Bettine von Arnim war eine Schriftstellerin der Romantik und eine schillernde Persönlichkeit, die sich nicht den Konventionen ihrer Zeit fügte. Als Witwe begann sie zu schreiben. Sie setzte sich für arme und benachteiligte Menschen ein, wollte den preußischen König belehren und die Welt verbessern, eckte dadurch jedoch auch innerhalb der eigenen Familie an.

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Catharina Ludovica Elisabetha Magdalena Brentano, wie sie mit vollem Mädchennamen hieß, wird am 4. April 1785 in Frankfurt geboren. Den Namen Bettine gibt sie sich selbst, so signiert sie ihre Briefe. Sie ist das dreizehnte Kind ihres Vaters Peter Anton Brentano (1735 – 1797), der aus einer alten italienischen Kaufmannsfamilie stammte, die ursprünglich aus Tremezzo am Comer See nach Frankfurt eingewandert war. Nach dem Tod seiner ersten Ehefrau ging Peter Anton – oder auch Pietro Antonio – mit 38 Jahren eine zweite Ehe ein. Er heiratete die 18jährige Maximiliane (1756 – 1793), Tochter von Sophie von La Roche (1730 bis 1807) und Georg Michael Frank von La Roche (1720 bis 1788).

Bettine von Arnim, Porträt mit Büchern von Ludwig Emil Grimm
Um 1809. Zeichnung von Ludwig Emil Grimm.
Quelle: Wikipedia

Die Mutter Maximiliane, der man heutzutage womöglich eine Depression bescheinigen würde, stirbt, als Bettine acht Jahre alt war. Vier Jahre später stirbt der Vater, zu dem Bettine trotz seiner häufigen Abwesenheiten ein enges Verhältnis gehabt haben soll. Neuer Vormund wird ihr Halbbruder Franz Brentano.

In der großen Familie mit der unübersichtlichen Geschwisterschar – zwanzig Kinder von drei Ehefrauen hatte der Vater insgesamt – fehlt es oft an Bezugspersonen für die junge Bettine, was ihr hohes Maß an Resilienz umso bemerkenswerter macht. Später blickt sie in ihrem literarischen Werk mit einer gewissen inszenierten Leichtigkeit auf ihre Kinder- und Jugendjahre zurück. Doch die Ehebriefe an Achim von Arnim oder die Briefe an ihre Söhne verraten – mehr als ihr literarisches Werk es könnte – etwas über die wahre Bettine, offenbaren auch Verunsicherung, Frustration und Zweifel.

Erziehung in der Kindheit – die Schwebereligion

Schon vor dem Tod der Mutter wird Bettine mit zwei ihrer Schwestern in ein Kloster der Ursulinen nach Fritzlar geschickt, wo sie insgesamt vier Jahre bleibt. Bemerkenswert sind Bettines Ansichten zur Religion. Im Kloster in Fritzlar gefallen ihr vor allem der Garten und die Natur. Die Gottesdienste verschläft sie hingegen, mit dem Katholizismus kann sie nicht viel anfangen, insbesondere nicht mit der Vorstellung, dass die Menschen Sünder seien. Bettine kennt zwar die Bibel, entwickelt jedoch ihren eigenen Glauben, da sie mit der Drohbotschaft des Christentums nichts anfangen kann. Sie bezeichnet Jesus als „Seelenschmetterling“ und die Kirchgänger als „ängstliches Raupengeschlecht.“ Bettines Religion ist der zu sich selbst kommende Mensch.

„Ich soll doch mein eigen werden, denn sonst wäre ich umsonst.“ Vertrauen auf Gott bedeutet für sie Selbstvertrauen, fromm sein heißt, die eigene Schönheit zu lieben. „Sei mit dir selbst wie mit einer Geliebten. Wer sich nicht liebt, ist sich verloren.“ Sie spielt sogar mit dem Gedanken, eine eigene Religion gründen, die sie die „Schwebereligion“ nennt. Bettines Credo: „Jeder soll neugierig sein auf sich selber und soll sich selbst zutage fördern wie aus der Tiefe ein Stück Erz oder einen Quell.“

„Mir deucht, mit den fünf Sinnen, die Gott uns gegeben hat, könnten wir alles erreichen.“

Bettine von Arnim

Bei der Großmutter Sophie von La Roche

Mit elf Jahren kommt Bettine – wiederum mit zwei Schwestern – zu ihrer als Schriftstellerin berühmten und sehr erfolgreichen Großmutter Sophie von La Roche. Sowohl im Kloster als auch bei der Großmutter wird ihr die typische eher mangelhafte und unsystematische Mädchenbildung der damaligen Zeit in Musik, Zeichnen und Malen zuteil. Bettine besitzt jedoch einen unerschütterlichen Glauben an die Selbstbildungsfähigkeiten des Menschen und noch dazu relativ große Freiheiten, sich lesend zu bilden. Bettine erweist sich als sehr begabte Schülerin, stilisiert sich jedoch im Nachhinein als bildungsunwillig. Sie mag keine Geschichte, denn männliche Heldentaten sind ihr zuwider, und sie mag keine Philosophie, durch die sie sich eingeengt fühlt. Dafür philosophiert sie selbst, ist beständig auf der Suche nach Wahrheit.

Sophie von La Roche, ihre Tochter Maximiliane und deren Gatte Peter Anton Brentano auf einem Familienbild, etwa 1773/1774 (Wikipedia)

Die Großmutter Sophie von La Roche, geborene Gutermann, hatte 1770 den überaus erfolgreichen Briefroman Das Fräulein von Sternheim veröffentlicht, den ersten deutschsprachigen Roman, der von einer Frau verfasst wurde. Sie unterhielt in ein Ehrenbreitstein einen literarischen Salon und galt als „Erzieherin der weiblichen Jugend zu Sitte und Anstand“. Sie fördert zwar die Bildung von Mädchen, ist jedoch gleichzeitig der Meinung, dass zu viel Bildung die Chancen auf dem Heiratsmarkt einschränkte.

Mit 12 Jahren lernt Bettine ihren sieben Jahre älteren Bruder Clemens Brentano (1778 – 1842) kennen. Ab 1801 beginnt der regelmäßige Briefwechsel zwischen den beiden, der ihr neue Impulse gibt.

Auf dem Heiratsmarkt

Als Bettine siebzehn ist, zieht sie zu ihrem Halbbruder Franz nach Frankfurt, um bei seiner Frau Antonie die Tugenden einer Hausfrau zu erlernen. Mit dem Umzug nach Frankfurt ist das schöne freie Leben für Bettine erst einmal vorbei. Sie ist unglücklich, denn sie würde gerne reisen, was ihr aber nicht gestattet wird. Auf die Entfaltung ihrer Begabung besteht keine Aussicht, nur die Ehe gilt für eine Frau als erstrebenswert.

1803 gibt es einen ersten reichen Heiratskandidaten, den Bettine entsetzt ablehnt, obwohl er sehr reich ist. Sie findet, „er ist ein Esel“. Ihr Bruder Clemens schlägt ihr seinen Freund Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861) vor, doch der „fürchtet sich vor ihr“. 1804 heiratet Savigny die Schwester Gunda. Clemens stellt ihr Achim von Arnim vor (1781 – 1831). Die beiden freunden sich an und schreiben sich, haben jedoch zunächst ein rein freundschaftliches Interesse aneinander.

Bettine von Arnim Porträt
Bettine von Arnim. Quelle: Wikipedia

In den folgenden Jahren lebt Bettine in Marburg bei Savignys, dann in Kassel bei der Schwester Lulu, die einen Bankier geheiratet hat, dann wieder bei den Savignys in Landshut. Sie hilft im Haushalt und mit den Kindern. Bettine ist jetzt 23 Jahre alt. Obwohl sie gemeinsam mit den Schwestern endlich reisen kann und viele Bekanntschaften macht, gefällt es ihr nicht, auf ihre Verwandten angewiesen zu sein. Sie bezeichnet sich selbst als traurig und unruhig, empfindet Isolation und Einsamkeit, fühlt eine gewisse Fremdheit zwischen sich und der Familie.

Bettine von Arnim und Clemens Brentano

Clemens Brentano ist, genau wie seine Halbschwester Bettine, innerhalb der großen verzweigten Familie Brentano ein Außenseiter. Kaufmännisch weder interessiert noch begabt, widmete er sich vor allem der Schriftstellerei. Gemeinsam mit Achim von Arnim bringt er von 1805 bis 1808 die Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn heraus. Bettine gegenüber wirkt er zwar gutwillig, aber auch übergriffig. Er glaubte immer zu wissen, was für Bettine gut ist, sagt ihr, was sie lesen, wie sie sich bilden soll. Auch gibt er ihr Handarbeiten auf, um sie beschäftigt zu halten, und er rät ihr, sich nie allein mit Männern abzugeben sondern stets nur in Gesellschaft von Franz und Toni. Sie schreiben sich nun regelmäßig – und Bettine beginnt, sich herrlich spitzzüngig gegen die Erziehungsversuche des Bruders zu wehren:

„Dein Rat ist: Scheine in der Gesellschaft stets lieber dumm als vorlaut“, empört sie sich. Oder sie verbietet dem Bruder den Mund mit den Worten: „Mit meinem Mund gebe ich einen Kuss auf deinen. In welcher Sprache kann ich gebieterischer ausrufen: Halt’s Maul Bruder.“ Sie verlangt: „Fordere nun nicht mehr, ich soll dir treu bleiben. Ich bleibe dir in allem treu, Was meine Natur nicht verleugnet.“ Einmal lautet ihr Fazit auch:

„Dein Brief ist so voll sorgender Liebe zu mir und doch so ohne Zutrauen, dass ich eigentlich nicht weiß, ob ich mich freuen soll oder nicht.“

Bettine von Arnim an ihren Bruder Clemens

1844 bringt Bettine den Briefwechsel mit ihrem Bruder stark überarbeitet unter dem Titel Frühlingskranz heraus.


Bettine von Arnim und Karoline von Günderode

1804 beginnt für Bettine eine intensive Freundschaft mit der fünf Jahre älteren Karoline von Günderrode (1780 – 1806). Die Freundin stammt aus verarmtem Adel. Der Vater starb früh, und Karoline lebte in einem evangelischen Damenstift in Frankfurt, wo sie Philosophie, Geschichte, Literatur und Mythologie studiert. Ab 1804 publizierte sie unter dem Namen Tian. Literatur von Frauen gilt vielen männlichen Zeitgenossen als etwas vollkommen Unnatürliches und gegen die „Bestimmung des Weibes“ gerichtet. Außer Begabung, Können und Fleiß ist zu diesen Zeiten von einer Dichterin vor allem auch Robustheit gefragt, was Karoline jedoch fehlt.
Karoline verliebt sich in den Altertumswissenschaftler Friedrich Creuzer (1771 bis 1858), der aus Pflichtgefühl mit der 13 Jahre älteren Witwe seines einstigen Professors verheiratet ist. Das leidenschaftliche Liebesverhältnis mit Karoline dauert von 1804 bis 1806. Creuzer spricht von Scheidung. Doch dann wird er krank und seine Frau pflegt ihn, woraufhin er mit der Günderode bricht und ihr die Nachricht von einer dritten Person überbringen lässt. Karoline bringt sich daraufhin in Winkel am Rhein um, indem sie sich einen Dolch ins Herz stößt. Die Freundschaft ist deshalb so bedeutend, weil Bettine ihrer Freundin 1840 mit dem Briefroman Die Günderrode ein literarisches Denkmal setzt. Es ist ihr zweites Werk nach Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, das 1835 erscheint.

Karoline von Günderrode
Karoline von Günderrode 1797 (Quelle Wikipedia)

Bettine von Arnim und Frau Rath

Ab 1806 pflegt Bettine einen engen Kontakt zu Goethes Mutter, in Frankfurt unter dem Namen „Frau Rat“ bekannt. Katharina Elisabeth Goethe (1731-1808) war die Mutter von Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832). Bettine geht täglich zu der 75 jährigen. Die fühlte sich zuvor etwas einsam und bittet Bettine, sie solle sie Mutter nennen. Die Verbindung ist tief – beide sprechen von Seelenverwandtschaft – und nicht auf Goethe beschränkt, auch wenn sie viel über ihn reden. Bettine schreibt auch auf Goethes ausdrücklichen Wunsch hin alles auf, was die Mutter über Goethes Kindheit erzählt. Bettine setzt auch Frau Rat ein schriftstellerisches Denkmal. In ihrem Buch von 1843 – Dies Buch gehört dem König – führt Frau Rath fiktive Gespräche mit Königin Luise, der Gattin von Wilhelm III. und repräsentiert somit das stolze freie Frankfurter Bürgertum. Goethe wiederum verwendet Bettines Mitschriften in seinem Buch „Dichtung und Wahrheit“.

Catharina Elisabeth Goethe
Catharina Elisabeth Goethe (Quelle: Wikipedia)

Bettines Ehe mit Achim von Arnim

Ihren späteren Ehemann lernt Bettine bereits 1802 kennen. In Briefen nähern sie sich einander an, dennoch ist nicht abzusehen, dass daraus einmal ein Liebesverhältnis entstehen könnte, vielmehr verlieben sie sich in jeweils andere und tauschen sich über ihren Kummer aus. Doch 1810 stirbt Achim von Arnims Großmutter, die ihn auch erzogen hat, und sie setzt nicht Arnim, sondern dessen Kinder (d. h. Söhne) als Erben und Achim als deren Vermögensverwalter ein. Nun braucht er eine Braut. 1810 macht er Bettine einen Heiratsantrag. Bettine ist 25 Jahre alt und willigt ein. Es handelt sich weder um eine Vernunftehe noch um eine Liebesheirat, sondern um eine Heirat aus gegenseitiger Wertschätzung, aus der mit der Zeit Liebe wird.

Auch in der Liebe bleibt Bettine sich treu. Sie ist der Meinung:

Die Liebe soll helfen, sich zu finden.

In rascher Folge werden die Kinder geboren: Freimund (1812), Siegmund (1813), Friedemund (1815), Kühnemund (1817), Maximiliane (1818), Armgart (1821) sowie Nachzüglerin Gisela (1827). Bettines Schwangerschaften sind schwer, den Entbindungen sehen sie und ihr Mann jeweils mit großer Sorge entgegen. Kein Wundern, denn am Ende des 18. Jahrhunderts stirbt jede zwölfte Frau im Kindbett.

Streit um den Wohnort

Ständiger Streitpunkt des Ehepaars ist der Wohnort. Achim von Arnim hätte gerne eine Stelle als preußischer Beamter oder als Offizier angenommen, doch das gelingt ihm nicht. Darum ist er gezwungen, auf das geerbte Gut Wiepersdorf zu ziehen. Er findet Gefallen an der Landwirtschaft. Bettine jedoch fehlt Berlin und der kulturelle Austausch. Ab 1817 wohnt sie mit den Kindern hauptsächlich in Berlin, was zu neuen, anderen Konflikten mit Achim führt, die nun vor allem per Brief ausgetragen werden. Vor allem über die Finanzen und die Erziehung der Kinder streiten sie sich. Achim ist viel konservativer als seine Frau. Der Ton wird rauer, Bettine klagt über die „Verbauerung ihres Mannes“ und vermisst den Dichter. Sie beschwört Achim, seine geistigen Freiräume zu nutzen.

Berlin, In den Zelten 5, Bettina von Arnims Wohnung in den Jahren 1847 bis 1859
Berlin, In den Zelten 5, Bettina von Arnims Wohnung in den Jahren 1847 bis 1859, Zeichnung von Armgart von Arnim (Quelle: Wikipedia)

Doch da zeigt sich die Verschiedenartigkeit der beiden. Achim braucht die Abgeschiedenheit des Landlebens, Bettine das Kommunikative der Stadt. Bettine hat etwas eigenes Geld von der Familie, was ihr Unabhängigkeit verschafft. 1831 stirbt Arnim überraschend mit 49 Jahren – die jüngste Tochter Gisela ist erst 4 Jahre alt. Sie trauert sehr um ihn, trägt ihn jedoch weiterhin in ihrem Herzen, sagt, er bliebe ihr „als Gesprächspartner erhalten“. Vormund der Kinder wird ihr Schwager Carl von Savigny. 1835 ereilt Bettine ein weiterer schwerer familiärer Schicksalsschlag, als ihr Sohn Kühnemund nach einem Badeunfall mit 18 Jahren an einer Kopfverletzung verstirbt.

Bettine von Arnim und Johann Wolfgang von Goethe

Nach dem Tod ihres Mannes beginnt Bettines Leben als Schriftstellerin. Ihr erstes publiziertes Werk wird ihr größter Erfolg, nämlich Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Bettine hat schon als Kind viel von Goethe gehört und begegnete ihm 1807, mit 22 Jahren, endlich persönlich. Bettine ist von ihm begeistert, Goethe ist ihr gegenüber reserviert, und das bleibt auch so.

Von 1807 bis 1811 schreibt sie ihm 41 Briefe, Goethe schreibt ihr 17, sie teilweise von seinem Sekretär verfasst werden. Sie bittet ihn, seine Mutter in Frankfurt zu besuchen, die mittlerweile todkrank ist. Goethe erkennt seine Chance und bittet sie, Märchen, Anekdoten und Geschichten aus seiner Kindheit für ihn mitzuschreiben. Er verwendet die Notizen, teilweise wortwörtlich für Dichtung und Wahrheit.

Titelblatt Erstausgabe Goethes Briefwechsel mit einem Kinde Bettine von Arnim

Bettine die Goethe-Verehrerin

1810 begegnet sie ihm wieder. Ihre Schilderungen dieses Ereignisses geraten von Mal zu Mal erotischer. So schreibt sie beispielsweise, dass er ihr „viele Küsse auf den Hals drückt“. 1811 besucht sie Goethe zusammen mit ihrem Mann – und da kommt es zum Eklat mit Goethes Frau Christiane. Doch Bettine lässt sich auch dadurch nicht aufhalten. Sie plant ein Goethe-Monument und zeichnet es selbst. Sie zeigt es ihm 1824, woraufhin er kurzzeitig etwas gnädiger gestimmt ist. 1832 stirbt Goethe in Weimar und sie beginnt, ihre Veröffentlichung vorzubereiten. In Goethes Briefwechsel mit einem Kinde kombiniert sie collageartig Kindheitserinnerungen, philosophische Betrachtungen und die Behandlung politischer Themen und thematisiert in keiner Weise die reale problematische Beziehung zu Goethe. Vielmehr betreibt sie eine Form von Geniekult, bei dem das Individuum sich durch Kontakt mit dem Genius weiterentwickelt und zu sich selbst findet.

Goethe und Psyche, Statue
Goethe und Psyche (Statue von Carl Steinhäuser, 1851) Quelle: Wikipedia

Viele sehen die Publikation höchst kritisch. Clemens Brentano merkt an, dass weder Arnim und Goethe die Veröffentlichung gutgeheißen hätten. Sie trifft auf massiven Widerstand der Familie, alle sind dagegen, auch ihre Schwester Gunda von Savigny, ihr Sohn Siegmund, der jetzt 22 Jahre und preußischer Beamter ist. Doch Bettine lässt sich nicht abbringen. Der Erstdruck erfolgt 1835 und die erste Auflage von 5000 Exemplaren. ist rasch verkauft. Bettine ist auf einen Schlag berühmt und wird zur Hoffnungsträgerin der aufbegehrenden deutschen Jugend. Die Schriftsteller des Jungen Deutschland sehen zu ihr auf.

Die politische Bettine – Dies Buch gehört dem König

Bettine war von jeher eine Person mit einem sozialen Gewissen und eine, die angesichts von Armut und Elend nicht wegschaut. Als im Jahr 1831 eine Cholera Epidemie in Berlin wütet, versucht, sie die ärgste Not zu lindern. Sie bleibt in Berlin, auch wenn sie die Kinder zu Verwandten schickt, sammelt Geld, organisiert Kleidung, Schuhe und Decken und organisiert Arbeit für die Erwerbslosen. Als Anhängerin der homöopathischen Medizin Samuel Hahnemanns verteilt sie Belladonna.

Karitativ waren alle damals Damen tätig, Bettine aber erkennt die Ursachen.

Man soll Mitleid mit niemand haben, man soll sich schämen, dass es so werden konnte.

„Tugendgekitzel“ nennt sie derlei Wohltäterei, die den Gebern schmeichelt, die Nehmenden demütigt und ansonsten die Welt belässt wie sie ist. Sie interveniert für sogenannte Kleine Leute, steht beispielsweise der Mutter eines Schneidergesellen bei, der von Gendarmen krankenhausreif geschlagen wird und verstirbt. Und sie engagiert sich für arme Studenten. Angesichts der Not um sie herum wird sie politisch. Sie hofft auf eine Lösung „von oben“, fürchtet aber die revolutionären Wirren. Ihr schwebt ein „soziales Königtum“ vor.

Im Jahr 1843 mündet ihr politisches Engagement in einer Publikation, die die Widmung im Titel trägt. „Dies Buch gehört dem König“. Darin stellt sie die Forderung auf, der König solle revolutionär werden“. Sie fordert die Einheit von König und Demagogen, glaubt noch an einen „guten König“.

Geldschein 5 DM Bettine von Arnim

Im Buch behandelt sie brisante Themen der Zeit. Sie erklärt das Konzept des Volkskönigs, ergeht sich in Ausführungen zu Justiz und zum Gefängniswesen, kritisiert eine Religion die Menschen klein hält und behandelt Fragen des Pauperismus, denn Löhne unter dem Existenzminimum sind ein großes Problem.

Das Buch beinhaltet auch eine Sozialreportage, Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtland, die Bettine ihrem ›Königsbuch‹ hinzufügt. Der Text geht auf die Aufzeichnungen des Schweizer Studenten Heinrich Grunholzer zurück, der anhand einer Auflistung von Einzelschicksalen die Lebensbedingungen der Bewohner des Vogtlandes, das war damals eine Armenkolonie in der Berliner Vorstadt, schildert. Bettine hält den Bericht für so bedeutend, dass sie ihn Grunholzer abkauft.


Auszug aus der Reportage

«Im Dachstübchen Nr. 76 wohnt ein Schuster, Schadow. Ich sah lange Zeit durch die gespaltene Türe ins Zimmer. Er arbeitete fleißig; die Frau saß am Boden und nähte einige Lumpen zusammen; zwei kleine, halbnackte Kinder saßen am Boden und spielten mit einer alten Tabakspfeife. Als ich eintrat, war Schadow ganz. erschrocken; er hatte mich für den Inspektor gehalten, dem er Miete schuldig ist, und sah sich gern enttäuscht. Das Zutrauen der Unglücklichen hat man sich bald erworben: es dauerte nicht lange, so erzählte mir der Mann seine ganze Lebensgeschichte; dass er dabei nicht viel von seinen Fehlern sprach, schien mir sehr verzeihlich und zum Teil überflüssig, da ich an ihm ja leicht merken konnte, dass er den Branntwein liebt und seine Frau sehr unordentlich ist. (…) 1836 zog er ins Familienhaus. Fünf seiner Kinder starben an den Pocken, und während sie krank waren, fehlte es ihm an Arbeit. Von niemandem unterstützt, geriet er dadurch so in Schulden, dass er mehrmals aus dem Hause geworfen werden sollte.

Er verkaufte Hausgeräte und Kleider und ist jetzt so entblößt von allem, dass er nicht einmal ein Hemd besitzt. Durch Arbeit kann er sich nicht wieder auf-schwingen, weil es ihm an Leder fehlt und die Flickarbeit, die er den Leuten im Familienhause macht, schlecht bezahlt wird. Zudem hat er mit zwölf andern Schustern, die am gleichen Orte wohnen, zu konkurrieren. Ich sah es selbst, wie seine Frau um Arbeit ausging und er unterdessen die Kinder hütete. Es war drei Uhr abends, und er hatte an demselben Tag erst zwei Silbergroschen verdient; den einen gab er wieder aus für Zwirn, für den andern kaufte er Brot. Das Kleine fing an, vor Hunger zu weinen. Sch. hatte soeben einen Schuh geflickt und gab ihn der Frau mit den Worten: ›Trage ihn fort, laß dir einen Sechser dafür geben und bring dem Kind ein Semmelbrot; es hungert.‹ Die Frau kam mit leerer Hand zurück; das Mädchen, dem der Schuh gehörte, konnte nicht bezahlen. Das Kind weinte noch immer, und Vater und Mutter weinten.«

zitiert nach der Bettine-Biographie von Michaela Diers, Seite 164.

Reaktionen auf das Buch

Die Reaktionen auf das Buch sind gespalten. Fortschrittliche sind begeistert, aber in Bayern und Österreich wird das Buch verboten. Die Preußen reagieren hingegen gelassen, weil sie annehmen, dass Form und Sprache des Werks sich nicht für eine größere Verbreitung eignen.
König Wilhelm IV wurde im Jahr 1840 König. Sie korrespondierte schon vor dessen Amtsantritt mit ihm und setzte sich unter anderem für die Gebrüder Grimm ein, die nach ihrer Entlassung aus der Universität Göttingen in Berlin Aufnahme fanden. Doch sie täuscht sich im König. Wilhelm IV. hängt vorabsolutistischen Vorstellungen an. Er begreift sich als ein König von Gottes Gnaden zum Wohle eines nach Ständen geordneten Volks. Zwar mag er hier und da milde erscheinen, im Kern bleibt er jedoch hart.

Bettine wird Hetze vorgeworfen

In einer weiteren Broschüre veröffentlicht Bettine von Arnim eine Analyse zur entfremdenden Industriearbeit, die den Menschen zum „Automat“ herabwürdigt. Sie lässt 750 Exemplare auf eigene Kosten drucken. Als es im Jahr 1844 zum Weberaufstand in Schlesien kommt, dem sogenannten Armenhaus Preußens, wird Bettine von Arnim vorgeworfen, sie aufgehetzt zu haben. Auch ihre Verwandten wollen sich Bettines Argumentation nicht anschließen. Ihr Schwager Savigny ist beispielsweise der Meinung, die Schlesier seien niederträchtig und verdienten kein Erbarmen.

Bettine ist empört. Sie wehrt sich mit den Worten: „Allein den Hungrigen helfen wollen heißt jetzt Aufruhr predigen“. Bereits seit ihrem Goethebuch schart sie in ihrem Salon junge Leute um sich. Nun findet sie sich im Lager der Staatsfeinde wieder. Man befürchtet gefährliche Umtriebe
in ihrem Salon. 1848 bricht die Revolution aus und der Riss geht auch durch die Familie von Arnim. Im Hause von Arnim gibt es fortan zwei Salons, einen demokratischen und einen aristokratischen.

Wilhelm IV. versucht, die Revolution mit Zugeständnissen zu zerschlagen. Als ihm das nicht gelingt, greift er beispielsweise in Baden und in der Pfalz militärisch hart durch. In Berlin gibt es am 18. März 1848 230 Todesopfer zu beklagen. Die angebotene Kaiserkrone lehnt Wilhelm IV. ab.

Die letzten Jahre

In ihren letzten Lebensjahren lässt Bettine in ihrem Engagement kaum nach. Sie setzt sich beispielsweise, wenn auch vergeblich, beim König für Gottfried Kinkel ein, der ein Mitglied der pfälzischen Revolutionsregierung gewesen war. Außerdem arbeitet sie weiter an der Umsetzung ihre Goethe-Monuments. 1852 erscheint Des Königsbuchs zweiter Band, Gespräche mit Dämonen, das kaum mehr Beachtung findet. 1853 werden ihre sämtlichen Werke in 11 Bänden herausgegeben. Die Politik wird währenddessen immer reaktionärer. Im Bundestag werden 1854 alle Arbeitervereine verboten, Streiks werden fortan mit Gefängnis bestraft.

Ende Oktober 1854 erleidet Bettine einen schweren Schlaganfall, 1856 folgt ein zweiter. Sie wird von ihren Töchtern Armgart und Gisela umsorgt. Sie stirbt am 20. Januar 1859 73jährig im Kreise ihrer Familie in Berlin und wird auf dem kleinen Friedhof von Schloss Wieperdorf neben ihrem Mann Achim von Arnim beigesetzt.

Bettine von Arnim

Die konservativen Familienmitglieder sorgen dafür, dass Bettines Nachlass zunächst unter Verschluss bleibt. Aus finanziellen Gründen wird er 1929 versteigert und ist nun verstreut oder verloren. Das politische Engagement von Bettine von Arnim geriet in Vergessenheit. In der DDR begann seit den 1950er Jahren die Aufarbeitung, in der BRD entdeckten sie die 68er. Bettine von Arnim war die Einzige, die das freiheitlich-individualistische Denken der Frühromantik in den Kampf um politische Freiheit und gesellschaftliche Gerechtigkeit überführt hat. Die einst scheinbar rebellischen Herren (ihr Bruder Clemens Brentano, die Brüder Schlegel, von Görres oder Eichendorff) verabschiedeten sich nämlich sämtlich in Richtung Katholizismus.

Quelle und Leseempfehlung: Michaela Diers: Bettine von Arnim. Deutscher Taschenbuch Verlag. 2010

Hörempfehlungen:

Mit jedem Druck der Feder drück ich Dich an mein Herz. Aus dem Briefwechsel von Bettine von Arnim und Achim von Arnim. Lesung mit Corinna Kirchhoff und Max Volker Martens. Hörbuch

MDR Kultur, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, Hörspiel

Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

Frauenleben-Podcast 

Instagram: https://www.instagram.com/frauenleben.podcast/

Sie stammte aus einer armen sächsischen Familie und war nach Maria Sibylla Merian die bedeutendste Naturforscherin und Forschungsreisende Deutschlands. Trotz mangelhafter Schuldbildung machte sie sich als Botanikerin einen so guten Namen, dass sie sich auf Augenhöhe mit Universitätsprofessoren unterhalten konnte. Ihr abenteuerlicher Lebensweg führte sie bis ins australische Outback.

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Sie wird 1821 in eine arme Familie in Sachsen hineingeboren. Ihr Vater war Beutler (Hersteller von Lederwaren) im sächsischen Siebenlehn. Die vierköpfige Familie, Amalie hat noch einen Bruder, lebt in der sogenannten Unterstadt, dem Arme-Leute-Viertel. Die »Nellen Male«, wie sie genannt wird, (ihr Mädchenname ist Nelle), ist ein ernstes und kluges Mädchen, und die Eltern schicken sie sogar auf die Schule, wofür sie von ihrem Haushaltsgeld etwas abzweigen müssen. Sie wird älter, bleibt aber bei den Eltern. Den Heiratsantrag eines reichen Mehlhändlers lehnt sie ab.

Amalie Dietrich
Amalie Dietrich

Mit vierundzwanzig Jahren lernt sie bei einer Wanderung den Naturforscher Wilhelm Dietrich kennen, der in der Oberstadt von Siebenlehn wohnt. Über ihn kursieren die wildesten Spekulationen, denn niemand weiß, was ein Naturforscher eigentlich macht. Wilhelm Dietrich hätte eigentlich Arzt werden wollen, musste jedoch das Studium abbrechen, weil das Geld nicht reichte, er machte eine Apothekerlehre, gab die Anstellung, die er als Apotheker hatte, jedoch auch wieder auf, um Privatgelehrter zu werden. Sein Interesse und seine Leidenschaft gehören der Botanik.

Das Kategorisierungssystem von Carl von Linné, die botanische und zoologische Nomenklatur, ist einige Jahrzehnte zuvor erfunden worden und hat sich etabliert. Der Besitz und das Erstellen von Herbarien, um die Formfülle der Natur zu ordnen, ist sozusagen en vogue. Jeder Botaniker setzt seinen Ehrgeiz daran, die Pflanzenarten in seiner Umgebung oder in bestimmten Regionen zu bestimmen und zu beschreiben. Und das tut also Wilhelm Dietrich, der ungefähr zehn Jahre älter war als Amalie. Die junge Frau ist völlig fasziniert. Ihr erschließt sich mit einem Schlag eine völlig neue Welt. Sie beginnt mit Dietrich die Wälder und Felder zu durchstreifen und als er bei ihren Eltern um ihre Hand anhält, sagt sie sofort Ja.

Wilhelm Dietrich hat natürlich sofort das Talent seiner jungen Frau erkannt. Sie ist fleißig, gelehrig, hat keine großen Ansprüche an ihren persönlichen Komfort, leidet nicht unter »Putzsucht«, denn das gilt quasi als Todsünde – gemeint ist damit, der Wunsch hübsch auszusehen und schöne Kleider zu tragen – und sie ist bereit, sich völlig unterzuordnen. Sie geht bei ihrem Mann in die Lehre.

Dreihundert Taler haben die Eltern für die Aussteuer der Tochter angespart, das ist gar nicht einmal so wenig für eine so arme Familie, und die werden nicht in Leinenwäsche oder ein neues Kanapee investiert, sondern in Pflanzenpressen, Glashäfen, Spiritus und Papier. Das Paar zieht in ein altes Forsthaus, es ist ungemütlich, aber luftig und groß, und jeder Raum wird Teil der Werkstatt. Es gibt keine Wohnstube, es gibt nur Arbeitsräume. Tausende getrocknete Pflanzen liegen in den Regalen, Blüten, Stängel, Wurzeln, dazu mumifizierte Insekten und Mineralien, alles fein säuberlich geordnet und aufgereiht.

Im Sommer wird tagsüber gesammelt und abends getrocknet und gepresst und im Winter ordentlich auf Papier aufgezogen beschriftet. Amalies Eltern ziehen bei dem Paar ein und die Mutter macht den Haushalt. Amalie kann sich also voll und ganz darauf konzentrieren, die Assistentin ihres Mannes zu sein.

Er war womöglich ein guter Lehrer – ob er ein guter Mensch war, sei dahingestellt. Auf jeden Fall nutzt er ihren Aufopferungswillen aus. Beispielsweise trägt er nie selbst den Korb, in dem sie die Pflanzen nach Hause tragen, das lässt er immer sie machen, auch als sie die Wanderungen später ausweiten und teilweise wochenlang umherziehen, ohne nach Hause zurückzukehren. Das geht auch gut, zumindest solange sie noch kein Kind haben. 1848 wird die Tochter Charitas geboren. Der Vater ist enttäuscht, keinen Sohn zu haben, Amalie muss weiter arbeiten, wahrscheinlich will sie es auch. Hausfrau zu sein – und nun auch noch Mutter – hat sie nie gelernt, und ihre Mutter ist ja noch da, um sich zu kümmern. Also bleibt erst einmal alles beim Alten.

Finanziell sieht es nicht so gut aus. Die Herbarien, die sie erstellen, sind zwar sehr hochwertig, aber die Kundschaft, Universitätsprofessoren etwa, ist nicht sehr zahlungsfreudig. Es ist sehr schwer, angemessene Preise für die viele Arbeit zu erzielen. Es reicht also gerade so zum Leben. Vier Jahre später stirbt die Mutter und Amalie fühlt sich überfordert. Sie stellt ein junges Dienstmädchen ein. Nun kommt der Klassiker: Der Ehemann verliebt sich neu und verschwindet, angeblich um in Berlin Geld einzutreiben, das ihm zusteht. In Wahrheit trifft er sich mit dem Dienstmädchen.

Aus: Die Verteufelung der Amalie Dietrich von Ray Sumner.

Das ist eine große Krise in Amalies Leben. Sie hat das Gefühl, mit einem Mal völlig allein dazustehen. Sie besorgt sich einen Pass und reist mit ihrer Tochter nach Bukarest, wo ihr Bruder Karl lebt. Für die damalige Zeit eine Reise ans Ende der Welt. Ihr Bruder ist wie der Vater Lederwarenhersteller geworden und hat es damit weit gebracht, er ist recht wohlhabend. Doch das Leben in der Großstadt fällt Amalie schwer und mit ihrer hübschen auf Etikette bedachten Schwägerin, kommt sie nicht sonderlich gut zurecht. Sie lässt sich als Haushälterin bei einem sächsischen älteren Ehepaar in einem Karpatendorf anstellen und schätzt die Ruhe der Natur, die sie dort im Gegensatz zur Großstadt wieder genießen kann. Sie nimmt das Sammeln von Pflanzen wieder auf und schickt die Pflanzen zu ihrem Mann nach Siebenlehn. Nach einem Jahr kehrt sie nach Hause zurück.

Sie ist selbstbewusster geworden – doch es ist für sie keine Frage, dass sie nun wieder mit ihrem Mann zusammen arbeiten wird. Die Tochter müssen sie bei den ausgedehnteren Wanderungen, die sie nun unternehmen, teilweise sind sie vier bis fünf Monate am Stück unterwegs, in fremden Familien unterbringen. Sie sammeln Farne, Moose, Gräser, Giftpflanzen für Apotheken, Schulen, Universitäten und botanische Gärten. Da ihr der Tragekorb auf dem Rücken zu schwer wird, schafft Amalie einen Handwagen an, der von einem Hund, Hektor mit Namen, gezogen wird. Doch wenn es bergauf geht, zieht sie auch selbst.

Dann wird das alles ihrem Mann irgendwann zu anstrengend. Amalie Dietrich ist nun 36 Jahre alt und muss die Familie ernähren. Sie ist jetzt immer allein unterwegs, hat aber auch mehr Freiheiten und kommt in Kontakt und in Gespräche mit ihren Kunden, mit gebildeten Männern, die die Qualität ihrer Arbeit anerkennen. Sie redet mit Universitätsprofessoren, Lehrer, Apotheker – sie erfährt etwas über den Stand der wissenschaftlichen Forschung.

Dann soll die Sammlung ergänzt werden mit Algen und Seetang und sie soll, so der Wunsch ihres Mannes, an die holländische Küste wandern. In Harlem bei Den Haag bricht sie zusammen. Sie hat Typhus und überlebt die Krankheit kaum, liegt wochenlang im Spital. Als sie nach Hause zurückkehrt, ist ihr Mann nicht mehr da. Er hat sich als Hauslehrer anstellen lassen. Die Tochter hat er wiederum bei einer fremden Familie untergebracht.

Sie holt die Tochter zu sich und stellt gemeinsam mit ihr neue Herbarien zusammen, die sie zu Geld machen kann. Nun läuft es für sie ein bisschen besser, sie spart das Geld für eine Bahnfahrkarte nach Hamburg zusammen, wo sie ihre Moosherbarien verkaufen will. Sie wird weiterempfohlen an Cesar Godefffroy, einem Reeder und begeisterten Sammler naturkundlicher Materialien, der dabei ist ein naturkundliches Museum aufzubauen. Beim zweiten Anlauf empfängt er sie, beim ersten hat er sie noch abgewiesen, weil sie nun daran gedacht hat, sich Referenzen zu besorgen, die sie vorlegt. Und sie wird engagiert.

Die Firma Godeffroy ist ein bedeutender Name in Hamburg. Sie haben nicht nur die Reederei, sie verdienen ihr Geld mit Kohle, Eisen und Stahl, mit Überseehandel und Plantagen. Godeffroy wird «König der Südsee», aber auch «Raffzahn» genannt. Und wer Geschäfte in den Kolonien machte, war wahrlich nicht zimperlich. Ein wichtiges Handelsgut war das sogenannte Kopra, getrocknetes Kokosnussfleisch, das man zu Öl verarbeitete. Damals wurden in der Südsee ganze Landstriche gegen Gewehre oder Baumwollstoffe eingetauscht. Anschließend wurden die Ureinwohner auf den Plantagen angestellt, wo sie für einen Hungerlohn arbeiten mussten.

Ein weiteres Standbein von Godeffroy ist das Geschäft mit australischen Auswanderern. In Australien gab es damals reichlich Grund und Boden, aber zu wenig Arbeitskräfte, weshalb man dort billig Grund und Boden erwerben konnte. Zwischen 1855 und 1866 schafften 13 Godeffroy-Schiffe in 26 Fahrten mehr als elftausend deutsche Auswanderer nach Australien.
Die Kapitäne sind angewiesen, unbekannte Pflanzen und Tiere mit zurückzubringen – auf Speicherböden werden die Sachen aufbewahrt und sortiert und dafür auch extra jemand eingestellt, ein Präparator. Nachdem Amalie Dietrich also die Zusage für ihre Anstellung bekommen hat, muss sie noch ihre Fertigkeiten ein wenig ausweiten. Sie lernt, Vögel abzubalgen, mit dem Gewehr umzugehen, lernt Säugetiere und Fische auszunehmen und einzupökeln. Und dann reist sie mit naturkundlichen Büchern, Werkzeug und Materialien im Gepäck nach Australien. Immerhin bekommt sie eine erste Klasse Kabine zugewiesen. Wenn auch ihr Lohn, wie später Forscher herausgefunden haben, nur halb so hoch war, wie der eines Mannes, ist sie nun im Zenit angekommen. Sie hat die Anerkennung der wissenschaftlichen Welt erreicht.

Ihre Tochter kann sie freilich nicht mitnehmen. Sie schickt sie auf eine gute Schule, ein Institut, auf dem sie zur Kindergärtnerin nach der neuen Fröbel-Methode ausgebildet wird. Später verbringt die Tochter längere Zeit in London. Das Geld für die Tochter ist der größte Posten in Amalie Dietrichs Haushalt. Sie verdient 387 Taler im Jahr, das Schulgeld beträgt 150 Taler. Sie selbst gönnt sich so gut wie nichts für ihren persönlichen Komfort.

Amalie Dietrich
und ihre Tochter Charitas

Zehn Jahre bleibt Amalie Dietrich nun in Australien. Sie sammelt alles, was ihr unter die Finger kommt und bekommt auch konkrete Anweisungen aus Hamburg, etwa verschiedene Hölzer zu sammeln, «Probenblöcke», und auch genau, wie sie die Sachen verpacken soll und wie viele Exemplare jeweils gewünscht werden. Godeffroy stellt nämlich wiederum Sammlungen zusammen, die dann weiterverkauft werden.

Aus einer Anzeige:
«Neuholländische Pfanzen, gesammelt von Amalie Dietrich am Brisbane River Col. Queensland im Auftrage des Herren Joh. Ces. Godeffroy & Sohn in Hamburg … Es können Sammlungen bis ca. 350 Arten geliefert werden»

Es werden einige Pflanzen nach Amalie Dietrich benannt, beispielsweise eine Moosart, zwei Algenarten, eine Akazie, zwei Wespenarten.

Von Brisbane zieht sie weiter nach Norden, nach Gladstone. Wie sie dort gelebt hat, wissen wir kaum. Es gibt dazu nur die Schilderungen der Tochter, die in ihr Buch Briefe einbindet, die angeblich von der Mutter stammen sollen, es jedoch sehr wahrscheinlich nicht sind. Sie hat das Buch nach dem Tod der Mutter geschrieben und Forscher haben in den Briefen Zitate aus anderen Büchern wiedererkannt – und außerdem botanische Fehler festgestellt, die Amalie Dietrich wohl niemals unterlaufen wären.

Auch menschliche Skelette schickt sie nach Deutschland. Darwins (1809-1882) Evolutionstheorie ist auf dem Vormarsch und damit auch der Sozialdarwinismus. Man vermutet, dass die australischen Ureinwohner womöglich das Missing Link sein könnten zwischen den Menschenaffen und den Menschen. Godeffroy förderte diesen Zweig der Wissenschaft. In den australischen Briefen heißt es, sie habe bei den Erwachsenen die in den Baumwipfeln aufgebahrten Leichen stehlen müssen. Kinderleichen seien einfacher zu beschaffen, da sie in einen hohlen Baum gesteckt werden, der mit roter und weißer Farbe gestrichen wird.

Sie dringt immer weiter ins Outback vor, weit weg von jeder Zivilisation, bleibt an eine, Ort, an dem außer ihr nur drei Familien leben. Ihre Tochter schildert in ihrem Buch alle möglichen Abenteuer, von denen man aber nicht weiß, ob sie wahr sind. Ein abenteuerliches und entbehrungsreiches Leben war es aber ganz gewiss. Nach zehn Jahren, 1873, kommt sie wieder in Hamburg an und hat zwei selbst gezähmte Raubvögel im Gepäck, einen Keilschwanz und einen australischen Seeadler, als Geschenk für den Hamburger. Zoo Tochter Charitas holt sie ab.

Da saß am anderen Ende der Kajüte eine alte Frau mit gekrümmtem Rücken. Ihr pergamentartiges verwittertes Gesicht war von tausend Falten und Fältchen durchfurcht und wurde von dünnen weißen Scheiteln umrahmt. Ein dürftiges Röckchen und eine dunkle Kattunjacke umschließen die alternde Gestalt. An den Füßen trug sie alte graue Segeltuchschuhe, die vielfach Löcher zeigten. … Zwei Fremde standen sich gegenüber.

Aus: Charitas Bischoff, »Amalie Dietrich. Ein Leben«.

Die Sammlung Godeffroy ist nun ein Museum. Amalie Dietrich bekommt eine Anstellung und darf ihre Sammlung betreuen. Sie ist ein häufiger Gast an der Hamburger Universität, geht dort in die Vorlesungen. Doch sechs Jahre nach ihrer Rückkehr ist Godeffroy plötzlich pleite. Das Museum wird verkauft, die Sammlungen werden auseinandergerissen, vieles – zu vieles – ist noch nicht einmal erfasst und katalogisiert worden. Manche Pflanzen, die sie als erste entdeckt und beschrieben hat, werden später von anderen ein zweites Mal zum ersten Mal entdeckt und beschrieben. Vieles, was überlebt, weil es beispielsweise von der Stadt Hamburg oder von Leipzig aufgekauft wird, wird später im Krieg vernichtet. Nur die Herbarien bleiben wohl verschont und existieren bis heute.

Amalie Dietrich zieht in ein städtisches Altersheim um. Sie stirbt 1891 mit 70 Jahren, 18 Jahre nachdem sie aus Australien zurückgekehrt ist, und 12 Jahre, nachdem die Sammlung Godeffroy aufgelöst wurden.

Für diese Episode verwendete Literatur:

Renate Feyl. Der lautlose Aufbruch. Diana Verlag 2004

Amalie Dietrich (1821-1891) : German biologist in Australia : homage to Australia’s Bicentenary 1988, Stuttgart : Institut für Auslandsbeziehungen

Die Verteufelung der Amalie Dietrich von Ray Sumner

Amalie Dietrich. Ein Leben. Erzählt von Charitas Bischoff

Auf der empfehlenswerten Website fembio.org sind eine Menge weiterer Quellen zu finden

Bildquellen wenn nicht anders angegeben: siebenlehn.de. In Siebenlehn gibt es eine Amalie-Dietrich-Gedenkstätte.

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Artwork und Musik: Uwe Sittig

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

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Die erste Universitätsprofessorin Europas inspirierte ihre Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Sie galt als Wunderkind, lehrte später Philosophie und Physik an der Universität von Bologna und ließ trotz Heirat und acht Kindern die Wissenschaft nicht ruhen. Wie sie die an sie gestellten Erwartungen erfüllt und doch ihren ganz eigenen Weg geht, erzählt diese Podcastfolge. 

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Sie sei «die deutsche Bassi» – diese Aussage begegnete mir mehrfach bei meinen Recherchen zu der eigenwilligen Frau Doktor Erxleben, der wir kürzlich schon eine Episode gewidmet haben. Naheliegend also, zu schauen, wer denn bitteschön «die Bassi» war? 

Laura Bassi gilt schon früh als Wunderkind, das von den Eltern herumgezeigt und vorgeführt wurde. Ähnlich wie Mozart, der ja auch von seinem Vater ausgestellt wurde. Ehrgeizige Eltern gehören zu Wunderkindern einfach dazu. Laura muss Rechenkünste vorführen oder wissenschaftlich «disputieren». Ganz entzückt ist man davon, was das Mädchen so alles kann und weiß. 

Abb. von Mailsapartbassimore

Sie lebt in Bologna und ist die einzige Tochter eines Juristen. Eine wohlhabende und angesehene Familie mit Verbindungen zu adligen Kreisen. Die Brüder sind verstorben. Für Mädchen ist keine schulische Ausbildung vorgesehen, daher wird Laura von ihren Cousins zu Hause unterrichtet. 

Laura Bassis Erziehung steht somit in der Tradition eines Kuriosums, welches im Renaissance-Humanismus entstanden war. Das Anliegen des Humanismus, Bildung und Studium in den antiken Sprachen, ihrer Literatur und Kultur zu fördern, ermöglichte nämlich auch einigen ausgewählten Mädchen und Frauen Zugang dazu, üblicherweise durch männliche Familienangehörige, also Brüder oder Väter – eine Parallele übrigens zu Dorothea Erxleben, die von ihrem Vater unterrichtet wurde. 

Die Gesellschaft liebt Wunderkinder

Das Phänomen der Wunderkinder gab es nicht nur in Italien, sondern auch in anderen europäischen Ländern, je jünger, je kurioser. Auch Knaben konnten Wunderkinder sein, doch Mädchen waren eben noch interessanter. Die italienischen Humanistinnen verkörperten zudem eine zweite Eigenschaft, nämlich die der keuschen Jungfräulichkeit. Studium und Heirat schlossen einander normalerweise aus. 

Als Laura Bassi etwa 14 Jahre alt ist, übernimmt es ein gewisser Gaetano Tacconi, Arzt der Familie Bassi und Universitätsprofessor, sie in Logik, Metaphysik und Naturphilosophie zu unterrichten. Er machte sie sehr wahrscheinlich auch mit dem wissenschaftlichen Streitgespräch bekannt. Für Laura Bassi ist dies etwas vollkommen Neues. Zuerst hatte sie die Grundlagen gelernt, um wissenschaftliche Texte überhaupt lesen zu können. Nun lernt sie auch etwas über die Inhalte und sie lernt, aktiv Wissenschaft zu betreiben. Wissenschaft sah damals so aus, dass man über Texte Rede und Gegenrede hielt– das war die Ausdrucksform schlechthin an der Universität und darüber hinaus, denn eine öffentliche Disputation spielte auch allgemein in Bologna eine wichtige Rolle.  

Ein Spektakel – und eine Professur mit 21 Jahren

Im Jahr 1732, sie ist 21 Jahre alt, entsteht um sie ein regelrechter Hype. Sie hält Disputationen in ihrem Elternhaus, wird im März in die Akademie aufgenommen, im April folgt die erste öffentliche Disputation, einen Monat später wird ihr in einer öffentlichen Zeremonie der Doktorgrad verliehen, im Juni gibt es eine weitere öffentliche Disputation, mit der sie sich um einen Philosophie-Lehrstuhl an der Uni bewirbt, den sie Ende Oktober vom Senat bekommt. Im Dezember 1732 hält sie ihre erste Vorlesung. Das Spektakel, das sich um ihre Person vollzieht, hat nicht nur mit der Ehrung einer überragenden jungen Frau zu tun, Bologna feiert sich auch selbst, alle nehmen an der Inszenierung teil. Trotz ihres Ruhms hält sie jedoch nur selten öffentliche Vorlesungen, da sie dafür jedesmal eine Ausnahmegenehmigung vom Senat benötigt. Sie macht sich als Privatgelehrte einen Namen.

Der Anatomiesaal von Bologna aus dem 17. Jahrhundert.
Von Wikipeder

Doch dann heiratet sie und fügt sich somit nicht dem gesellschaftlichen Dogma, welches für sie ein gelehrtes Leben ohne Familie vorgesehen hätte. Ihr Ehemann, der Arzt Giuseppe Verati (1707–1793) ist weit weniger bekannt als sie und noch nicht einmal vermögend, doch weil Laura Bassis Vater bereits tot ist, kann sie über ihre Ehe frei entscheiden. Das Paar bekommt acht Kinder.

Sie hält in ihrem Haus regelmäßig Vorlesungen, ist eine Anhängerin von Isaac Newton, unterstützt die Theorie von Benjamin Franklin zur Elektrizität und installiert zusammen mit ihrem Mann den ersten Blitzableiter Italiens auf dem Dach der Universität von Bologna – der wegen Aberglaubens der Bevölkerung wieder entfernt werden muss. Sie betreibt ein Observatorium in ihrem Landhaus und veröffentlicht Arbeiten zur Hydromechanik. Als im Jahr 1772, da ist sie 61 Jahre alt, eine Physikprofessur frei wird, bietet man diese zuerst ihrem Mann an, als dieser ablehnt, nimmt sie die Stelle an. 1778 stirbt sie mit 66 Jahren an einem Herzinfarkt. 

Münzkabinett, staatliche Museen zu Berlin, Silbermedaille von 1732
Münzkabinett, staatliche Museen zu Berlin, Silbermedaille von 1732

Rezeption von Laura Bassi 

Ein Wort noch zur Rezeptionsgeschichte Laura Bassis. Männer, die sich über sie geäußert haben, betonten sehr oft ihre Bescheidenheit. Man fand, dass Laura Bassi selbst gut daran tat, ihre eigenen Fähigkeiten und Leistungen für gering zu erachten, und man lobte sie ausdrücklich dafür. 

In Texten von Frauen über oder an Bassi hingegen, findet sich kein einziges Lob für Bescheidenheit, für häusliche oder charakterliche Tugenden, wie bei den Männern. Vielmehr wird Bassi als «Glorie unseres Geschlechts» gesehen und verehrt, ihre wissenschaftlichen Errungenschaften, ihre Begabungen und ihr Fleiß werden gepriesen. Es zeigt sich, dass sie als Rollenvorbild für andere gelehrte Frauen in Bologna wahrgenommen wurde und dass sich diese auch Jahrzehnte später noch auf sie beriefen. 

Christiana Mariana von Ziegler (1695-1760) eine deutsche Schriftstellerin, die in Leipzig lebte und einen literarischen Salon unterhielt, verfasste anlässlich des Todes von Laura Bassi ein Gedicht. Hier ein Auszug: 

Als die gelehrte Laura Maria Catharina Bassi in Bologna den Doctorhuth erhielt.

(…) 

Denkt nicht, als müste Pallas nur
Vor Männer Ehrenkleider weben.
Meynt ihr, euch hätte die Natur
Das Recht darzu allein gegeben?
Ach weit gefehlt. Wisst ihr denn nicht,
Was Seneca von Weibern spricht?
Der kann euch euren Stolz benehmen.
Befragt nur diesen weisen Greis,
Ob nicht ein Frauenzimmer weis
Die Männer vielmals zu beschämen?

Ja wohl, sie haben nichts voraus:
Was fänden wir denn zu beneiden?
Der Körper nur, das Seelenhaus,
Kann uns von ihnen unterscheiden;
Sagt, wie viel Sinne habet ihr?
Zählt sie nur selbst: Nicht mehr, als wir.
Wohnt Witz in einer Männer Stirne,
So hat auch dieser Satz sein Recht:
Es steckt dem weiblichen Geschlecht
Kein Spinngeweb in dem Gehirne.

(…) 

Quelle: 

Beate Ceranski: Und sie fürchtet sich vor niemandem. Die Physikerin Laura Bassi. Campus-Verlag, 1996
Das Gedicht von Christiana Mariana von Ziegler über Laura Bassi bei zeno.org

Weiterführender Link:

In der Datenbank fembio.org gibit es einen langen Artikel zu Laura Bassi und ihrem Leben 

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Dorothea Christiane Erxleben war im 18. Jahrhundert die erste promovierte Ärztin Deutschlands, setzte sich für die Bildung von Frauen ein und kämpfte gegen Vorurteile an, die schon auf die Griechen zurückgehen.

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An einem schönen Frühsommertag 2019 in Quedlinburg. Bei unserem Streifzug zu Beginn unseres Urlaubs spazieren wir durch das Städtchen mit der jahrtausendealten Geschichte und landen schließlich im Klopstockmuseum. Die Stimmung ist ein wenig gedämpft. Verträumt und träge liegen die Häuser und Gassen im Schatten des Klosterberges, der die Stadt beherrscht. 

Quedlinburg Klopstockhaus (wikimedia). Von Michael Mertens, Darmstadt.

Kämpferin für die Rechte der Frauen

Ein paar Studenten haben die Säule vor dem Museum mit langen Papierstreifen umwickelt, auf denen Gedichte stehen. Eine spielerische Einladung, sich ein Stück Lyrik abzureißen, zu lesen und mitzunehmen. Ich bin sofort verzaubert. Wir treten ein. Der freundliche ältere Herr mit dem feinen Lächeln, der an der winzigen Theke die Besucher empfängt, scheint schon seit Jahrhunderten hier auf uns zu warten. Früher trug er wahrscheinlich ein Barrett, heute ein Jackett. In dieser ein wenig entrückten Stimmung also begegnet mir Dorothea Erxleben zum ersten Mal, denn in dem kleinen Raum gleich links hat man ein Gedenkzimmer für diese berühmte Tochter der Stadt Quedlinburg eingerichtet. Dabei war sie natürlich alles andere als eine Träumerin. Im Gegenteil, sie stand mit beiden Beinen fest im Leben und ließ sich durch nichts von den Zielen, die sie sich für ihr Leben gesteckt hatte, abbringen. Sie war die erste promovierte Ärztin Deutschlands, erfahren wir. Und sie war eine Kämpferin für die Rechte der Frauen. Ihre Streitschrift mit dem Titel «Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studieren abhalten», liegt in einem Reprint aus. 

Meine Neugierde ist geweckt und als wir nach interessanten Frauen für unseren Podcast Ausschau halten, fällt mir natürlich Dorothea Erxleben als Erstes wieder ein. In der Unibibliothek besorge ich mir einen Nachdruck ihrer im altertümlichen Deutsch des 18. Jahrhunderts verfassten Streitschrift. Es ist die einzige ihrer Art in Deutschland in der damaligen Zeit. Ein Aufruf, Frauen die gleiche Erziehung zukommen zu lassen wie Männern. 250 Seiten schreibt sie, nach 410 Paragrafen geordnet, und setzt sich mit Fragen auseinander wie 

  • Ob Weyber Menschen seyn
  • Dass die Vernunft der Weyber nur eine halbe Vernunft sey
  • Gelehrsamkeit schicke sich nicht für dieses Geschlecht, da dasselbe keinen Nutzen davon zu erwarten habe.

Sie ist 22 Jahre alt, als sie diese Schrift verfasst, und es ist ihr Vater, der vier Jahre später dafür sorgt, dass sie publiziert wird. Eine bemerkenswerte Familie, denn Dorothea Christina Leporin, so ihr Mädchenname, kämpft gegen Vorurteile an, die schon auf die Griechen zurückgehen. Aristoteles zum Beispiel begriff «Mann und Frau» als ein kosmologisches Prinzip, ebenso wie die vier Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde. Männer galten als heiß und trocken, Frauen als feucht und kalt – Frauen galten als minderwertiger wegen der geringeren Hitze des weiblichen Körpers. Eine Auffassung die bis Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschte und nicht wirklich herausgefordert wurde. Nur der Mann ist demnach die aktive Kraft, er legt den Samen in die passive Frau. (Die weibliche Eizelle wurde erst 1827 entdeckt!) 

Geburtshaus von Dorothea Erxleben, Foto: Christian Bickel. Wikimedia

Seit dem Mittelalter wurde diese Auffassung von den christlichen Scholastikern gelehrt. Und die Diffamierung der Frauen durch die katholische Kirche fand auch auf andere Art und Weise ihre Fortsetzung. Jahrhunderte lang wurde die Minderwertigkeit der Frau beispielsweise damit erklärt, dass Eva aus der Rippe des Adams gemacht und folglich ihm untergeordnet sei. Diese Auffassung wurde dann allerdings irgendwann auch theologisch herausgefordert, beispielsweise von dem Humanisten Heinrich Cornelius von Nettersheim (1529), der Eva als Gottes Meisterstück bezeichnet hat, weil er sie als Letztes erschaffen habe. 

Doch all diese Diskussionen änderten nichts an der sozialen und gesellschaftlichen Rolle der Frau, in der auch Dorothea sich wiederfand und mit der sie zurechtkommen musste. Nicht nur das, sie hat sie akzeptiert. Nur die Unwissenheit der Frau akzeptierte sie nicht. 

Ihre außergewöhnliche Streitschrift adressiert sowohl Männer als auch Frauen. Gegenüber den Männern gibt sie sich bescheiden. Kein Wunder, denn das ist die einzige Möglichkeit, gehört zu werden. Gegenüber den Frauen ist sie direkter, sie fordert die Frauen dazu auf, sich nicht hinter falschen Entschuldigungen zu verstecken, und dazu zählt sie fehlendes Selbstvertrauen, Angst für stolz gehalten zu werden oder auch die Angst vor Anstrengung.  Sie sieht zwar ein, dass Frauen, welche einen Haushalt zu führen haben, unter Umständen nicht die Energie haben, sich zu bilden. Doch Frauen, die durch ihren sozialen Status privilegiert seien, hätten diese Ausrede nicht, für sie bestehe kein Grund, ein Leben in Ignoranz zu führen. Solche Frauen sollten sich ihrer Meinung nach selbst weiterbilden. Dorothea weist außerdem die traditionelle Auffassung zurück, dass Frauen mehr als Männer ihren Emotionen ausgeliefert seien und den körperlichen Bedürfnissen unterliegen – sie sagt, dass wenn man bedenkt, was Frauen Tag für Tag leisten müssen, doch viel dafür spricht, dass sie durchaus leistungsfähig sind und durchaus ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten vermögen. Einen Haushalt zu führen und Kinder zu erziehen seien schließlich anspruchsvolle Tätigkeiten. 

Es geht ihr dabei nicht um eine gesellschaftliche oder soziale Revolution. Sie argumentiert vielmehr, dass Frauen, die ihren Intellekt benutzen, um sich zu bilden, ihre täglichen Pflichten besser erfüllen und wahrnehmen können. Sie könnten ihr Leben besser und effektiver planen und in die Hand nehmen. Sie können auch der Gesellschaft besser dienen. 

Ihr Leben zeigt, dass sie harte Arbeit nicht scheute. Ihre Pläne, in Halle zu studieren, muss sie aufgeben, als sie einen Witwer mit fünf Kindern heiratet. Doch das medizinische Handwerk und das theoretische Wissen dazu hatte sie zuvor schon von ihrem Vater gelernt. Sie hört nicht auf zu praktizieren. Ihre Patienten lieben sie und die anderen Ärzte in Quedlinburg fürchten ihre Konkurrenz. Sie macht sich einen Namen, erwirbt sich einen guten Ruf, und auch die Doktorwürde wird ihr nicht verwehrt, wenn sie ihr Ziel auch erst Jahre später erreicht. Wie sie das geschafft hat? Im Podcast erzählen wir die außergewöhnliche Geschichte dieser außergewöhnlichen Frau. 

Quellen:

Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten. Dorothea Christina Leporin, mit einem Nachwort von Gerda Rechenberg. Hildesheim : Georg Olms, 1975, Nachdruck Originalausgabe: Berlin, Johann Andreas Rüdiger, 1742
Renate Feyl. Der lautlose Aufbruch. Frauen in der Wissenschaft. Diana Verlag.
Ausstellung im Klopstockhaus Quedlinburg

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Maria Sibylla Merian war Malerin und Insektenforscherin – in einer Zeit, in der Frauen in den Wissenschaften nichts zu suchen hatten und Insekten als Teufelsbrut galten.

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Ihr Nachname ist bekannt: Maria Sibyllas Vater war Matthäus Merian der Ältere (1593–1650), Schweizer Kupferstecher und Verleger, der bis heute für seine Städteansichten, Landkarten und Chroniken bekannt ist. Das Haus Merian war einer der größten europäischen Verlage, ansässig in Frankfurt am Main, das auch damals schon als Zentrum des Buch- und Verlagswesens galt. Sogar zweimal jährlich fand eine geschäftige Buchmesse statt.

Matthäus Merian der Ältere

Kindheit mit Puffärmelchen

Maria Sibylla wird am 2. April 1647 geboren. Der Dreißigjährige Krieg neigt sich doch endlich dem Ende zu. Die Hälfte der Bevölkerung ist tot, Seuchen toben durch Deutschland, die Überlebenden hungern. Angeblich kommt es sogar zu Fällen von Kannibalismus. Menschen strömen in die Städte in der Hoffnung auf Arbeit. Gleichzeitig breitet sich der Pietismus aus, eine mystisch-erbauliche, schwärmerische Strömung, die auf Verinnerlichung setzt und das Urchristentum wiederherstellen möchte.

Seit 1645 ist Johanna Sibylla Heim die zweite Frau des Matthäus Merian. Sie gilt als tugendsam, fromm und in Gelddingen kompetent. Maria Sibylla hat ältere Halbgeschwister, unter anderem Matthäus den Jüngeren (1621 geboren) und Caspar (1627), die nach dem Tod des Vaters den Verlag weiterführen. Matthäus der Ältere stirbt nämlich schon, als Maria Sibylla erst drei Jahre alt ist. Kurz zuvor soll er ausgerufen haben: Bin ich schon nicht mehr da, so wird man doch sagen: Das ist Merians Tochter. Eine schöne – und wahre – Prophezeiung.

Sie gilt als sein Lieblingskind, und einem von Matthäus dem Jüngeren gemalten Familienporträt wird sie nachträglich hinzugefügt – anders als die griechisch gewandete Familie jedoch im zeitgenössischen Kleid mit Puffärmelchen. In den Armen hält sie den riesigen Kopf einer Laokoon-Statue aus dem Louvre, die aber angeblich nichts weiter zu bedeuten hat, als dass der Maler sagen wollte: Schaut her, ich war in Paris.

Matthäus Merian d. J.: Familie des Künstlers

Laut Matthäus dem Jüngeren ist Johanna eine „Stiefmutter wie sie im Buche steht“. Mit einem Blick auf seine Autobiografie lässt sich allerdings auch sagen, dass er nicht unbedingt der netteste aller Stiefsöhne war … Sie werden streng religiös erzogen, Arbeit gilt als die höchste Tugend, und somit hat Johanna wohl auch einfach keine Zeit, ihre Kinder zu verhätscheln.

Ein neuer Stiefvater und eine unwiderstehliche Tulpe

Nach dem Tod ihres Mannes bekommt sie von ihrem Stiefsohn widerwillig ein kleines Erbe ausbezahlt und zieht mit Maria Sibylla ins Stadtzentrum von Frankfurt, wo sie ein kleines Haus mietet. 1651 heiratet sie Jacob Morell (ein Mann mit vielen Schreibweisen), einen Blumenmaler mit Kontakten in die Niederlande,  wo gerade die Tulpenmanie wütet. Er richtet im Haus eine Werkstatt ein, die die kleine Maria Sibylla immer wieder anzieht. Selten geht sie ihren Bruder Caspar in der Druckerei des Verlages besuchen, ansonsten sind die Kontakte zur Familie Merian kaum noch vorhanden.

Sie geht in die Schule – nicht selbstverständlich für Mädchen zu dieser Zeit, lernt Rechnen, Schreiben, Lesen, aber kein Latein, das für ihr frühes Interesse an den Naturwissenschaften eigentlich unabdingbar gewesen wäre. Denn Insekten haben es ihr angetan. Sie will sie allerdings nicht nur tot oder in Büchern studieren, sondern in der lebendigen Natur.

Dafür richtet sie sich heimlich auf dem Dachboden eine kleine Forschungsstation her, mit Dosen, Schachteln und Gläsern voller krabbelnder, kreuchender, fleuchender Insekten. Ob das wirklich so war? Das Haus war winzig, die Türen standen immer offen, Menschen gingen ein und aus. Wahrscheinlich hätte sie so etwas vor ihrer Mutter nicht geheim halten können. Und dann ist da noch die Anekdote mit dem Tulpenklau: Ein reicher Nachbar hat viel Geld ausgegeben und sich im Garten Tulpen angepflanzt. Maria Sibylla pflückt sich eine der Blumen (je nach Quelle auch das gesamte Beet), um sie zu malen. Als der Nachbar es herausfindet, gibt es ein großes Donnerwetter. Maria Sibylla gesteht, dass sie unbedingt die wunderschönen Blüten malen wollte. Ungläubig lässt der Nachbar sich das Aquarell zeigen – und ist so begeistert von Maria Sibyllas Talent, dass er ihr nicht mehr böse sein kann.

Ausbildung zur Kupferstecherin – es bleibt in der Familie

Nun erhält sie auch einen eigenen Arbeitsplatz in der Werkstatt des Stiefvaters. Damals ist es gar nicht unüblich, dass die Frauen der Handwerkerfamilien mitarbeiten. Da Jacob Morell viel verreist, wird ihr der achtzehnjährige Abraham Mignon als Lehrer zugewiesen. Er bringt ihr bei, wie sie Aquarellfarben herstellt, welche Maltechniken es gibt, wie Kupferstiche entstehen, wie sie Gemälde komponiert.

Mit einem eisernen Grabstichel, befestigt an einem hölzernen Griff, vorne spitz, ritzt er feine Linien in die große, polierte Kupferplatte, die vor ihm schräg auf einem Pult liegt. Immer wieder vergleicht er mit der gezeichneten Vorlage. Für breitere Linien oder Flächen nimmt er ein vorne breiteres, rundes oder flaches Werkzeug. Mit einem Schaber entfernt er die kleinen, aufgeworfenen Kupferspäne entlang der Linien. Die so hergestellten Vertiefungen der Platte sollen später, beim Druck, die schwarze Farbe aufnehmen. Je tiefer die Linie, so erklärt er ihr, desto dunkler erscheint sie auf dem Papier. Hellere oder dunklere Schattierungen erreicht er durch engeren oder weiteren Abstand der Linien.

Helmut Kaiser, Maria Sibylla Merian: eine Biographie, S. 39.

Inzwischen geht es der Gesellschaft besser. Nach dem langen Krieg können die Menschen sich endlich wieder etwas gönnen. Seide gehört zu den größten Luxusartikeln, und ihre Herstellung ist in Europa noch gar nicht allzu lang bekannt. Mit dreizehn Jahren bekommt Maria Sibylla deshalb von einem Bekannten Seidenraupen geschenkt. Ihre Leidenschaft ist endgültig geweckt. Allerdings nicht für das Luxusgut Seide, sondern für die Entwicklung der Insekten, vom Ei über die Raupe und den Kokon bis hin zum wunderschönen Falter.

Sie beginnt mit einer wissenschaftlich fundierten, systematischen Erforschung der Insekten, findet heraus, welche Futterpflanzen sie brauchen, wie lange sich welche Art verpuppt und dass aus hübschen Raupen nicht immer unbedingt die hübschesten Schmetterlinge entstehen. Fast ein ganzes Jahrhundert vor Carl von Linné notiert sie ihre Beobachtungen und nimmt zum Beispiel bereits die Einordnung in Tag- und Nachtfalter vor.

Sommervögelein und Mottenvögelein

Ihre geliebten Schmetterlinge nennt sie Sommervögelein, die Nachtfalter Mottenvögelein. Damals hießen diese Tiere meist noch Butterfliegen (im Englischen heute noch butterflies) – das Wort Schmetterling hat denselben Ursprung wie das Wort Schmand, denn damals glaubt man, dass Hexen sich gern in Schmetterlinge verwandeln und die Milch ranzig machen … Die schlimmste Zeit der Hexenverfolgung ist zwar zu Maria Sibyllas Zeiten schon vorbei, aber leicht hat es ihr der Aberglaube bestimmt nicht gemacht. Zudem meint man auch, dass Insekten generell aus Morast und Exkrementen entstehen und somit reine Teufelsbrut sind. (Es wurden sogar einige Insekten vor Gericht verurteilt, damit sie bestraft und ihnen der Teufel ausgetrieben werden konnte.)

Von ihrer speziellen Insektenleidenschaft aber einmal abgesehen, ist das Sammeln von Pflanzen usw. eigentlich gar nicht so schlecht angesehen, genauso wie das Beobachten der Sterne. Weiberarbeit, von Rousseau empfohlen, damit die Frauen nicht stattdessen auf schlimmere Gedanken kommen. (Seltsam, oder? Ist nicht gerade die Natur voll von Schweinereien und Sex?)

Mutter Johanna ist nicht besonders begeistert, aber der Stiefvater unterstützt sie. Außerdem ist da noch die Sache, dass Johanna sich vielleicht selbst die Schuld gibt an der seltsamen Leidenschaft ihrer seltsamen Tochter. Beim sogenannten Versehen geschieht es nämlich, dass eine Frau, die sich, während sie schwanger ist, zum Beispiel vor einem Hasen erschrickt, ein Kind mit Hasenscharte zur Welt bringt. Und Johanna hat während ihrer Schwangerschaft eine alte Truhe geöffnet, in die sich jede Menge Insekten verkrochen hatten. Darüber ist sie so erschrocken, dass die ungeborene Maria Sibylla vielleicht Schaden genommen hat …

Maria Sibylla muss ein introvertiertes Kind gewesen sein, das viel Zeit allein verbringt. Ihr Halbbruder Caspar ist viel unterwegs, Morell und Mignon genauso.

Maria Sibylla heiratet und wird von der Merianin zur Gräffin

Im Jahr 1665 ist sie achtzehn. Ein ehemaliger Schüler ihres Stiefvaters kehrt aus Italien zurück, wo er sich zum Architekturmaler hat ausbilden lassen. Andreas Graff kommt ursprünglich aus Nürnberg und ist zehn Jahre älter als Maria Sibylla.

Noch im gleichen Jahr heiraten sie. Es scheint für beide Seiten eine willkommene Ehe zu sein: Maria Sibylla darf weiter forschen und malen, er hingegen ist wohl ein bisschen faul und undiszipliniert und kann sich an ihrer Selbstständigkeit und ihrem Selbstbewusstsein festhalten. Außerdem hofft er vielleicht, dass ihm die Kontakte zum Verlagshaus Merian helfen. Die ja aber leider kaum vorhanden sind.

Im Jahr 1668 kommt die erste Tochter zur Welt, Johanna Helena. Zwei Jahre später ziehen sie nach Nürnberg, mit 25.000 Einwohnern eine enge Stadt, deren goldene Zeiten mit Dürer usw. jedoch vorbei sind. Hier wird Maria Sibylla aktiv: Sie eröffnet eine Stick- und Malschule für junge Patrizierinnen und Töchter aus Künstlerfamilien und nennt sie die Jungfern-Company. Sie zieht einen Farbenhandel hoch, verkauft Stickvorlagen und bemalte Stoffe (zum Beispiel Tischdecken). Außerdem gibt sie ihr erstes Blumenbuch heraus, bei der ihr laut Danksagung ihr „Eheliebster“ geholfen hat. Im Jahr 1678 wird die zweite Tochter geboren, Dorothea Maria, ganze zehn Jahre nach der ersten. Es bleibt bei zwei Kindern – für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich.

Die erste Veröffentlichung

Ihr erstes kleines Wunderwerk ist das Buch Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung, ganz elegant mit Ganzledereinband und Goldschnitt – und dem Hinweis „Tochter des M. Merian“. Je nach Geldbeutel kann es unkoloriert, teilkoloriert oder koloriert bestellt werden. Obwohl sie inzwischen Latein gelernt hat, entscheidet sie sich für eine Veröffentlichung auf Deutsch, damit alle es lesen können. Das Besondere bereits an ihrem Werk ist die Darstellung ökologischer Zusammenhänge und der Metamorphose der Insekten. Maria Sibylla denkt holistisch.

Als 1681 der Stiefvater stirbt, kehrt die Familie nach Frankfurt zurück. Maria Sibylla kümmert sich um ihre alternde Mutter, geht aber auch den gleichen Unternehmungen nach wie in Nürnberg. Vier Jahre später trennt sich das Ehepaar, und Andreas Graff zieht allein nach Nürnberg zurück. Sie bittet jedoch in einem Brief eine Freundin, sich um ihn zu kümmert, scheint ihm also trotz der Trennung noch wohlgesonnen.

Dann kehrt Maria Sibylla auch Frankfurt den Rücken. Sie zieht mit ihrer Mutter und ihren Töchtern nach Schloss Waltha in den Niederlanden (Westfriesland). Dort lebt bereits ihr Halbbruder Caspar in einer Labadisten-Gemeinde. Die Niederlande sind ein stark bevölkertes und im Vergleich zu Deutschland religiös sehr freies Land.

Living la vida Labadista

Der Franzose Jean de Labadie (1610–1674) war Pietist, predigte gegen Üppigkeit und Unsitten, gegen Tanz, Glücksspiel und luxuriöse Kleidung, gegen Besitz allgemein. Er wurde als eine Art zweiter Calvin bezeichnet. Dabei gab er jedoch immer nur Ratschläge und empfahl meditative Übungen – Dogmen verbreitete er nicht. Maria Sibylla ist zwischen solchen Strömungen aufgewachsen, sodass diese Hinwendung nicht aus dem Nichts kommt.

Schloss Waltha gehört Cornelis von Aerssen von Sommeldijk, dem Gouverneur von Surinam. Zur Orientierung: Surinam liegt in Südamerika, nördlich von Brasilien und ist etwa halb so groß wie Deutschland heute. Die Niederlande haben es gegen Neu-Amsterdam (das heutige New York) eingetauscht und wegen des Reichtums an Zuckerrohr kolonisiert. Der Familie von Sommeldijk gehört zeitweise ein Drittel des ganzen Landes. Drei von Cornelis’ Schwestern leben ebenfalls in der Sekte. Insgesamt sind es rund 350 Leute, als Maria Sibylla dort ankommt. Nachfolger von Labadie ist der weniger beliebte Pierre Yvon.

Maria Sibylla ordnet sich der Gemeinschaft jedoch auch hier nicht ganz unter – genauso, wie sie schon ihr Leben lang nicht allen Konventionen getrotzt oder offen dagegen rebelliert hat und trotzdem immer ihren eigenen Weg verfolgt hat. Sie lernt weiter (auch Holländisch), gibt ihren Töchtern eine gründliche künstlerische Ausbildung und erstellt ein Studienbuch mit Vorlagen für ihre späteren Werke.

Vier Jahre später stirbt Caspar. Prompt kommt Andreas Graff angereist, der Maria Sibylla bittet, doch wieder mit ihm zu kommen. Aber sie sagt Nein, ihre Töchter ebenso. Unverrichteter Dinge reist Graff wieder ab. Offiziell geschieden wird die Ehe jedoch erst sechs Jahre später, als er eine andere Frau heiraten möchte.

Aus dem Kokon hinaus in die Welt

Maria Sibyllas Zeit der Verpuppung (dieses Bild bietet sich einfach an …) endet 1690, als ihre Mutter stirbt und der Gouverneur von Sommeldijk in Surinam gewaltsam getötet wird. Die Zukunft des Schlosses ist ungewiss, und die Gemeinschaft löst sich wegen Uneinigkeit und Geldnöten auf.

Sie zieht, inzwischen 44 Jahre alt, mit ihren Töchtern nach Amsterdam. Mit 200.000 Einwohnern ist Amsterdam eine wohlhabende Hafen- und Handelsstadt, international durch zahlreiche Geflüchtete. Maria Sibylla kommt erneut in Schwung, richtet ihren Farbenhandel wieder ein und arbeitet auf Auftrag. Sie knüpft Kontakte, unter anderem zum Bürgermeister und dem Leiter des Botanischen Gartens.

Johanna Helena heiratet den Kaufmann Jacob Hendrik Herolt, der ebenfalls mit Surinam Geschäfte macht. Als sie von einer Reise dorthin zurückkehren, ist Maria Sibylla von den Schilderungen ihrer Tochter so begeistert, dass sie ebenfalls entschließt, die Überfahrt zu wagen. Sie braucht jedoch finanzielle Unterstützung, und das dauert. Patiencya ist ein gut Kräutlein, sagt sie sich.

Über den Atlantik: Maria Sibyllas Reise nach Surinam

Erst im Juni 1699 ist es soweit. Sie ist 52 Jahre alt. Sie macht ihr Testament, packt ihre 21-jährige Tochter Dorothea Maria ein und sticht in See. Wir befinden uns noch hundert Jahre vor Alexander von Humboldt und seiner Tour de Force durch Südamerika. Drei Monate lang sind die Frauen auf See. In der surinamischen Hauptstadt Paramaribo mieten sie ein Holzhäuschen mit Garten und machen sich jeden Tag in den frühen Morgenstunden auf in den Urwald.

Begleitet werden sie von ihren Sklaven. Zwar spricht Maria Sibylla sich vehement gegen die Sklaverei und die furchtbare Behandlung der Einheimischen und aus Afrika Verschleppten aus und irritiert damit die übrigen Siedler, aber sie nimmt sie offenbar doch zu Hilfe, um nicht vom Dschungel verschlungen zu werden. Wespen und Mücken stören bei der Arbeit, obwohl doch alles viel schneller gehen muss als zu Hause. Denn die gesammelten Tiere und Pflanzen verschimmeln oder vertrocknen sofort oder werden von anderen Viechern aufgefressen. Die Durchschnittstemperatur liegt bei 28 Grad. Wahrscheinlich ist es gut, dass Maria Sibylla schon so viel Erfahrung mit dieser Arbeit hat – alle anderen wären von der Artenvielfalt und der guten Tarnfähigkeit der Insekten vermutlich überwältigt gewesen. Einmal fahren sie auf dem Fluss etwa 65 Kilometer flussaufwärts zur dortigen Labadistenkolonie.

Allzu lange bleiben die beiden Frauen nicht in Surinam. Maria Sibylla wird krank – Gelbfieber, Malaria oder Ruhr – und muss abreisen. Sie ist nicht das einzige Opfer:

150 Jahre später, selbst unter verbesserten hygienischen Verhältnissen, gibt Schomburgk noch folgende Zahlen: Von 400 Deutschen, die 1839 angekommen waren, lebten 1844 noch 20. Von 10.000 Portugiesen waren bei seiner Abreise noch 3000 am Leben.

Helmut Kaiser, Maria Sibylla Merian: eine Biographie, S. 39.

Im September 1701 sind sie zurück in Amsterdam. Dorothea Maria heiratet, und Maria Sibylla erkennt, dass sie schon wieder Geld braucht. Sie malt auf Auftrag und bietet Teile ihrer einheimischen und surinamischen Insektensammlung zum Kauf an. Gleichzeitig erhält sie jedoch die Möglichkeit, ihre Ausstellung im Rathaus zu zeigen.

Metamorphosis Insectorum Surinamensium

Und sie fängt mit ihrem Hauptwerk an: Metamorphosis Insectorum Surinamensium. Dafür malt sie 60 Aquarelle im Folioformat, die als Vorlage für 60 Kupferstiche dienen. Beim Stechen helfen ihr aus Zeitgründen drei Künstler. Die erklärenden Texte verfasst sie selbst und entscheidet sich für eine lateinische und eine holländische Version. Wegen der hohen Kosten setzt sie auf Subskription: 15 Gulden soll die unkolorierte, 45 Gulden die kolorierte Version kosten. (Ein ganzer Batzen, denn für 12 Gulden erhält man laut Kaiser bereits zwei geschlachtete Kälber.) Dieses Mal braucht es keinen Hinweis auf den alten Merian mehr und auch der „Eheliebste“ wird nicht mehr erwähnt. Maria Sibylla ist eine eigenständige, selbstbewusste Künstlerin und Wissenschaftlerin.

Das Buch enthält neben den Zeichnungen der Insekten und ihrer Futterpflanzen auch Speisezubereitungen, Kultivierungsempfehlungen für tropische Pflanzen und Informationen zu ihrer Heilwirkung. Auch für ethnologische Beobachtungen ist Platz. Dabei bewertet sie niemals die Kultur der Eingeborenen, kritisiert aber umso stärker die Siedler und Kolonisten, die nur an den verdammten Zucker denken und die Einheimischen misshandeln, statt zum Beispiel Vanille und Weintrauben anzubauen. Sie berichtet, dass die Sklavinnen eine Pflanze kennen, mit der sie ihre ungeborenen Kinder abtreiben, weil sie der Überzeugung sind, dass die Babys so in Afrika wiedergeboren werden und dem elenden Leben in Surinam entgehen.

Sie wird mit ihrem Buch leider nicht reich, auch weil sie bei Arbeit und Material keine Kosten und Mühen scheut. Aus einer deutschen Version wird nichts, und auch die angedachte englische Übersetzung muss sie sich aus dem Kopf schlagen, obwohl sie so gern der Queen ein unterzeichnetes Exemplar zukommen lassen würde, so von Frau zu Frau.

Das Erbe der Merian

Im Jahr 1715 erleidet Maria Sibylla einen Schlaganfall, und zwei Jahre später stirbt sie mit siebzig Jahren. Ihr Grab ist nicht erhalten, aber ihre Werke werden in Amsterdam, im British Museum, in Basel und in Sankt Petersburg gut gehütet. Dort soll übrigens auch Vladimir Nabokov darauf gestoßen sein, was zu seiner Leidenschaft für das Schmetterlingssammeln geführt haben soll.

Nach ihrem Tod wurde sie häufig kritisiert und als unwissenschaftlich bezeichnet. Teilweise mag das stimmen – es gibt in ihrem Werk zum Beispiel die Zeichnung eines Insekts, dessen Kopf und Rumpf nicht zusammenpassen – angeblich hatte da ein Helfer den Schalk im Nacken.

Dennoch muss man unbedingt anerkennen, dass sie eine, wenn nicht gar die Vorreiterin der Insektenkunde war, was Linné und Kolleg*innen auch dadurch anerkannt haben, dass inzwischen sechs Pflanzen, neun Schmetterlinge und zwei Wanzen nach ihr benannt sind. Ihre Unabhängigkeit, ihre Neugier und ihr verblüffend wissenschaftliches Denken, für das sie überhaupt kein Vorbild gehabt hat, machen Maria Sibylla Merian zu einer beeindruckenden Frau des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts.

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Quellen:
Helmut Kaiser: Maria Sibylla Merian: eine Biographie. Artemis und Winkler, Düsseldorf/Zürich 1997.
Charlotte Kerner: Seidenraupe, Dschungelblüte: Die Lebensgeschichte der Maria Sibylla Merian. Beltz & Gelberg, Weinheim/Basel 1988.

Lesehinweise:
Wer sich „der Merianin“ lieber belletristisch nähern will, wird auch fündig: Utta Keppler schreibt über Die Falterfrau Maria Sibylla Merian, Inez van Dullemen über Die Blumenkönigin (Übersetzung: Marianne Holberg) und Nicole Steyer über den Fluch der Sommervögel.

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