Heute begrüßt der Frauenleben-Podcast wieder eine Gästin, nämlich die Autorin Rebekka Eder. Rebekka schreibt historische Romane und hat unter anderem eine dreiteilige Reihe über die Familie Stollwerck in Köln verfasst: „Die Schokoladenfabrik“.

Rebekka Eder Die Schokoladenfabrik

Während ihrer Recherchen hat Rebekka sich viel mit dem Frauenbild im 19. Jahrhundert auseinandergesetzt – und das ist auch das Thema der heutigen Folge. Wir reden über Frauen damals und heute und versuchen herauszufinden, wie es dazu kommen konnte, dass man den Frauen jegliche Befähigung zum Intellekt und zur höheren Bildung abgesprochen hat. Außerdem sprechen wir über das Gleichgewicht von Fakten und Fiktion im historischen Roman, über die Erwartungen der Leser:innen und wie wir diese erfüllen. 

Für uns war es eine sehr spannende und unterhaltsame Dreiviertelstunde. Danke Rebekka für den Besuch und euch viel Spaß mit dieser Folge!

Die Schokoladenfabrik / Die Stollwerck-Saga:
Teil 1: Die Tochter des Apothekers
Teil 2: Das Geheimnis der Erfinderin
Teil 3: Der Traum der Poetin

Außerdem: Der Duft von Zimt

Rebekka ist zu finden bei Instagram: https://www.instagram.com/rebekka.mit.k/

Bei TikTok: https://www.tiktok.com/@rebekka.mit.k

Und auf ihrer Website: www.rebekkaknoll.de

Und hier geht’s noch zum Podcast Platonisch nackt: https://platonischnackt.de

Artwork und Musik: Uwe Sittig 

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Beitragsbild von Mario Wezel

Die schottische Astronomin und Mathematikerin Mary Somerville war in den europäischen Wissenschaftskreisen des 19. Jahrhunderts eine Berühmtheit. Ihre Publikationen erlangten ebenso wie ihre Person Kultstatus.

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Obwohl Mary Somerville als Kind so gut wie keine formale Schulbildung erhielt, ging sie als eine der letzten Universalgelehrten in die Geschichtsbücher ein. Aber auch mit ihrer liberalen politischen Einstellung, ihrer Ablehnung der Lehre der Kirche, ihrem Einsatz für die Bildung und für das Wahlrecht von Frauen machte sie von sich reden. Außerdem war sie die Mentorin und Lehrerin der berühmten Mathematikerin Ada Lovelace.

Mary Somerville und ihre Handschrift

Nach Mary Somerville wurden Straßen, Plätze, Häuser, eine High School in Australien, eine Insel und ein Schiff benannt. Außerdem tragen ein Mondkrater und ein Asteroid und seit dem 1. April 2022 ein Satellit ihren Namen. Seit 2016 ist sie auf der schottischen 10-Pfund-Note zu sehen.

Google Doodle von 2020 zu Mary Somerville

Nachtrag:
Im Podcast rätseln wir kurz darüber, was Ada Lovelace damals übersetzt hat. Im Beitrag zur Podcast-Episode steht die Antwort: „Sie übersetzt einen wissenschaftlichen Artikel zur Maschine aus dem Französischen ins Englische und fügt einen Anhang bei, dessen Umfang den ursprünglichen Aufsatz um das Dreifache übersteigt. Darin hält sie unter anderem Handlungsanweisungen für die Maschine zur Berechnung von Bernouillizahlen fest und schreibt somit das erste Programm.“

Gegen Ende dieser Folge weisen wir auf eine Publikation von Mary Somerville hin, die als wissenschaftliches Lehrwerk bis ins 20. Jahrhundert hinein genutzt wurde, und dabei fällt auch das Wort „Rasse“, da dieser Begriff in dem Werk vorkommt. Die Erwähnung fand eine unserer Hörerinnen unpassend, darum weisen wir noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass dies natürlich ausschließlich dem historischen Zusammenhang geschuldet ist. Wir wissen, dass menschliche Rassen nicht existieren.

Den vollständigen Artikel über Ada Lovelace und die Podcast-Episode findet ihr hier.

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Quellen:

Margaret Alic, Hypatias Töchter, „Mary Somerville, die Königin der Naturwissenschaft“

Public lecture with Professor Jim Secord, Department of History and Philosophy of Science, Cambridge, The Royal Society

Die Isländerin war Frauenrechtlerin, Lehrerin, Schulrektorin und die erste Frau im Parlament Alþing. Ingibjörg H. Bjarnason gründete eine Stiftung für den Bau des Nationalkrankenhauses und setzte sich für Mädchenbildung ein.

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Ingibjörg H. Bjarnason wurde am 4.12.1867 in Þingeyri geboren. Dieser Ort liegt in den abgeschiedenen Westfjorden, hatte jedoch damals einiges an Bedeutung, weil er der älteste Handelsplatz der Region war und im späten 18. Jahrhundert amerikanische Fischer dort ihren Stützpunkt hatten.

Ihr Vater Hákon Bjarnason war Kaufmann und Reeder. Als das Mädchen zehn Jahre alt war, kam er bei einem Schiffsunglück ums Leben. Mutter Jóhanna Kristín Þorleifsdóttir blieb allein mit fünf Kindern zurück. Neben Ingibjörg waren das vier Söhne, die später Psychologe, Politiker, Einzelhandelsunternehmer und Linguist/Lehrer wurden.

Umzug nach Reykjavík

Die Mutter führte Reederei und Laden eine Weile weiter, ging dann jedoch in die Hauptstadt Reykjavík. Ingibjörg wurde nach ihrer Konfirmation auf die Reykjavíker Kvennaskólinn („Frauenschule“) geschickt, die es erst seit 1874 gab und als Privatschule geführt wurde. Dort lernte sie vor allem Hauswirtschaft und machte 1882 ihren Abschluss.

Ingibjörg H. Bjarnason zwischen 1890 und 1905, Porträtbild
Ingibjörg H. Bjarnason zwischen 1890 und 1905, Porträtbild

In den folgenden zwei Jahren nahm sie Privatunterricht bei Þóra Pétursdóttir, einer bildenden Künstlerin (einer der ersten isländischen Frauen, die Kunst studierten), die ein Buch über isländische Volkslieder herausgab und journalistische Artikel u. a. im von Bríet Bjarnheðinsdóttir herausgegebenen Kvennablaðið („Frauenzeitschrift“) veröffentlichte. Als Tochter des Bischofs und eines der reichsten Männer des Landes war sie allen gut bekannt.

1884 ging Ingibjörg H. Bjarnason zur weiteren Ausbildung nach Dänemark – für junge Männer damals ganz normal, für Frauen weniger. Sie ließ sich am Poul Petersen Institut zur Gymnastiklehrerin nach Pehr Henrik Ling ausbilden. Ihre Mutter kam ebenfalls nach Kopenhagen und führte dort ein Heim für Schülerinnen/Studentinnen, die wie Ingibjörg ohne ihre Eltern zum Lernen den Heimatort oder sogar das Land verlassen mussten.

Tätigkeit als Lehrerin und Schuldirektorin

Zwischen 1893 und 1903 unterrichtete sie Gymnastik in Reykjavík und reiste nach Deutschland und in die Schweiz, um dort mehr über Schulverwaltung zu lernen.

Ingibjörg H. Bjarnason
Ingibjörg H. Bjarnason

Ab 1903 war sie dann Lehrerin an „ihrer“ Kvennaskólinn und unterrichtete Turnen, Zeichnen, Handarbeiten, später auch Dänisch und Gesundheitswissenschaften. 1906 wurde sie zur Direktorin der Schule ernannt und blieb dies bis zu ihrem Tod im Jahr 1941. Sie wurde von Kolleg:innen für ihre Ausdauer und harte Arbeit gelobt, und die Schülerinnen bewunderten sie ebenfalls. Sie setzte sich stark für ihre Schule ein, reiste wiederholt ins Ausland, um sich weiterzubilden, forderte mehr öffentliche Gelder und fand ein größeres Gebäude samt Wohnheim. Nach und nach führte sie die Fächer Säuglingspflege, Erste Hilfe und häusliche Pflege ein.

Andere Aktivitäten

1911 war Ingibjörg H. Bjarnason Mitgründerin des Lestrarfélag kvenna („Frauenlesevereins“), und auch bei der Gründung des isländischen Handarbeitsvereins war sie dabei.

Politische Karriere

Bereits nach ihrer Rückkehr nach Island wurde sie in der Frauenbewegung aktiv. Ab 1908 durften verheiratete Frauen bei Lokalwahlen wählen und Teil des Stadtrats werden. Am 19. Juni 1915 wurde dann das landesweite Frauenwahlrecht eingeführt. Der 19. Juni ist heute der Frauentag.

Es gab eine große Kundgebung, eine Botschaft an den dänischen König wurde verlesen, eine Parade durchs Stadtzentrum organisiert. Fünf Frauen zogen ins Parlamentsgebäude ein und hielten Reden, auch Ingibjörg H. Bjarnason.

Exkurs: das isländische Parlament

Das isländische Parlament heißt Alþing (oder Althing) und existiert bereits seit der Landnahme im Jahr 930, als sich Menschen aus Norwegen in Island niederließen. Jedes Jahr zur Sommersonnenwende trafen sich die Familien und Clans im Südwesten des Landes in Þingvellir (oder Thingvellir), wo vom Lögberg („Gesetzesberg“) aus rechtliche Entscheidungen verkündigt wurden. Die Zusammenkunft war gleichzeitig auch Volksfest und Heiratsmarkt.

Þingvellir, wo das älteste europäische Parlament tagte
Þingvellir, wo das älteste europäische Parlament tagte

1262 wurde Island doch wieder der norwegischen Krone unterworfen. Ende des 14. Jahrhunderts kam es unter dänische Herrschaft. 1800 wurde das Alþing aufgelöst, 1844 in moderner Form wiederhergestellt. 1918 wurden die Strukturen weiter modernisiert, als Island zu einem unabhängigen Königreich in Personalunion mit Dänemark wurde.

Das war die Zeit von Ingibjörg H. Bjarnason. Die Ausrufung der Republik Island im Jahr 1944 hat sie nicht mehr erlebt.

Bau eines neuen Krankenhauses

Nach Erlangung des Wahlrechts war es eines der größten Anliegen der Frauen und Frauenvereine, den Bau eines neuen Krankenhauses voranzutreiben. Sie gründeten eine Stiftung, die heute noch aktiv ist und deren Vorsitzende damals Ingibjörg H. Bjarnason wurde. 1925 konnte dank ihrer engagierten Geldsammelaktionen mit dem Bau des Landspítali begonnen werden. Der Grundstein wurde von Königin Alexandrine gelegt. Auf ihm steht: „Dieses Haus wurde mit dem Geld gebaut, das isländische Frauen gesammelt haben …, um zu pflegen und zu heilen.“

Als erste Frau im Parlament

1922 trat Ingibjörg H. Bjarnason für eine parteiunabhängige Frauenliste (Kvennalistinn eldri) an, die bei der Wahl auf erfolgreiche 22,4 % kam. Ingibjörg H. Bjarnason zog am 15. Februar 1923 als erste Frau ins Parlament ein.

Sie sagte:

Ich sehe mich selbst als jemanden, die hierherkam, um die Interessen meiner Leute zu schützen, so gut wie ich es kann … Aber natürlich erwarte ich auch, dass es zu Situationen kommen kann, in denen ich besonders die Rechte der Frauen schützen muss.

Und:

Natürlich stehen die ersten Frauen, die Pionierinnen, vor diversen Herausforderungen, nur weil sie Frauen sind … Wenn die Zahl der Frauen im isländischen Parlament zunimmt, verschwindet, dass sie speziell angegriffen werden, weil sie Frauen sind.

Ihre Reden sind heute noch im Wortlaut im Internet abrufbar. Interessanterweise wollte sie damals durchsetzen, dass die Reden der Parlamentarier:innen nicht mehr veröffentlicht werden; sie wollte die Druckkosten sparen. Dabei wären ihre eigenen Reden gar nicht so teuer gewesen, denn sie bestand immer darauf, sich kurzzufassen.

Typisch Frau? „Typisch Frau“ wurde sie jedenfalls auch belächelt, wenn sie ihre Emotionen zeigte, während sie jedoch darauf bestand, sie würde logisch argumentieren und würde keine Lästereien dulden.

Platz am Tisch

Die ersten Frauenrechtlerinnen, so wird im Rückblick analysiert, dachten wohl, dass mit dem Wahlrecht alles gewonnen sei. Sie beklagten sich, dass die Männer sie jedoch nicht „reinlassen“ würden, obwohl Frauen doch aufgefordert werden wollten, wichtige Aufgaben zu übernehmen. Erst später verstanden sie, dass sie selbst weiter um einen Platz am Tisch kämpfen müssen.

Ingibjörg H. Bjarnason wurde später Mitglied der konservativen Íhaldsflokkurinn und später der Sjálfstæðisflokkurinn (Unabhängigkeitspartei), wofür sie von anderen Frauen kritisiert wurde. Das seien doch beides typische Männerparteien. Doch sie schien sich dort wohlzufühlen.

Konservative Partei Íhaldsflokkurinn, 1924, mit Ingibjörg, nicht schwer zu erkennen
Konservative Partei Íhaldsflokkurinn, 1924, mit Ingibjörg, nicht schwer zu erkennen

Diskussion um Kindererziehung

Es wurde diskutiert, ob Jungen und Mädchen getrennt zur Schule gehen sollten oder nicht. Die konservative Ingibjörg H. Bjarnason war der Meinung, Mädchen sollten getrennt unterrichtet werden, da nur sie wirklich wüssten, wie Haushalt und Familie funktionieren. Trotzdem sollten die Mädchen mehr als das lernen und die gleichen Rechte haben wie Jungen bzw. Männer.

Ihr Gegner dabei war der sozialdemokratische Jónas frá Hriflu – eine sehr interessante, nicht unumstrittene Politikerpersönlichkeit, für die ich auf Wikipedia verweisen möchte.

Ingibjörg H. Bjarnason setzte sich weiterhin gegen Armut (und die typischen Reykjavíker Kellerwohnungen) ein sowie für Frauenrechte, Bildung und Kunst. 1925 bis 1927 war sie zweite Vizepräsidentin des Oberhauses, 1928 bis 1932 Mitglied des Kultusministeriums. Sie starb im Jahr 1941.

Porträt von Ingibjörg H. Bjarnason, das heute im isländischen Parlament hängt
Porträt, das heute im isländischen Parlament hängt

Ehrung

Seit 2015, zum 100-jährigen Jubiläum des Frauenwahlrechts, steht vor dem Parlamentsgebäude eine Statue von Ingibjörg H. Bjarnason, geschaffen von der Bildhauerin Ragnhildur Stefánsdóttir.

Statue von Ingibjörg H. Bjarnason vor dem isländischen Parlament von Ragnhildur Stefánsdóttir
Statue von Ingibjörg H. Bjarnason vor dem isländischen Parlament von Ragnhildur Stefánsdóttir

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Quellen:
Hver var Ingibjörg H. Bjarnason…?
Kvennasólastjóri, fyrst kvenna alþingismaður: Ingibjörg H. Bjarnason
Málsvari íslenskra kvenna

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Die Leipzigerin Bertha Wehnert-Beckmann (1815–1901) war die erste Berufsfotografin Europas. Experimentierfreudig, geschäftstüchtig und kreativ widmete sie sich ab den 1840er Jahren zunächst der Daguerreotypie, als diese noch in den Kinderschuhen steckte, und dann der Kalotypie, ein Vorläufer der späteren Papierabzüge. Tausende Originalaufnahmen sind von ihr in privaten Sammlungen und öffentlichen Institutionen erhalten geblieben.   

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Bertha Wehnert-Beckmann stammt aus einer kinderreichen Familie, ihr Vater ist Damenschneidermeister in Cottbus, zwei ihrer Brüder arbeiten später auch als Fotografen. Sie erlernt zunächst das Handwerk der Galanteriearbeiterin, fertigt für einen Juwelier in Dresden Bilder und Miniaturen aus Haaren und Wachs – ab dem Biedermeier sehr beliebt für die Erinnerungskultur.

1842/43 reist sie nach Prag, wo sie bei dem berühmten Fotografen Wilhelm Horn die 1839 erstmals vorgestellte Technik der Daguerreotypie zu beherrschen lernt. Sie wird Wanderfotografin, so wie viele ihrer männlichen Kollegen der damaligen Zeit auch, sie fotografiert unter anderem in Gera, Ronneburg, Altenburg und immer wieder auch in ihrer Heimatstadt Cottbus. 

Katalog zur Ausstellung über die Fotografin Bertha Wehnert-Beckmann

Begleitbuch zur Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig,
25. Januar – 26. April 2015

Fotografisches Atelier in New York am Broadway

1845 heiratet sie den Fotografen Eduard Wehnert aus Leipzig, den sie während ihrer Reisen kennengelernt hat. Als dieser ein Jahr nach der Heirat stirbt, übernimmt sie allein das Atelier in Leipzig, das sie zuvor gemeinsam geführt haben. Von 1849 bis 1851 betreibt sie ein Atelier am Broadway in New York, wo sie sich auf die Kalotypie spezialisiert, wodurch sie sich von den zahlreichen Wettbewerbern abhebt. Sie wirbt damit, dass sich die Fotografien „ohne Anwesenheit der Person“ vervielfältigen lassen, was bei den Daguerreotypien (= nuancen- und detailreiche Fotografie auf einer versilberten Kupferplatte) nämlich nicht möglich war. Spätestens ab diesem Zeitpunkt arbeitet sie nachweislich parallel mit beiden technischen Verfahren. Im Oktober 1850 bekommt sie für ihre Leistungen eine Ehrenurkunde und eine Silbermedaille des „American Institute“ verliehen.

Das eigene Atelier in Leipzig

Ab 1851 ist sie wieder in Leipzig tätig. 1864 wird sie in dem von Louise Otto-Peters verfassten Roman „Neue Bahnen“ zur literarischen Figur, zumindest ist davon auszugehen, dass die Autorin aus Leipzig Bertha Wehnert-Beckmann vor Augen hatte, als sie ihre Protagonistin Frau Reichmann wie folgt beschreibt: 

„Frau Reichmann’s Photographien hatten einen ziemlichen Ruf, sie war damit in der Damenwelt der höheren Kreise Mode geworden und auch die Künstlerinnen vertrauten sich am liebsten ihr an. Man wußte, daß sie nicht nur die besten Apparate hatte, sondern daß sie auch gewissenhaft darauf sah, daß selbst nicht der kleinste Toilettenfehler vorkam und daß sie für jede Person die vorteilhafteste Stellung zu finden, die Faltenwürfe auf das Malerischste zu ordnen wusste.“

Louise Otto-Peters, Neue Bahnen, Leipzig 1864, Seite 68

Haus an der Elsterstraße in Leipzig

1853 kauft sie ein Grundstück an der Elsterstraße in Leipzig, die Planung ist sehr langwierig, so dass erst 1865 mit dem Bau begonnen werden kann. Nach Fertigstellung zieht sie mit dem Atelier um in den prachtvollen Neo-Rokoko-Palais – der heute noch steht. (Heutige Adresse: Elsterstraße 38). Sie hat mehrere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, darunter Emilie Louise Blau, die über sie unter anderem Folgendes sagt: „Frau Wehnert war eine begabte geistvolle Frau von fast männlicher Energie. … Ihre Kunst bestand darin, die Aufzunehmenden bei der doch ziemlich langen Belichtungszeit durch Unterhaltung so zu fesseln, dass die Gesichtszüge lebendig blieben.“ (zitiert nach: Die Fotografin, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Seite 21/22).

Das Haus wird 1881 an einen Kommerzienrat verkauft, von dem Erlös sichert sie sich ihren Lebensabend. Bertha-Wehnert-Beckmann starb am 5. Dezember 1901 im Alter von 86 Jahren. 

Daguerreotypien von Bertha Wehnert-Beckmann (von Museum digital:deutschland)

Porträt zweier Frauen von Bertha Wehnert-Beckmann (1850-1859) Herkunft/Rechte Stadtgeschichtl. Museum Leipzig Haus Böttchergäßchen
Porträt eines Paares von Bertha Wehnert-Beckmann (1850-1859) Herkunft/Rechte Stadtgeschichte. Museum Leipzig Haus Böttchergäßchen
Porträt eines Paares von Bertha Wehnert-Beckmann (1850-1859) Herkunft/Rechte Stadtgeschichtl. Museum Leipzig Haus Böttchergäßchen
Gruppenporträt von Bertha Wehnert-Beckmann (1850-1859) Herkunft/Rechte Stadtgeschichtl. Museum Leipzig Haus Böttchergäßchen

Quellen:

Die Fotografin. Bertha Wehnert-Beckmann 1815-1901. Begleitbuch zur Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig 25. Januar – 26. April 2015

Jochen Voigt: A German Lady. Bertha Wehnert-Beckmann, Leben & Werk einer Fotografiepionierin, 2014 Edition Mobilis Chemnitz

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Patriotische Heldin und „Indianerprinzessin“? Der Mythos Sacagawea hat einen überraschend feministischen Ursprung. Sicher ist eigentlich nur: Sie war die einzige Frau und die einzige Native American, die an der Lewis-und-Clark-Expedition teilnahm und zwischen 1804 und 1806 den nordamerikanischen Kontinent querte. Immer dabei: ihr Säugling und ihr unnützer Ehemann Charbonneau.

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Quellen:
Stephen E. Ambrose: Undaunted Courage. Meriwether Lewis, Thomas Jefferson, and the Opening of the American West, Simon and Schuster 1996.
Eva Emery Dye: The Conquest – The True Story of Lewis and Clark. Grosset & Dunlap 1914.
Ella E. Clark und Margot Edmonds: Sacagawea of the Lewis and Clark Expedition, University of California Press 1979.
Donna J. Kessler: The Making of Sacagawea. A Euro-American Legend, The University of Alabama Press 1996.

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Nana Yaa Asantewaa war eine ghanaische Königsmutter und Politikerin. Sie führte die Aschanti-Rebellion gegen die britischen Invasoren an, um den Goldenen Stuhl zu verteidigen.

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Das Aschanti- oder Asante-Reich bestand von 1680 bis 1896 – über 200 Jahre lang waren die Asante (die wiederum Teil des Akan-Volkes sind) eine regionale Großmacht, deren Gebiet sich über das heutige Ghana hinaus erstreckte. Die Asante waren eines von wenigen Völkern, die Widerstand gegen die europäischen Invasoren leistete und nicht zu einem Protektorat werden wollten. Prägend waren dabei vier Kriege, die von 1826 bis 1896 dauerten. 1900 unterlagen sie den Briten jedoch endgültig.

Zwillingsgeburten in Ejisu

Zur Zeit der Geburt von Yaa Asantewaa (um 1840) gab es in der Region Ejisu, aus der sie stammt, mehrere Todgeburten von Zwillingen, und eine Frau aus der königlichen Familie bekommt Zwillinge, von denen ein Kind ein „formloser Körper“ ist. Das Orakel sagt, dieser „einzigartige“ Körper sei von den Göttern geschickt und ebenfalls eine Gottheit namens Ateko, die die Asante anbeten sollen.

In den kommenden Jahren sind die Asante im Krieg besonders erfolgreich, und es gelingt ihnen, ihr Land zu vergrößern – das war Atekos Verdienst.

Yaa Asantewaas Leben in Ejisu

Yaa Asantewaas Eltern, Kwabena Ampoma und Madam Attah Poh, gehören zur königlichen Familie und leben (vermutlich) im Ort Besease. Sie wird 1832 oder 1840 geboren und erhält eine umfassende Erziehung in ihrer Kultur erzogen, um später Königsmutter von Ejisu zu werden. Sie gilt als religiös bzw. spirituell und nimmt, sobald sie ihre erste Menstruation bekommt, an einem Ritual statt, das zeigt, dass sie nun erwachsen ist. Sie heiratet einen Mann von außerhalb und bekommt ein Kind: eine Tochter, die sie Serwaa Brakatuo nennen. Ihr Mann hat, wie es bei den Asante üblich ist, mehrere Frauen und mit denen weitere Kinder, um die sich Yaa Asantewaa genauso gut kümmert wie um ihre eigene Tochter.

Vermutlich ein echtes Foto von Yaa Asantewaa
Vermutlich ein echtes Foto von Yaa Asantewaa

Yaa Asantewaa ist Bäuerin und liebt ihre Arbeit. Angeblich vergeudet sie nicht gern Zeit mit nachbarschaftlichem Geplauder – dafür ist immer zu viel zu tun. Sie möchte, dass Frauen selbstständiger werden und sagt: Männer sind keine Kissen, gegen die die Frauen sich lehnen sollten. Sie selbst ist von ihrem Mann finanziell unabhängig.

König Prempeh I. geht ins Exil

Am Ende der langen Kriegsjahre entscheidet sich König Prempeh I. 1896, nicht mehr gegen die Briten zu kämpfen, sondern ins Exil zu gehen, um sein Volk vor weiteren Angriffen zu schützen. Sein Weg endet 1900 auf den Seychellen, wo es ihm und anderen Mitexilant:innen erst einmal relativ gut geht. Sie erbauen ein Camp, Wasser und Strom wird gelegt, es gibt eine Gesundheitsversorgung, sogar einen Fußballplatz. Prempeh lernt Englisch und Französisch und konvertiert zum Christentum, auch wenn er mehrere Ehefrauen hat, und die Beerdigungen im Camp den Asante-Traditionen entsprechen stattfinden.

Königsmutter und König in einer Person

Yaa Asantewaas Tochter Serwaa Brakatuo bekommt elf Kinder. Als einer ihrer Söhne König von Ejisu wird, wird Yaa Asantewaa die Königsmutter. Wie Prempeh wird ihr Enkel jedoch von den Briten ins Exil gezwungen, sodass Yaa Asantewaa vier Jahre lang auch die Rolle des Königs übernimmt.

Politisch ist sie auf Ausgleich und Frieden bedacht und geht Konflikten eher aus dem Weg. Rache ist nicht richtig, sondern Vergebung. Sie will, dass die Frauen ihre traditionellen Rollen erfüllen, sorgt aber auch dafür, dass Männer ihre Frauen und Kinder nicht misshandeln. Auch hier betont sie, dass Frauen sich nicht von Männern finanziell abhängig machen sollen, da sie sonst nur allzu leicht dazu gezwungen werden können, ihren Körper zu verkaufen.

Die Asante waren (und sind) eine patriarchalische Gesellschaft, verfolgen aber ein matrilineares System, was den Familienstammbaum angeht, d. h. man „gehört“ immer zur mütterlichen Familie.

Der Governor benimmt sich daneben

Einige der Asante-Chiefs versuchen immer wieder, sich mit den Briten zu einigen. Doch die Briten sind nicht ehrlich, halten ihre Versprechen nicht ein und nehmen sogar einige der Chiefs gefangen, um sie in die Sklaverei zu verkaufen.

Sir Frederick Hodgson wird Governor der Goldküste und sucht nach dem Goldenen Stuhl, dem wichtigsten religiösen Machtsymbol der Asante, um sich selbst daraufzusetzen und seine Macht zu demonstrieren. Wie sehr er die Asante damit brüskiert, ist ihm egal.

Der Goldene Stuhl der Asante

Die Legende des Goldenen Stuhls

Der noch heute lebendige Gründungsmythos der Asante besagt, dass Ende des 17. Jahrhunderts ein Priester namens Okomfo Anokye vom obersten Gott der Asante einen mit Gold bedeckten, hölzernen Stuhl erhielt, der vom Himmel kam und sich auf dem Schoß des damaligen Herrschers niederließ. Laut Okomfo Anokye enthielt dieser Stuhl die Seele des ganzen Aschanti-Volkes. Damit wurde er zum Symbol der nationalen Einheit, war die höchste politische Autorität und Gegenstand der Gottesverehrung. Er ist so heilig, dass er nicht mit dem Boden in Berührung kommen darf und niemals jemand darauf saß. Bei der Inthronisierung wurde der König in eine kostbare Seidentoga gehüllt und von der Königmutter auf dem Rücken in den Krönungssaal getragen. Dann wird er dreimal über dem Stuhl nach unten gelassen, ohne ihn zu berühren.

Ein Händedruck mit Folgen

Sie behaupten, sie wüssten gar nicht, wo der Goldene Stuhl sei. Prempeh sei der einzige, der es wüsste, also müsste der Governor ihn wohl aus dem Exil nach Hause kommen lassen. Darauf lässt Hodgson sich jedoch nicht ein.

Bei einer Versammlung mit den Briten und den Asante-Chiefs in Kumasi ist Yaa Asantewaa die einzige, die sich traut, ihre Wut zu zeigen. Sie soll, wie die anderen, dem Governor die Hand schütteln, bleibt jedoch vor ihm stehen und bewundert spöttisch seine Medaillen und seine Uniform. Danach geht sie weiter zu seiner Ehefrau und gibt dieser die Hand – allerdings hat sie darin gekaute Stückchen Kolanuss und Spucke aufbewahrt. Mrs. Hodgson ekelt sich.

Dummer weißer Mann!

Dann sagt Yaa Asantewaa Governor: Dummer weißer Mann! Wer bist du, dass du dich traust, den Goldenen Stuhl zu verlangen? Der Goldene Stuhl ist Eigentum des Königs der Asante und nichts für Leute wie dich: Gehörst du zur königlichen Familie? Wo ist unser König? Bring ihn her, damit er dir zeigen kann, wo der Goldene Stuhl aufbewahrt wird. Er ist der einzige Hüter des Stuhls und weiß, wo er versteckt ist.

Sie fordert die Chiefs erneut auf, etwas zu unternehmen, doch sie bleiben zögerlich. Dann fordern die Briten, wenn sie schon den Stuhl nicht bekommen, Gold als Entschädigung.

Yaa Asantewaa wendet sich an die Chiefs: Edle Jungen und Männer unseres Vaterlands, sollen wir hier sitzen bleiben und uns ständig von diesen Schurken entmenschlichen lassen? Wir sollten aufstehen und unser Erbe verteidigen. Es ist besser, umzukommen, als wie die Schafe zuzuschauen, wenn der weiße Mann, dessen einziges Ziel in unserem Land es ist, zu stehlen, zu töten und zu zerstören, uns droht, unseren Goldenen Stuhl zu rauben. Steht auf, Männer! Und verteidigt den Goldenen Stuhl, damit er nicht von Fremden gefunden wird. Es ist ehrbarer, umzukommen, während wir den Goldenen Stuhl verteidigen, als in stetiger Sklaverei zu verbleiben. Ich bin bereit, euch gegen den weißen Mann in den Krieg zu führen.

An anderer Stelle heißt es weiter: … und wenn ihr es nicht macht, dann rufe ich die anderen Frauen zusammen. Wir werden die Weißen bekämpfen.

Es ist entweder Yaa Asantewaa selbst, die mit einem Gewehr in die Luft und damit den Briten den Krieg erklärt, oder ihre Schwester/Cousine Nana Afranewaa, Königsmutter von Offinso, deren politische Unterstützung sie braucht, um in den Krieg ziehen zu können.

Eine Schauspielerin als Yaa Asantewaa
Eine Schauspielerin als Yaa Asantewaa

Yaa Asantewaa wird von ihren Chiefs als Kriegsführerin bestätigt.

Die Kriegsvorbereitungen

Es scheint ein stehendes Heer gegeben zu haben, das nun Waffen und Schießpulver von dänischen Händlern weiter südlich kauft. Die Asante stellen selbst Patronen aus Schießpulver und Baumrinde her und sammeln Messer, Macheten, Äxte, Flaschen, Seile usw.

Yaa Asanteaa konsultiert die Gottheit Ateko zur spirituellen Unterstützung.

Sie ernennt Generäle, baut Camps und sucht nach taktischen Verstecken in und um Kumasi. Als oberste Heerführerin kämpft sie nicht selbst, sondern berät sich mit ihren Generälen und kümmert sich um die Strategie. Sie gilt als risikofreudig. Der Daily Mirror of London beschreibt sie als Joan of Arc of Africa.

Der Krieg

Das erste Feuer wird eröffnet, als eine Gruppe Briten erneut bei den Asante eindringt, um den Goldenen Stuhl zu finden. Yaa Asantewaa entscheidet sich für die Belagerung des Forts der Briten und ist monatelang erfolgreich. Viele Soldaten verhungern.

Was die Waffen angeht, sind die Briten ihnen natürlich überlegen, sodass Yaa Asantewaa schlauer sein muss. Sie legen Minen. Sie nutzen Glocken und leere Flaschen als Alarm, sodass sich niemand unbemerkt näher kann. Sie setzen Trommeln ein, um die Briten mürbe zu machen – schon bald werden sie „Todestrommeln“ genannt. Sie binden Seile so an Bäume, dass es sich, wenn man daran zieht, so anhört, als näherten sich Menschen – die Briten schießen sinnlos und vergeuden Munition.

Auch die Asante-Frauen helfen: Sie kümmern sich um Verletzte, bringen ihnen Essen und performen die mmomomme. Das sind Lieder, die die Männer motivieren sollen, bis zum Tod zu kämpfen. Sie rufen ihre Götter und Vorfahren an und verfluchen ihre Feinde. Es gibt auch ein Lieg über Yaa Asantewaa, „eine Frau, die vor den Kanonen kämpft, du hast großartige Dinge erreicht, und du hast dich gut geschlagen“.

Yaa Asantewaa von Stuart Patience
Yaa Asantewaa von Stuart Patience
(schaut euch unbedingt auch mal die anderen Kunstwerke von ihm an!)

Verhandlungen und Kriegsende

Als die Briten schließlich erschöpft zum Verhandeln kommen, verlangen die Asante, dass Prempeh freigelassen wird, dass der Governor seine Forderung nach dem Gold und vor allem dem Goldenen Stuhl zurücknimmt. Hodgson akzeptiert, bricht aber quasi direkt sein Versprechen und brennt mehrere Dörfer um Kumasi nieder. Der Krieg wird wieder aufgenommen, beide Seiten rufen Verstärkung, der Governor muss fliehen.

Yaa Asantewaa entzieht sich der Gefangennahme, indem sie sich nirgendwo lange aufhält. Doch dann werden ihre Tochter und deren Kinder als Geiseln genommen. Sie ergibt sich, und der Widerstand der Asante ist gebrochen. Dennoch heißt es, dass sie diesen Krieg gewonnen haben, weil die Briten den Goldenen Stuhl nicht gefunden haben.

Im Exil

Yaa Asantewaa muss nun ebenfalls ins Exil. Mit 45 anderen Asante landet auch sie schließlich auf den Seychellen.

Prempeh und seine Leute auf den Seychellen

Yaa Asantewaa lässt sich ebenfalls taufen und bekommt den Namen Elizabeth. Doch die Bedingungen im Camp haben sich verschlechtert. Prempeh hat bereits öfter Bittbriefe an die Briten gerichtet, weil viele seiner Mitstreiter alt und krank werden und nicht richtig versorgt. Doch die Briten reagieren erst 1924. Prempeh und die anderen kommen frei. Die Knochen derjenigen, die im Exil gestorben sind, werden 1930 nach Ghana überführt. Dazu gehören auch die von Yaa Asantewaa, die im Oktober 1921 gestorben ist.

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Quellen:
Dwayne Wong (Omowale): Prempeh, Yaa Asantewaa, and the Final Asante War (Selbstverlag, 2015)
Nana Pokua Wiafe Mensah: Nana Yaa Asantewaa, the Queen Mother of Ejisu: The Unsung Heroine of Feminism in Ghana (Masterarbeit, 2010)

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Eine kurze BBC-Doku: Yaa Asantewaa and the Fight for the Golden Stool

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Nach wem ist eigentlich der Luise-Kiesselbach-Platz in München benannt? Und die Luise-Kiesselbach-Straße in Erlangen? Schüchtern und gleichzeitig kämpferisch, Workaholic und Gartenliebhaberin: Luise Kiesselbach war Armenpflegerin, Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, die sich in zahllosen Vereinen engagierte.

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Die Recherche zu dieser Münchner Persönlichkeit erwies sich als schwierig, bis ich die Website von Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp entdeckte, der dankenswerterweise verschiedene Artikel – hauptsächlich Nachrufe – über Luise Kiesselbach zusammengestellt hat. Eine ausführliche Biografie wäre dennoch wünschenswert!

Luise Kiesselbach

Kindheit und Hochzeit

Luise Becker wird in Hanau geboren, der Vater ist Realschuldirektor, sie ist das vierte von acht Kindern. Mutter und Vater haben verschiedene Konfessionen, was durchaus zu Spannungen führt. Mit 15 Jahren muss Luise von der Schule abgehen, um ihre kranke Mutter und ihre behinderte Schwester zu pflegen. Mit 20 heiratet sie ihre große Liebe, den Erlanger Privatdozenten und späteren Professor für Halsnasenohrenkunde Wilhelm Kiesselbach. Er ist 24 Jahre älter, aber „ein selten harmonischer, innerlich reifer Mensch“. Sie bekommen eine Tochter und einen Sohn, die beide später Medizin studieren – die Tochter Gusta als eine der ersten Frauen in Bayern und die allererste in Erlangen. Gustas Tochter Else wird später ebenfalls Ärztin. Luise und Gusta stehen sich sehr nahe. Bald stirbt der geliebte Mann an einer Infektion.

Luise Kiesselbach

Der erste Schritt in die Öffentlichkeit

Um ihre Trauer zu überwinden, unternimmt Luise Kiesselbach eine lange Romreise und kommt dort zu dem Schluss, dass sie mit nun 40 Jahren und zwei erwachsenen Kindern noch einmal etwas für die Gesellschaft und die Frauenrechte tun will. Sie ist jedoch nie radikal, sondern immer vorsichtig, immer bürgerlich, um sich nicht den Ärger der Männer zuzuziehen, die keine Frauen in der Öffentlichkeit sehen möchten.

Luise Kiesselbach kehrt nach Erlangen zurück, nimmt Kontakt mit der Frauenrechtlerin Helene von Forster auf und tritt dem Verein „Frauenwohl“ bei, der Bildungs- und Unterhaltungsabende organisiert und gemeinnützige Einrichtungen wie einen Mädchenhort und eine Rechtsschutzstelle für Mädchen und Frauen gründet.

Als Hilfsarmenpflegerin in Erlangen

1909 wird Luise Kiesselbach zu einer der ersten acht Hilfsarmenpflegerinnen ernannt. In dieser Rolle kümmert sie sich vor allem Familien und Kinder. Armenpfleger:innen besuchten „ihre Armen“ unangekündigt zu Hause, um ihnen „mild und nachsichtig, aber auch streng“ zur Seite zu stehen.

Zwei Jahre später bei einem Frauentag in Würzburg hält Luise Kiesselbach zum ersten Mal eine Rede vor großem Publikum. Leicht fällt ihr das nicht, denn sie ist und bleibt ihr Leben lang schüchtern und muss jedes Mal einen inneren Kampf ausfechten, bevor sie sich auf die Bühne traut.

Luise Kiesselbach

Ika Freudenberg und Umzug nach München

Bald lernt sie Ika Freudenberg kennen, die Vorsitzende des Hauptverbandes Bayerischer Frauenvereine. Ika Freudenberg holt Luise Kiesselbach nach München und baut sie dort als ihre Nachfolgerin auf. Noch im gleichen Jahr muss Luise Kiesselbach diese Aufgaben übernehmen, als Ika Freudenberg mit nur 53 Jahren an Krebs stirbt.

Luise Kiesselbach bleibt in München und lebt von der Pension ihres toten Mannes. Ehrenamtlich arbeitet sie für verschiedenste Vereine, wird für ihre innovativen Organisationsformen gelobt und dafür, dass sie immer weiß, wann es Zeit wird, einen neuen Verband zu gründen oder Petitionen zu schreiben. Sie hält und organisiert Vorträge und schreibt Fachtexte. Sie wird in den Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine sowie den des Reichsverbandes Deutscher Hausfrauenvereine gewählt und gründet den Stadtbund Münchner Frauenvereine. Später ist sie Mitgründerin des heute riesigen Paritätischen Wohlfahrtsverbands Bayern.

Dazu kommen ein Kinderferienheim in Tutzing am Starnberger See für 50 bis 60 Kinder (das Gabrielenheim) und ein Waisenhaus in München für 20 Kinder (das Luisenheim).

Im und nach dem Ersten Weltkrieg

Während des Ersten Weltkriegs versorgt Luise Kiesselbach mit Hilfe ihrer Vereine etwa 3000 Münchner Familien. Auf einem Acker bauen sie Gemüse und Kartoffeln an, gründen ein Erholungsheim für Frauen und eine Nähstube, geben Kurse zur Haushaltsführung speziell bei Lebensmittelknappheit und basteln und verteilen Weihnachtsgeschenke für Kinder.

Während der Räteherrschaft in München ist Luise Kiesselbach kurzzeitig für den Rat der geistigen Arbeiter im Bayrischen Landtag. Nach Einführung des Wahlrechts für Frauen wird sie in den Stadtrat gewählt und bleibt dort zehn Jahre lang. Sie tritt in die DDP ein und kandidiert auch für Land- und Reichstag, wird aber nicht gewählt. Allzu unglücklich ist sie deshalb vermutlich nicht, weil sie lieber handelt statt verhandelt und die praktische Arbeit vor Ort vorzieht. Ihre Aufgaben umfassen die Verwaltung verschiedener Mädchenschulen und -pensionate, sie ist im Erwerbslosenausschluss, in der Schulpflegschaft, im Krankenhausausschuss und vieles mehr. Sie setzt sich für die Fachausbildung für Mädchen und eine Hauswirtschaftsschule für Hausangestellte ein.

Ein Altersheim für Kleinrentner

Da ihr auch die Kleinrentner am Herzen liegen, die durch die Inflation auch noch einen Großteil ihres Vermögens verloren haben, gründet sie ein Altersheim in der Äußeren Wienerstraße – ihr Herzensprojekt mit Einzelzimmern, fließendem Wasser und Fahrstuhl, in dem die Alten einen ungetrübten Lebensabend verbringen können, während zugleich junge Leute eine hauswirtschaftliche Lehre machen. Heute heißt dieses Altersheim Luise-Kiesselbach-Haus.

Wie sah diese unermüdliche Sozialarbeiterin aus? Ihre Mitarbeiterin Dr. Auguste Steiner erinnert sich an

die kräftige, etwas gedrungene Gestalt, das großflächige Gesicht, das blonde, in der Mitte gescheitelte Haar, die hellen Brauen und die blauen Augen; ihr Blick war ruhig und fest. An fast allen ihren Kleidern hat sie ein weißes Krägelchen […] gehabt […]. Ich kann mich eigentlich nur an Kleider erinnern, die lose und bequem waren, in denen sie sich leicht bewegen hat können, nicht an Blusen und Röcke oder auf Taille Gearbeitetes. Ein Problem waren die Hüte: klar, dass man einen haben musste, aber sie wollte den Kopf frei haben; dann wurde der Hut eben in die Hand genommen; so ist mancher irgendwo liegen geblieben. … Ihr Gesichtsausdruck war meistens ernst [aber] … ihr Gesicht hat von innen heraus hell werden können […] und so warm und herzlich, dass man ihr gut sein hat müssen.

Ewig ist die Arbeit

Wie sie all diese Arbeit geschafft hat? Geschlafen hat sie wohl wenig, und ihre Wahlsprüche lauteten „Man muss mehr von sich verlangen als man leisten kann, um wenigstens das zu leisten, was man kann“ und „Ewig ist die Arbeit / Das Werk des Menschen / Es wechseln nur die Hände“. Ihrer Mitarbeiterin riet sie einmal: „Wenn Sie Rat oder Hilfe brauchen, wenden Sie sich an jemanden, der viel zu tun hat, der hat auch für Sie noch Zeit.“

Luise Kiesselbach

Zudem erwähnt Steiner in ihren sehr persönlichen, gut lesbaren Erinnerungen, dass es bei Luise Kiesselbach nie strenge Abteilungen oder Hierarchien gab, sondern alle gern angefasst und das große Ganze im Blick behalten haben. In einem Gedächtnisgedicht von Hed Sailer-Ubromeit heißt es über Luise Kiesselbach:

Nichts war zu klein, daß sie’s bereute,
Nichts war zu groß, daß sie es nicht bezwang,
[…]
Wir aber wollen nicht nur trauern,
Denn reifen soll die große Saat der Zeit,
Der Geist wird auch das Sterben überdauern,
Wenn Ihr ihm, Schwestern, Träger seid!

Luise Kiesselbach
Als Germania. Warum?
Leider keine Ahnung …

Tod und Nachrufe

Luise Kiesselbach starb am 27.1.1929, nachdem sie länger an einer Herzkrankheit gelitten hatte, an einem plötzlichen Herzschlag im Sanatorium Ebenhausen. Ihre Nachrufe sprechen von ihrer mütterlichen, bescheidenen Persönlichkeit, die sich stets für Notleidende und Kinder einsetzte und auch in ihren beschäftigsten Jahren immer Zeit hatte, um einzelne Bittsteller anzuhören und ihre Fälle nachzuverfolgen, bis sie das bekamen, was sie benötigten.

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Quelle (auch für die Fotografien):
Website von Prof. Dr. Herwig-Lempp

Ergänzung im Januar 2024 – – Es gibt eine neue Biografie über Luise Kiesselbach, verfasst von Adelheid Schmidt-Thomé, verlegt vom Franz Schiermeier Verlag: Luise Kiesselbach. Kinder, redet nicht, tut was!

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Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

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Die deutsche Frauenrechtlerin, Philosophin, Publizistin, Sexualreformerin und Pazifistin Dr. phil. Helene Stöcker war eine Vertreterin des radikalen Flügels der historischen Frauenbewegung. Eine ebenbürtige Partnerschaft zwischen Männern und Frauen und die sexuelle Gleichberechtigung der Geschlechter standen im Mittelpunkt ihres Denkens. Daraus leitete sie die Notwendigkeit umfassender gesellschaftlicher Veränderungen ab.

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Schon in den allerfrühesten Kinderjahren war ich mir vollkommen klar über meine Lebensziele. Sowie ich erwachsen wäre, so dachte ich, würde ich schriftstellerisch tätig sein wollen und für die Gleichberechtigung der Geschlechter kämpfen, deren verschiedene Bewertung ich schon als Kind sehr deutlich und schmerzlich empfand.

Helene Stöcker, Lebenserinnerungen
Helene Stöcker vor 1903 (Quelle Wikipedia)

Helene Stöcker und die Philosophie der Neuen Ethik

In ihrer Philosophie der ‚Neuen Ethik’, die sie ab etwa 1905 beginnt zu entwickeln, erkennt Stöcker nicht die Ehe, sondern ausschließlich die Liebe als Legitimation für sexuelle Beziehungen an. Selbst in einem streng calvinistischen Haushalt aufgewachsen, plädiert sie außerdem für die Überwindung einer heuchlerischen sexuellen Moral, die die freie Sexualität unterdrückt. Sie bekämpft den Status der Frauen als Sexualobjekt, wie er beispielsweise in Goethes „Faust“ in der Geschichte rund um Gretchen gleichsam wie nebenbei thematisiert wird (die Lektüre des „Faust“ hat sie stark beeinflusst). Aus ihren Forderungen nach einer „Kultur der Liebe“ leitet sie die Notwendigkeit einer  finanziellen Unabhängigkeit der Frauen und nach weiteren gesellschaftlich notwendigen Veränderungen ab.

Helene Stöcker mit Schwestern
Helene Stöcker und ihre Schwestern (Quelle: Frauenmediaturm.de)

Wenn ich heute an diese erste Lektüre des „Faust“ zurückdenke, so glaube ich, dass mich in ihm weit mehr die Gretchentragödie erschüttert hat als das Erkenntnisproblem. Ich kann kaum mehr beschreiben, mit wie ungeheurer Wucht dieser erste Einblick in die Gewalt und Tragik der Geschlechtsbeziehungen auf mich damals gewirkt hat. Ich stand am Beginn des Pubertätsalters und war überdies durch Anlage und Erziehung gewöhnt, am Schicksal anderer Menschen mitfühlend teilzunehmen. Auf ein Kind weiblichen Geschlechtes musste diese frühe Begegnung entscheidend einwirken. Welche Gefahren, welche Schicksale einer Frau drohten, wenn die Liebe in ihr Leben trat – das stand hier in der vollen Krassheit eines vernichtenden Schicksals vor mir. Auch dass der männliche Partner in dieser Verbindung sich als so schwach und gleichgültig erwies, dass er keine Hilfe und Rettung vor den zerstörenden Konsequenzen zu bringen vermochte, war hier schonungslos offenbart

Helene Stöcker, Lebenserinnerungen

Abschaffung des Paragrafen 218

Stöcker kämpft mit ihrem ‚Bund für Mutterschutz und Sexualreform’ für die Abschaffung des § 218, den besseren Schutz lediger Mütter und gegen ihre gesellschaftliche Ächtung; für Sexualaufklärung und das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung über ihren Körper. Ihre Zeitschrift „Mutterschutz“, 1908 in „Neue Generation“ umbenannt, erscheint ab 1905 bis zu ihrer Flucht aus Deutschland im Jahr 1932. 

Mutterschutz Zeitschrift von Helene Stöcker
Quelle: Frauenmediaturm.de

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs engagiert sich Stöcker in pazifistischen Organisationen. So ist sie unter anderem von 1922 bis 1932: Vorstandsmitglied der „Deutschen Liga für Menschenrechte“.

1943 stirbt sie verarmt und einsam im New Yorker Exil. 

Helene Stöcker Mutterschutz Publikation
Quelle: Frauenmediaturm

Zweck des Bundes ist es, die Stellung der Frau als Mutter in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu verbessern, insbesondere unverheiratete Mütter und deren Kinder vor wirtschaftlicher und sittlicher Gefährdung zu bewahren und die herrschenden Vorurteile gegen sie zu beseitigen, sowie überhaupt eine Gesundung der sexuellen Beziehung anzubahnen.

Helene Stöcker über den Bund für Mutterschutz und Sexualreform BfMS

Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, auch denen zu helfen, die durch das Übel der Schwangerschaftsunterbrechung ein noch größeres Übel – nämlich das der Zerstörung von Gesundheit und Lebensglück der schon Lebenden – vermeiden wollen.

Helene Stöcker

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Literatur: 

Helene Stöcker: Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin. Herausgegeben von Reinhold Lütgemeier-Davin und Kerstin Wolff.
L‘HOMME Archiv 5, Böhlau Verlag, Köln 2015. 

Angelika Schaser: Frauenbewegung in Deutschland. 1848 – 1933

Chronologische Biographie von Helene Stöcker mit Jahreszahlen unter Lebendiges Museum Online

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Empfehlungen

Wir sprechen über die Romane von Petra Hucke „Vom Gehen und Bleiben“, S. Fischer Verlage und von Susanne Popp „Der Weg der Teehändlerin“, Fischer Taschenbuch

Wir weisen auf den Podcast frauenvondamals von Bianca Walther hin, die sich fundiert mit der Frauenbewegung in Deutschland beschäftigt, zum Beispiel Folge 8: Von Olympe bis Helene, Streifzug durch 100 Jahre Frauenbewegung oder Folge 18: Helene Lange (Begründerin der Gymnasialkurse für Mädchen).

Wir erwähnen die frauenleben-podcast-Folge über Iris von Rothen und die Folge über Bertha Pappenheim. Für den Mutterschutz und den Schutz unehelicher Kinder setzte sich im Nachkriegsdeutschland auch die erste Ministerin Deutschlands ein: Elisabeth Schwarzhaupt

Eine zeitgenössische heute noch lesenswerte Autorin ist Gabriele Reuter, zum Beispiel der damals sehr erfolgreiche Roman „Aus guter Familie“, der auch von Helene Stöcker in ihrer Autobiographie erwähnt wird. (Gibt es hier gratis als E-Book)

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Die japanische Geschäftsfrau Tatsuuma Kiyo (1809–1900) baute über Jahrzehnte hinweg die Sake-Brauerei ihrer Familie zu einem Unternehmensimperium aus, und das in einer Zeit, in der Frauen zu Brauereien keinen Zutritt hatten. Ihre Geschichte gibt einen Einblick in die Strukturen von Familienunternehmen im Japan des 19. Jahrhunderts und in die Rolle, die Frauen dabei spielten. Die Sake-Marke Hakushika, die sich aus dem Unternehmen entwickelt hat, ist bis heute eine der großen Sake-Brauereien Japans.

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Ein Gastbeitrag von Antonia Popp

Tatsuuma Kiyo wird 1809 in der kleinen Gemeinde Nishinomiya in der Region Nada bei Osaka geboren. Sie ist das einzige Kind einer Kaufmannsfamilie, die seit 1662 eine mittelgroße Sakebrauerei betreibt. Frauen durften in Japan zu dieser Zeit offiziell kein Eigentum besitzen und konnten somit auch nicht Familienoberhaupt werden. Gängige Praxis in Kaufmannsfamilien war es daher, einen jungen Mann auszuwählen und umfassend auszubilden, um ihn dann zu adoptieren und mit der eigenen Tochter zu verheiraten. Die adoptierten Schwiegersöhne hießen mukoyoshi und wurden unter strategischen Gesichtspunkten ausgewählt. Oft kamen sie aus Unternehmen der gleichen Branche. Dies diente der Stärkung von Geschäftsbeziehungen und gab der talentierten Tochter die Möglichkeit, als Frau des Familienoberhaupts weiter Einfluss auf das Unternehmen auszuüben. Auch der Name des Auserkorenen wurde geändert, und so wird Tatsuuma Kiyo im Jahr 1830 die Ehefrau von Tatsuuma Kichizaemon X, Nachfolger von Kiyos Vater, Tatsuuma Kichizaemon IX.

Tatsuuma Kiyo, Porträt
Das einzige bekannte Bild von Tatsu’uma Kiyo.
Quelle: Joyce Chapman Lebra, Women in All-Male Industrie

Die Häuser der japanischen Familienklans

Nach der traditionellen, von den herrschenden Samurai beeinflussten, Familienstruktur bildet jede Familie ein Haupthaus, ein sogenanntes honke. Der Vater vererbt die Führung des  honke an seinen ältesten Sohn. Jüngere Söhne treten mit ihrer Heirat aus einem Haus aus und gründen ein Nebenhaus, ein bunke. Frauen verlassen das Haus ihrer eigenen Familie mit ihrer Heirat. Sie werden Teil des Hauses ihres Ehemanns – außer natürlich, dieser wurde gleichzeitig in die Familie adoptiert.

Das Hauptunternehmen einer Kaufmannsfamilie wird stets im honke vererbt. Die bunke sind hingegen oft Firmen, zu denen eine Geschäftsbeziehung gepflegt wird. Sie können bei einer Krise als Absicherung dienen. Oft expandieren sie auch unternehmerisch sowie geographisch in andere Branchen oder Gegenden und bauen so den Einfluss der Hauptfamilie aus. Auch das strategische Verheiraten von Töchtern oder das Verschicken der eigenen Söhne in andere Unternehmen dient den Bildung wichtiger Allianzen. Gute Heiratsverhandlungen erfordern somit diplomatisches Geschick und unternehmerische Weitsicht.

Tatsuuma Kiyo – das Unternehmen Hakushika, das sie mitgeprägt hat,   gibt es seit 1662
Das Unternehmen Hakushika existiert seit 1662.
Quelle: hakushika.co.jp

Familie und Firma bilden eine untrennbare Einheit 

Tatsuuma Kiyo bekommt 6 bis 12 leibliche Kinder (die genaue Anzahl ist nicht bekannt), die sie in strategische Ehen mit Mitgliedern anderer Familienunternehmen vermittelt. Kiyos Ehemann wird 1842 offizielles Familienoberhaupt, wobei man davon ausgehen kann, dass Kiyo schon zu diesem Zeitpunkt einen substanziellen Einfluss auf ihre eigene Familie ausübt. 1855 stirbt ihr Ehemann und Kiyo leitet die Firma nun auch offiziell für eine gewisse Übergangszeit (5 Jahre waren erlaubt), bis ihr Sohn übernimmt. Nach dessen frühem Tod wird das Unternehmen schließlich an die von Kiyo ausgewählte und ausgebildete Schwiegertochter übergeben, für die sie entgegen der gesetzlichen Vorgaben eine längere Übergangszeit von sieben Jahren verhandelt.

Sake als Opfergabe – Illustration für Podcast über Tatsuuma Kiyo
Sake-Opfergaben in Japan – Foto: Susanne Popp

Sake – das traditionelle alkoholische Reisgetränk

Die Sakeproduktion stellt für Frauen im 19. Jahrhundert ein besonders kompliziertes industrielles Umfeld dar, weil ihnen der Zutritt zu den Brauereien selbst verboten ist. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen, deren Wurzeln im Buddhismus oder Shintoismus zu suchen sind. So werden Frauen generell als unreine Wesen betrachtet, welche die Qualität des Sake gefährden könnten. Außerdem gilt der Geist des Sake als weiblich. Man fürchtet, dass die Präsenz von Frauen ihn eifersüchtig macht, wodurch das Getränk sauer und ungenießbar werden würde.

Tatsuuma Kiyo ist darum auf eine loyale Vertrauensperson angewiesen, die sie im täglichen Geschäft unterstützt. 1843 nimmt sie einen Küchenjunge unter ihre Fittiche, benennt ihn um in Tatsuenosuke (eine Anspielung auf den Familiennamen Tatsuuma) und macht ihn nach umfassender Ausbildung zu ihrer rechten Hand. Mit der Zeit wird er der oberste Buchhalter und Büroleiter des Familienunternehmens. Er vertritt Kiyo in den Brauereiräumen, welche sie nicht betreten darf, sowie bei offiziellen Geschäftstreffen, zu denen sie nicht zugelassen ist. Später trifft er auch eigene Geschäftsentscheidungen und gibt sein Wissen an die Kinder der Familie weiter. Er bleibt Tatsuuma Kiyo und dem Unternehmen bis zu seiner Berentung treu.

Hakushika-Sake Tatsuuma Kiyo
Quelle: hakushika.co.jp

Tatsuuma Kiyo: Weitsichtige Entscheidungen

Der Sake-Handel ist beständigen Unsicherheiten unterworfen, etwa dem stark schwankende Reispreis oder Missernten. Aber auch Bakterienbefall, der den Sake ungenießbar werden lässt, häufige Brände sowie Schiffsunglücke verkomplizieren das Geschäft. Eines der größten Verdienste Kiyos ist es somit, ihr Unternehmen durch intelligente Entscheidungen krisensicher zu machen. Sie beginnt, Sake von anderen Brauereien einzukaufen und unter eigenem Namen zu vertreiben. Auch gibt sie eigenen Sake ab, wenn andere Unternehmen bereit sind, mehr dafür zu bezahlen. Außerdem erweitert sie das Familienimperium in andere verwandte Branchen, beispielsweise den Vertrieb von Quellwasser für die Sakeproduktion.

Eigene Flotte und eine Bank

Sie schließt durch Heirat besiegelte Allianzen mit den Familien anderer Brauereien, die eigene Schiffe für den Saketransport besitzen. Schließlich schafft sie eine eigene Flotte an, um die Logistik des Unternehmens unabhängiger zu machen. Mit einer hauseigenen Währungstauschbörse und Kreditvergabe steigt sie sogar ins Bankgeschäft ein. Für den Fall, dass Schuldner ihre Schulden nicht mehr begleichen können, lässt sie sich in Ländereien bezahlen. Die Immobilien stellen eine zusätzliche Absicherung für die Familie dar. Als nach der Meiji-Revolution andere Gegenden Japans wirtschaftlichen Aufschwung erfahren, baut Kiyo die Schiffsrouten aus, um ebenfalls von dieser Entwicklung zu profitieren.

Tatsuuma Kiyo – das Unternehmen Hakushika, Sake-Brauerei seit 1662

Bis kurz vor ihrem Tod im Jahr 1900 behält Kiyo ihren großen Einfluss auf die Geschicke ihres Familienunternehmens. Sie vermittelt auch Ehen für ihre Enkelkinder und trifft die wichtigsten Personal- und Geschäftsentscheidungen, obwohl auf dem Papier eigentlich andere die Familie vertreten. Unter ihrer Führung verdreifacht sich die Produktionsmenge der Brauerei und ist bei ihrem Tod die größte Sakebrauerei Japans.

1900 stirbt Tatsu’uma Kiyo im Alter von 91 Jahren. Kiyos Geschichte wird 1991 von Dr. Joyce Lebra recherchiert und in einem Artikel veröffentlicht. 

Quellen:

Lebra, Joyce Chapman (1991). Women in an All-Male Industry: The Case of Sake Brewer Tatsu’uma Kiyo. In Recreating Japanese Women, 1600-1945 (pp. 131-148). University of California Press.

History of Hakushika-Sake: https://www.hakushika.co.jp/en/brand/history.html

Artwork und Musik: Uwe Sittig 

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New Journalism, New Woman – Nellie Bly lebt zu einer Zeit in New York, in der so einiges neu erfunden wird. Und sie ist mittendrin. Ihr erster großer Coup: Sie lässt sich als Investigativ-Reporterin in eine Psychiatrie einweisen. Ihr zweiter, noch größerer Coup: Sie will es schaffen, in weniger als 80 Tagen um die Welt zu reisen. Angelehnt an den beliebten Roman von Jules Verne, selbstverständlich. Und Nellie Bly wäre nicht Nellie Bly, wenn es ihr nicht auch gelänge.

Später übernimmt sie dann noch das Unternehmen ihres verstorbenen Mannes, lässt mehrere Patente anmelden und versorgt ihre Arbeiter à la Google mit Pausenraum und gutem Essen, Tischtennisplatte und Pianoforte.

Als der Erste Weltkrieg ausbricht, ist sie gerade auf dem Weg nach Europa und entscheidet sich, aus dem Kriegsgebiet zwischen Österreich und Serbien wieder als Journalistin zu berichten. Es kommt, wie es kommen muss: Sie wird als Spionin festgenommen …

Bly ist wieder einmal eine dieser Frauen, die mehrere Leben gleichzeitig gelebt zu haben scheint. Ausführlich erzählen wir davon in dieser neuen Folge.

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Quellen:
Brooke Kroeger: Nellie Bly. Daredevil, Reporter, Feminist. Times Books, New York 1994.
Karen Roggenkamp: Sympathy, Madness, and Crime. How Four Nineteenth-Century Journalists Made the Newspaper Women’s Business. The Kent State University Press, Kent, Ohio 2016.

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Artwork und Musik: Uwe Sittig

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