfen, sondern ins Exil zu gehen, um sein Volk vor weiteren Angriffen zu schützen. Sein Weg endet 1900 auf den Seychellen, wo es ihm und anderen Mitexilant:innen erst einmal relativ gut geht. Sie erbauen ein Camp, Wasser und Strom wird gelegt, es gibt eine Gesundheitsversorgung, sogar einen Fußballplatz. Prempeh lernt Englisch und Französisch und konvertiert zum Christentum, auch wenn er mehrere Ehefrauen hat, und die Beerdigungen im Camp den Asante-Traditionen entsprechen stattfinden.

Königsmutter und König in einer Person

Yaa Asantewaas Tochter Serwaa Brakatuo bekommt elf Kinder. Als einer ihrer Söhne König von Ejisu wird, wird Yaa Asantewaa die Königsmutter. Wie Prempeh wird ihr Enkel jedoch von den Briten ins Exil gezwungen, sodass Yaa Asantewaa vier Jahre lang auch die Rolle des Königs übernimmt.

Politisch ist sie auf Ausgleich und Frieden bedacht und geht Konflikten eher aus dem Weg. Rache ist nicht richtig, sondern Vergebung. Sie will, dass die Frauen ihre traditionellen Rollen erfüllen, sorgt aber auch dafür, dass Männer ihre Frauen und Kinder nicht misshandeln. Auch hier betont sie, dass Frauen sich nicht von Männern finanziell abhängig machen sollen, da sie sonst nur allzu leicht dazu gezwungen werden können, ihren Körper zu verkaufen.

Die Asante waren (und sind) eine patriarchalische Gesellschaft, verfolgen aber ein matrilineares System, was den Familienstammbaum angeht, d. h. man „gehört“ immer zur mütterlichen Familie.

Der Governor benimmt sich daneben

Einige der Asante-Chiefs versuchen immer wieder, sich mit den Briten zu einigen. Doch die Briten sind nicht ehrlich, halten ihre Versprechen nicht ein und nehmen sogar einige der Chiefs gefangen, um sie in die Sklaverei zu verkaufen.

Sir Frederick Hodgson wird Governor der Goldküste und sucht nach dem Goldenen Stuhl, dem wichtigsten religiösen Machtsymbol der Asante, um sich selbst daraufzusetzen und seine Macht zu demonstrieren. Wie sehr er die Asante damit brüskiert, ist ihm egal.

Der Goldene Stuhl der Asante

Die Legende des Goldenen Stuhls

Der noch heute lebendige Gründungsmythos der Asante besagt, dass Ende des 17. Jahrhunderts ein Priester namens Okomfo Anokye vom obersten Gott der Asante einen mit Gold bedeckten, hölzernen Stuhl erhielt, der vom Himmel kam und sich auf dem Schoß des damaligen Herrschers niederließ. Laut Okomfo Anokye enthielt dieser Stuhl die Seele des ganzen Aschanti-Volkes. Damit wurde er zum Symbol der nationalen Einheit, war die höchste politische Autorität und Gegenstand der Gottesverehrung. Er ist so heilig, dass er nicht mit dem Boden in Berührung kommen darf und niemals jemand darauf saß. Bei der Inthronisierung wurde der König in eine kostbare Seidentoga gehüllt und von der Königmutter auf dem Rücken in den Krönungssaal getragen. Dann wird er dreimal über dem Stuhl nach unten gelassen, ohne ihn zu berühren.

Ein Händedruck mit Folgen

Sie behaupten, sie wüssten gar nicht, wo der Goldene Stuhl sei. Prempeh sei der einzige, der es wüsste, also müsste der Governor ihn wohl aus dem Exil nach Hause kommen lassen. Darauf lässt Hodgson sich jedoch nicht ein.

Bei einer Versammlung mit den Briten und den Asante-Chiefs in Kumasi ist Yaa Asantewaa die einzige, die sich traut, ihre Wut zu zeigen. Sie soll, wie die anderen, dem Governor die Hand schütteln, bleibt jedoch vor ihm stehen und bewundert spöttisch seine Medaillen und seine Uniform. Danach geht sie weiter zu seiner Ehefrau und gibt dieser die Hand – allerdings hat sie darin gekaute Stückchen Kolanuss und Spucke aufbewahrt. Mrs. Hodgson ekelt sich.

Dummer weißer Mann!

Dann sagt Yaa Asantewaa Governor: Dummer weißer Mann! Wer bist du, dass du dich traust, den Goldenen Stuhl zu verlangen? Der Goldene Stuhl ist Eigentum des Königs der Asante und nichts für Leute wie dich: Gehörst du zur königlichen Familie? Wo ist unser König? Bring ihn her, damit er dir zeigen kann, wo der Goldene Stuhl aufbewahrt wird. Er ist der einzige Hüter des Stuhls und weiß, wo er versteckt ist.

Sie fordert die Chiefs erneut auf, etwas zu unternehmen, doch sie bleiben zögerlich. Dann fordern die Briten, wenn sie schon den Stuhl nicht bekommen, Gold als Entschädigung.

Yaa Asantewaa wendet sich an die Chiefs: Edle Jungen und Männer unseres Vaterlands, sollen wir hier sitzen bleiben und uns ständig von diesen Schurken entmenschlichen lassen? Wir sollten aufstehen und unser Erbe verteidigen. Es ist besser, umzukommen, als wie die Schafe zuzuschauen, wenn der weiße Mann, dessen einziges Ziel in unserem Land es ist, zu stehlen, zu töten und zu zerstören, uns droht, unseren Goldenen Stuhl zu rauben. Steht auf, Männer! Und verteidigt den Goldenen Stuhl, damit er nicht von Fremden gefunden wird. Es ist ehrbarer, umzukommen, während wir den Goldenen Stuhl verteidigen, als in stetiger Sklaverei zu verbleiben. Ich bin bereit, euch gegen den weißen Mann in den Krieg zu führen.

An anderer Stelle heißt es weiter: … und wenn ihr es nicht macht, dann rufe ich die anderen Frauen zusammen. Wir werden die Weißen bekämpfen.

Es ist entweder Yaa Asantewaa selbst, die mit einem Gewehr in die Luft und damit den Briten den Krieg erklärt, oder ihre Schwester/Cousine Nana Afranewaa, Königsmutter von Offinso, deren politische Unterstützung sie braucht, um in den Krieg ziehen zu können.

Eine Schauspielerin als Yaa Asantewaa
Eine Schauspielerin als Yaa Asantewaa

Yaa Asantewaa wird von ihren Chiefs als Kriegsführerin bestätigt.

Die Kriegsvorbereitungen

Es scheint ein stehendes Heer gegeben zu haben, das nun Waffen und Schießpulver von dänischen Händlern weiter südlich kauft. Die Asante stellen selbst Patronen aus Schießpulver und Baumrinde her und sammeln Messer, Macheten, Äxte, Flaschen, Seile usw.

Yaa Asanteaa konsultiert die Gottheit Ateko zur spirituellen Unterstützung.

Sie ernennt Generäle, baut Camps und sucht nach taktischen Verstecken in und um Kumasi. Als oberste Heerführerin kämpft sie nicht selbst, sondern berät sich mit ihren Generälen und kümmert sich um die Strategie. Sie gilt als risikofreudig. Der Daily Mirror of London beschreibt sie als Joan of Arc of Africa.

Der Krieg

Das erste Feuer wird eröffnet, als eine Gruppe Briten erneut bei den Asante eindringt, um den Goldenen Stuhl zu finden. Yaa Asantewaa entscheidet sich für die Belagerung des Forts der Briten und ist monatelang erfolgreich. Viele Soldaten verhungern.

Was die Waffen angeht, sind die Briten ihnen natürlich überlegen, sodass Yaa Asantewaa schlauer sein muss. Sie legen Minen. Sie nutzen Glocken und leere Flaschen als Alarm, sodass sich niemand unbemerkt näher kann. Sie setzen Trommeln ein, um die Briten mürbe zu machen – schon bald werden sie „Todestrommeln“ genannt. Sie binden Seile so an Bäume, dass es sich, wenn man daran zieht, so anhört, als näherten sich Menschen – die Briten schießen sinnlos und vergeuden Munition.

Auch die Asante-Frauen helfen: Sie kümmern sich um Verletzte, bringen ihnen Essen und performen die mmomomme. Das sind Lieder, die die Männer motivieren sollen, bis zum Tod zu kämpfen. Sie rufen ihre Götter und Vorfahren an und verfluchen ihre Feinde. Es gibt auch ein Lieg über Yaa Asantewaa, „eine Frau, die vor den Kanonen kämpft, du hast großartige Dinge erreicht, und du hast dich gut geschlagen“.

Yaa Asantewaa von Stuart Patience
Yaa Asantewaa von Stuart Patience
(schaut euch unbedingt auch mal die anderen Kunstwerke von ihm an!)

Verhandlungen und Kriegsende

Als die Briten schließlich erschöpft zum Verhandeln kommen, verlangen die Asante, dass Prempeh freigelassen wird, dass der Governor seine Forderung nach dem Gold und vor allem dem Goldenen Stuhl zurücknimmt. Hodgson akzeptiert, bricht aber quasi direkt sein Versprechen und brennt mehrere Dörfer um Kumasi nieder. Der Krieg wird wieder aufgenommen, beide Seiten rufen Verstärkung, der Governor muss fliehen.

Yaa Asantewaa entzieht sich der Gefangennahme, indem sie sich nirgendwo lange aufhält. Doch dann werden ihre Tochter und deren Kinder als Geiseln genommen. Sie ergibt sich, und der Widerstand der Asante ist gebrochen. Dennoch heißt es, dass sie diesen Krieg gewonnen haben, weil die Briten den Goldenen Stuhl nicht gefunden haben.

Im Exil

Yaa Asantewaa muss nun ebenfalls ins Exil. Mit 45 anderen Asante landet auch sie schließlich auf den Seychellen.

Prempeh und seine Leute auf den Seychellen

Yaa Asantewaa lässt sich ebenfalls taufen und bekommt den Namen Elizabeth. Doch die Bedingungen im Camp haben sich verschlechtert. Prempeh hat bereits öfter Bittbriefe an die Briten gerichtet, weil viele seiner Mitstreiter alt und krank werden und nicht richtig versorgt. Doch die Briten reagieren erst 1924. Prempeh und die anderen kommen frei. Die Knochen derjenigen, die im Exil gestorben sind, werden 1930 nach Ghana überführt. Dazu gehören auch die von Yaa Asantewaa, die im Oktober 1921 gestorben ist.

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Quellen:
Dwayne Wong (Omowale): Prempeh, Yaa Asantewaa, and the Final Asante War (Selbstverlag, 2015)
Nana Pokua Wiafe Mensah: Nana Yaa Asantewaa, the Queen Mother of Ejisu: The Unsung Heroine of Feminism in Ghana (Masterarbeit, 2010)

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Eine kurze BBC-Doku: Yaa Asantewaa and the Fight for the Golden Stool

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Nach wem ist eigentlich der Luise-Kiesselbach-Platz in München benannt? Und die Luise-Kiesselbach-Straße in Erlangen? Schüchtern und gleichzeitig kämpferisch, Workaholic und Gartenliebhaberin: Luise Kiesselbach war Armenpflegerin, Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, die sich in zahllosen Vereinen engagierte.

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Die Recherche zu dieser Münchner Persönlichkeit erwies sich als schwierig, bis ich die Website von Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp entdeckte, der dankenswerterweise verschiedene Artikel – hauptsächlich Nachrufe – über Luise Kiesselbach zusammengestellt hat. Eine ausführliche Biografie wäre dennoch wünschenswert!

Luise Kiesselbach

Kindheit und Hochzeit

Luise Becker wird in Hanau geboren, der Vater ist Realschuldirektor, sie ist das vierte von acht Kindern. Mutter und Vater haben verschiedene Konfessionen, was durchaus zu Spannungen führt. Mit 15 Jahren muss Luise von der Schule abgehen, um ihre kranke Mutter und ihre behinderte Schwester zu pflegen. Mit 20 heiratet sie ihre große Liebe, den Erlanger Privatdozenten und späteren Professor für Halsnasenohrenkunde Wilhelm Kiesselbach. Er ist 24 Jahre älter, aber „ein selten harmonischer, innerlich reifer Mensch“. Sie bekommen eine Tochter und einen Sohn, die beide später Medizin studieren – die Tochter Gusta als eine der ersten Frauen in Bayern und die allererste in Erlangen. Gustas Tochter Else wird später ebenfalls Ärztin. Luise und Gusta stehen sich sehr nahe. Bald stirbt der geliebte Mann an einer Infektion.

Luise Kiesselbach

Der erste Schritt in die Öffentlichkeit

Um ihre Trauer zu überwinden, unternimmt Luise Kiesselbach eine lange Romreise und kommt dort zu dem Schluss, dass sie mit nun 40 Jahren und zwei erwachsenen Kindern noch einmal etwas für die Gesellschaft und die Frauenrechte tun will. Sie ist jedoch nie radikal, sondern immer vorsichtig, immer bürgerlich, um sich nicht den Ärger der Männer zuzuziehen, die keine Frauen in der Öffentlichkeit sehen möchten.

Luise Kiesselbach kehrt nach Erlangen zurück, nimmt Kontakt mit der Frauenrechtlerin Helene von Forster auf und tritt dem Verein „Frauenwohl“ bei, der Bildungs- und Unterhaltungsabende organisiert und gemeinnützige Einrichtungen wie einen Mädchenhort und eine Rechtsschutzstelle für Mädchen und Frauen gründet.

Als Hilfsarmenpflegerin in Erlangen

1909 wird Luise Kiesselbach zu einer der ersten acht Hilfsarmenpflegerinnen ernannt. In dieser Rolle kümmert sie sich vor allem Familien und Kinder. Armenpfleger:innen besuchten „ihre Armen“ unangekündigt zu Hause, um ihnen „mild und nachsichtig, aber auch streng“ zur Seite zu stehen.

Zwei Jahre später bei einem Frauentag in Würzburg hält Luise Kiesselbach zum ersten Mal eine Rede vor großem Publikum. Leicht fällt ihr das nicht, denn sie ist und bleibt ihr Leben lang schüchtern und muss jedes Mal einen inneren Kampf ausfechten, bevor sie sich auf die Bühne traut.

Luise Kiesselbach

Ika Freudenberg und Umzug nach München

Bald lernt sie Ika Freudenberg kennen, die Vorsitzende des Hauptverbandes Bayerischer Frauenvereine. Ika Freudenberg holt Luise Kiesselbach nach München und baut sie dort als ihre Nachfolgerin auf. Noch im gleichen Jahr muss Luise Kiesselbach diese Aufgaben übernehmen, als Ika Freudenberg mit nur 53 Jahren an Krebs stirbt.

Luise Kiesselbach bleibt in München und lebt von der Pension ihres toten Mannes. Ehrenamtlich arbeitet sie für verschiedenste Vereine, wird für ihre innovativen Organisationsformen gelobt und dafür, dass sie immer weiß, wann es Zeit wird, einen neuen Verband zu gründen oder Petitionen zu schreiben. Sie hält und organisiert Vorträge und schreibt Fachtexte. Sie wird in den Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine sowie den des Reichsverbandes Deutscher Hausfrauenvereine gewählt und gründet den Stadtbund Münchner Frauenvereine. Später ist sie Mitgründerin des heute riesigen Paritätischen Wohlfahrtsverbands Bayern.

Dazu kommen ein Kinderferienheim in Tutzing am Starnberger See für 50 bis 60 Kinder (das Gabrielenheim) und ein Waisenhaus in München für 20 Kinder (das Luisenheim).

Im und nach dem Ersten Weltkrieg

Während des Ersten Weltkriegs versorgt Luise Kiesselbach mit Hilfe ihrer Vereine etwa 3000 Münchner Familien. Auf einem Acker bauen sie Gemüse und Kartoffeln an, gründen ein Erholungsheim für Frauen und eine Nähstube, geben Kurse zur Haushaltsführung speziell bei Lebensmittelknappheit und basteln und verteilen Weihnachtsgeschenke für Kinder.

Während der Räteherrschaft in München ist Luise Kiesselbach kurzzeitig für den Rat der geistigen Arbeiter im Bayrischen Landtag. Nach Einführung des Wahlrechts für Frauen wird sie in den Stadtrat gewählt und bleibt dort zehn Jahre lang. Sie tritt in die DDP ein und kandidiert auch für Land- und Reichstag, wird aber nicht gewählt. Allzu unglücklich ist sie deshalb vermutlich nicht, weil sie lieber handelt statt verhandelt und die praktische Arbeit vor Ort vorzieht. Ihre Aufgaben umfassen die Verwaltung verschiedener Mädchenschulen und -pensionate, sie ist im Erwerbslosenausschluss, in der Schulpflegschaft, im Krankenhausausschuss und vieles mehr. Sie setzt sich für die Fachausbildung für Mädchen und eine Hauswirtschaftsschule für Hausangestellte ein.

Ein Altersheim für Kleinrentner

Da ihr auch die Kleinrentner am Herzen liegen, die durch die Inflation auch noch einen Großteil ihres Vermögens verloren haben, gründet sie ein Altersheim in der Äußeren Wienerstraße – ihr Herzensprojekt mit Einzelzimmern, fließendem Wasser und Fahrstuhl, in dem die Alten einen ungetrübten Lebensabend verbringen können, während zugleich junge Leute eine hauswirtschaftliche Lehre machen. Heute heißt dieses Altersheim Luise-Kiesselbach-Haus.

Wie sah diese unermüdliche Sozialarbeiterin aus? Ihre Mitarbeiterin Dr. Auguste Steiner erinnert sich an

die kräftige, etwas gedrungene Gestalt, das großflächige Gesicht, das blonde, in der Mitte gescheitelte Haar, die hellen Brauen und die blauen Augen; ihr Blick war ruhig und fest. An fast allen ihren Kleidern hat sie ein weißes Krägelchen […] gehabt […]. Ich kann mich eigentlich nur an Kleider erinnern, die lose und bequem waren, in denen sie sich leicht bewegen hat können, nicht an Blusen und Röcke oder auf Taille Gearbeitetes. Ein Problem waren die Hüte: klar, dass man einen haben musste, aber sie wollte den Kopf frei haben; dann wurde der Hut eben in die Hand genommen; so ist mancher irgendwo liegen geblieben. … Ihr Gesichtsausdruck war meistens ernst [aber] … ihr Gesicht hat von innen heraus hell werden können […] und so warm und herzlich, dass man ihr gut sein hat müssen.

Ewig ist die Arbeit

Wie sie all diese Arbeit geschafft hat? Geschlafen hat sie wohl wenig, und ihre Wahlsprüche lauteten „Man muss mehr von sich verlangen als man leisten kann, um wenigstens das zu leisten, was man kann“ und „Ewig ist die Arbeit / Das Werk des Menschen / Es wechseln nur die Hände“. Ihrer Mitarbeiterin riet sie einmal: „Wenn Sie Rat oder Hilfe brauchen, wenden Sie sich an jemanden, der viel zu tun hat, der hat auch für Sie noch Zeit.“

Luise Kiesselbach

Zudem erwähnt Steiner in ihren sehr persönlichen, gut lesbaren Erinnerungen, dass es bei Luise Kiesselbach nie strenge Abteilungen oder Hierarchien gab, sondern alle gern angefasst und das große Ganze im Blick behalten haben. In einem Gedächtnisgedicht von Hed Sailer-Ubromeit heißt es über Luise Kiesselbach:

Nichts war zu klein, daß sie’s bereute,
Nichts war zu groß, daß sie es nicht bezwang,
[…]
Wir aber wollen nicht nur trauern,
Denn reifen soll die große Saat der Zeit,
Der Geist wird auch das Sterben überdauern,
Wenn Ihr ihm, Schwestern, Träger seid!

Luise Kiesselbach
Als Germania. Warum?
Leider keine Ahnung …

Tod und Nachrufe

Luise Kiesselbach starb am 27.1.1929, nachdem sie länger an einer Herzkrankheit gelitten hatte, an einem plötzlichen Herzschlag im Sanatorium Ebenhausen. Ihre Nachrufe sprechen von ihrer mütterlichen, bescheidenen Persönlichkeit, die sich stets für Notleidende und Kinder einsetzte und auch in ihren beschäftigsten Jahren immer Zeit hatte, um einzelne Bittsteller anzuhören und ihre Fälle nachzuverfolgen, bis sie das bekamen, was sie benötigten.

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Quelle (auch für die Fotografien):
Website von Prof. Dr. Herwig-Lempp

Ergänzung im Januar 2024 – – Es gibt eine neue Biografie über Luise Kiesselbach, verfasst von Adelheid Schmidt-Thomé, verlegt vom Franz Schiermeier Verlag: Luise Kiesselbach. Kinder, redet nicht, tut was!

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Die deutsche Frauenrechtlerin, Philosophin, Publizistin, Sexualreformerin und Pazifistin Dr. phil. Helene Stöcker war eine Vertreterin des radikalen Flügels der historischen Frauenbewegung. Eine ebenbürtige Partnerschaft zwischen Männern und Frauen und die sexuelle Gleichberechtigung der Geschlechter standen im Mittelpunkt ihres Denkens. Daraus leitete sie die Notwendigkeit umfassender gesellschaftlicher Veränderungen ab.

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Schon in den allerfrühesten Kinderjahren war ich mir vollkommen klar über meine Lebensziele. Sowie ich erwachsen wäre, so dachte ich, würde ich schriftstellerisch tätig sein wollen und für die Gleichberechtigung der Geschlechter kämpfen, deren verschiedene Bewertung ich schon als Kind sehr deutlich und schmerzlich empfand.

Helene Stöcker, Lebenserinnerungen
Helene Stöcker vor 1903 (Quelle Wikipedia)

Helene Stöcker und die Philosophie der Neuen Ethik

In ihrer Philosophie der ‚Neuen Ethik’, die sie ab etwa 1905 beginnt zu entwickeln, erkennt Stöcker nicht die Ehe, sondern ausschließlich die Liebe als Legitimation für sexuelle Beziehungen an. Selbst in einem streng calvinistischen Haushalt aufgewachsen, plädiert sie außerdem für die Überwindung einer heuchlerischen sexuellen Moral, die die freie Sexualität unterdrückt. Sie bekämpft den Status der Frauen als Sexualobjekt, wie er beispielsweise in Goethes „Faust“ in der Geschichte rund um Gretchen gleichsam wie nebenbei thematisiert wird (die Lektüre des „Faust“ hat sie stark beeinflusst). Aus ihren Forderungen nach einer „Kultur der Liebe“ leitet sie die Notwendigkeit einer  finanziellen Unabhängigkeit der Frauen und nach weiteren gesellschaftlich notwendigen Veränderungen ab.

Helene Stöcker mit Schwestern
Helene Stöcker und ihre Schwestern (Quelle: Frauenmediaturm.de)

Wenn ich heute an diese erste Lektüre des „Faust“ zurückdenke, so glaube ich, dass mich in ihm weit mehr die Gretchentragödie erschüttert hat als das Erkenntnisproblem. Ich kann kaum mehr beschreiben, mit wie ungeheurer Wucht dieser erste Einblick in die Gewalt und Tragik der Geschlechtsbeziehungen auf mich damals gewirkt hat. Ich stand am Beginn des Pubertätsalters und war überdies durch Anlage und Erziehung gewöhnt, am Schicksal anderer Menschen mitfühlend teilzunehmen. Auf ein Kind weiblichen Geschlechtes musste diese frühe Begegnung entscheidend einwirken. Welche Gefahren, welche Schicksale einer Frau drohten, wenn die Liebe in ihr Leben trat – das stand hier in der vollen Krassheit eines vernichtenden Schicksals vor mir. Auch dass der männliche Partner in dieser Verbindung sich als so schwach und gleichgültig erwies, dass er keine Hilfe und Rettung vor den zerstörenden Konsequenzen zu bringen vermochte, war hier schonungslos offenbart

Helene Stöcker, Lebenserinnerungen

Abschaffung des Paragrafen 218

Stöcker kämpft mit ihrem ‚Bund für Mutterschutz und Sexualreform’ für die Abschaffung des § 218, den besseren Schutz lediger Mütter und gegen ihre gesellschaftliche Ächtung; für Sexualaufklärung und das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung über ihren Körper. Ihre Zeitschrift „Mutterschutz“, 1908 in „Neue Generation“ umbenannt, erscheint ab 1905 bis zu ihrer Flucht aus Deutschland im Jahr 1932. 

Mutterschutz Zeitschrift von Helene Stöcker
Quelle: Frauenmediaturm.de

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs engagiert sich Stöcker in pazifistischen Organisationen. So ist sie unter anderem von 1922 bis 1932: Vorstandsmitglied der „Deutschen Liga für Menschenrechte“.

1943 stirbt sie verarmt und einsam im New Yorker Exil. 

Helene Stöcker Mutterschutz Publikation
Quelle: Frauenmediaturm

Zweck des Bundes ist es, die Stellung der Frau als Mutter in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu verbessern, insbesondere unverheiratete Mütter und deren Kinder vor wirtschaftlicher und sittlicher Gefährdung zu bewahren und die herrschenden Vorurteile gegen sie zu beseitigen, sowie überhaupt eine Gesundung der sexuellen Beziehung anzubahnen.

Helene Stöcker über den Bund für Mutterschutz und Sexualreform BfMS

Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, auch denen zu helfen, die durch das Übel der Schwangerschaftsunterbrechung ein noch größeres Übel – nämlich das der Zerstörung von Gesundheit und Lebensglück der schon Lebenden – vermeiden wollen.

Helene Stöcker

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Literatur: 

Helene Stöcker: Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin. Herausgegeben von Reinhold Lütgemeier-Davin und Kerstin Wolff.
L‘HOMME Archiv 5, Böhlau Verlag, Köln 2015. 

Angelika Schaser: Frauenbewegung in Deutschland. 1848 – 1933

Chronologische Biographie von Helene Stöcker mit Jahreszahlen unter Lebendiges Museum Online

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Empfehlungen

Wir sprechen über die Romane von Petra Hucke „Vom Gehen und Bleiben“, S. Fischer Verlage und von Susanne Popp „Der Weg der Teehändlerin“, Fischer Taschenbuch

Wir weisen auf den Podcast frauenvondamals von Bianca Walther hin, die sich fundiert mit der Frauenbewegung in Deutschland beschäftigt, zum Beispiel Folge 8: Von Olympe bis Helene, Streifzug durch 100 Jahre Frauenbewegung oder Folge 18: Helene Lange (Begründerin der Gymnasialkurse für Mädchen).

Wir erwähnen die frauenleben-podcast-Folge über Iris von Rothen und die Folge über Bertha Pappenheim. Für den Mutterschutz und den Schutz unehelicher Kinder setzte sich im Nachkriegsdeutschland auch die erste Ministerin Deutschlands ein: Elisabeth Schwarzhaupt

Eine zeitgenössische heute noch lesenswerte Autorin ist Gabriele Reuter, zum Beispiel der damals sehr erfolgreiche Roman „Aus guter Familie“, der auch von Helene Stöcker in ihrer Autobiographie erwähnt wird. (Gibt es hier gratis als E-Book)

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Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

Frauenleben-Podcast 

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