Mathilde Franziska Anneke war eine bedeutende Revolutionärin und Sozialunternehmerin des 19. Jahrhunderts. In Deutschland stritt sie für Demokratie und Frauenrechte, gründete eine Frauenzeitung und wurde später in den USA zu einer bekannten und beliebten Rednerin, die die amerikanische Frauenrechtsbewegung inspirierte und beeinflusste. Ihre Schule für Mädchen verfolgte das Ziel, Mädchen und junge Frauen jenseits von Kinder, Küche und Kirche zur Selbstständigkeit zu erziehen.   

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Kindheit und Jugend

Mathilde ist das älteste von zwölf Geschwistern und wächst wohl behütet auf. Ihr Vater Karl Giesler ist wohlhabend und angesehen, ein Bergwerksbesitzer und Ratsherr, und ihr Pate ist der berühmte preußische Reformer Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, den die Familie häufig besucht. Mathilde erfährt die typische Mädchenbildung der damaligen Zeit, zeichnet, malt, spielt Klavier, lernt aber auch die Grundzüge der Naturwissenschaften. 1835 verliert ihr Vater durch eine Fehlspekulation in eine pferdebetriebene Eisenbahn sein Vermögen, woraufhin Mathilde einen wohlhabenden Weinhändler heiratet, Alfred von Tabouillot, der hilft, die Finanzen des Vaters zu sanieren.

Mathilde Franziska Anneke im Alter von etwa 23 Jahren (Der Märker, Heimatblatt, Mai 1860)

Unglückliche Ehe und Scheidung

Auf eine glückliche Kindheit folgt eine sehr unglückliche Ehe. Der Ehemann entpuppt sich als gewalttätiger Trinker. Ein Jahr nach der Hochzeit und kurz nach Geburt ihrer Tochter Johanna, genannt Fanny, verlässt sie ihren Mann im Jahr 1837 und reicht ein Scheidungsgesuch ein, wodurch sie ihr Ansehen und ihre soziale Stellung verliert. Der jahrelange Scheidungsprozess führt ihr deutlich vor Augen, wie ungerecht die Gesetzgebung Frauen gegenüber ist, so muss sie sich mühsam eine geringe Unterhaltssumme erkämpfen. 1843 wird sie schuldig geschieden, darf aber die Tochter behalten. Sie nennt sich fortan: „Verheiratet gewesene von Tabouillot, geborene Giesler“.

Berufstätigkeit als Autorin

Als alleinstehende Frau ernährt Mathilde Franziska sich und ihre Tochter mit Schreiben. Sie publiziert beispielsweise in Frauenalmanachen oder in Zeitschriften wie der Gartenlaube, schreibt aber auch für die Kölnische Zeitung, die Augsburger Allgemeine, die Düsseldorfer Zeitung und die Mannheimer Abendzeitung. Außerdem schreibt sie Novellen und übersetzt englische Texte ins Deutsche. Ihre frühen Texte sind typisch Biedermeier. Zur Religion hat sie ein ambivalentes Verhältnis, der Glaube an Gott spendet ihr Trost, sie ist aber auch der Meinung, dass der katholische Glaube Frauen zu sehr zur Unterordnung zwingt. 

1846 schreibt sie ein Werk, dass erstmals ihren leidenschaftlichen Einsatz für Frauenrechte zum Ausdruck bringt, „Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen“. Es handelt sich um eine Verteidigungsrede für ihre Mitstreiterin Louise Aston, die genau wie sie selbst gezwungen war, einen reichen Mann zu heiraten und nach der Scheidung ihren Ruf verlor. Vor allem aber ist es eine Abrechnung mit Staat, Kirche und Gesellschaft. Mathilde Franziska Anneke bringt zum Ausdruck, dass es der kirchliche Dogmatismus ist, der das männliche Machtmonopol verewigt und polemisiert gegen die Unterdrückungsmechanismen der christlichen Religion in Verbindung mit den staatlichen Gesetzen. Die Publikation, 1847 in einer kleinen Auflage erschienen, macht sie national bekannt. 

Die Neue Kölnische Zeitung und die Frauen-Zeitung

1837 war sie mit ihrer Tochter nach Wesel gezogen und 1839 nach Münster. Sie diskutiert mit im Demokratischen Verein und lernt dort neben Karl Marx oder Ferdinand Freiligrath auch ihren zweiten Ehemann kennen, Captain Friedrich Anneke, einen ehemaligen preußischen Offizier, der wegen seiner sozialistischen Gesinnung aus dem Dienst entlassen worden war. 

Das Ehepaar heiratet 1847. Sie siedeln nach Köln über und gründen dort einen Club, aus dem später der Kölner Arbeiterverein hervorgeht, die bis dahin größte deutsche Arbeiterorganisation. Die Annekes wollten nun selbst eine Zeitung herausgeben, die Neue Kölnische Zeitung unter dem Motto „Wohlstand, Bildung und Freiheit für alle“.  

Im Juli 1848 gibt Fritz Anneke eine Rede vor tausenden Zuhörern und wird ins Gefängnis geworfen, sodass die Redaktion jetzt allein in Mathildes Händen ruht. Obwohl sie im selben Monat, in dem Fritz ins Gefängnis kommt, ihren Sohn Fritz zur Welt bringt, schafft Mathilde es, die erste Ausgabe auf einer eigens angeschafften Druckerpresse fertigzustellen und herauszubringen. Die Behörden schreiten sofort ein, die Zeitung wird verboten und Mathilde gründet daraufhin die Frauen-Zeitung, die erste deutsche Zeitung mit politischen und gesellschaftlichen Nachrichten speziell für Frauen. Es geht darin beispielsweise um Themen wie Erziehung oder den Einfluss von Schulen. Nach zwei Ausgaben muss sie auch diese Zeitung wieder einstellen. 

Mathilde Franziska Anneke im badisch-pfälzischen Krieg

Im Dezember 1848 wird ihr Mann aus der Haft entlassen. Als es im Frühjahr in der Pfalz zur letzten revolutionären Erhebung kommt, schließen sich die Annekes der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee an, das heißt Fritz als Offizier und Mathilde, die eine sehr gute Reiterin ist, assistiert ihrem Mann als eine Art Ordonnanzoffizierin. In der Armee befinden sich Bildungsbürger wie die Annekes aber auch Arbeiter. Carl Schurz, der später in den USA Innenminister wurde, ist Annekes Adjudant. 

Im Juli 1849 wird der Aufstand endgültig niedergeschlagen, die Annekes fliehen zunächst mit den beiden Kindern nach Frankreich, dann in die Schweiz und von dort in die USA nach Milwaukee, wo Fritz Anneke sich als Autor und Publizist durchzuschlagen versucht. 

Die ersten Jahre im Exil in den USA

Mathilde Franziska Anneke wiederum besinnt sich ebenfalls auf etwas, das sie gut kann, nämlich Reden und Vorträge halten. Sie spricht auf Deutsch und auf Englisch über Themen wie Revolution in Deutschland, Frauenrechte aber auch Literatur und übersetzt die Schriften der amerikanischen Frauenrechtlerinnen Susan B. Anthony und Elizabeth Cady Stenton ins Deutsche. 70 Prozent der Bevölkerung in Milwaukee spricht deutsch, die Stadt gilt als das kulturelle Zentrum alles Deutschen. Es gibt deutsche Vereine, Chöre, Theater, Kirchen, Brauereien, Bäckereien und eben auch Zeitungen und Vorträge. Im August 1850 wird ihr drittes Kind geboren, Percy Shelley, benannt nach dem Ehemann von Mary Shelly, Autorin des berühmten Romans Frankenstein.

Deutsche Frauen-Zeitung in den USA

1852 gründet sie die feministische Zeitung „Deutsche Frauen-Zeitung“, wobei ihr ein befreundeter Verleger hilft, denn sie hat kein Geld für Investitionen. Sie darf erste Ausgabe und die nächsten in den Räumlichkeiten der führenden Zeitung von Wisconsin, dem Wisconsin Banner, drucken, wo Frauen Seite an Seite mit Männern arbeiten. Auch die älteste Tochter Fanny, mittlerweile verheiratete Fanny Stoerger, ist mit dabei. In der Zeitung wird die Gleichstellung von Frauen gefordert, es geht beispielsweise um gleiche Berufschancen oder Bildung von Männern und Frauen. 

Deutsche Frauen-Zeitung. Central-Organ der Vereine zur Verbesserung der Lage der Frauen. Redigiert von Mathilde Franziska Anneke, geb. Gießler. New York, 18. Oktober 1852

Doch den Druckern sind die in der Zeitung geäußerten Meinungen und Forderungen der Frauen zu progressiv. Sie fürchten um ihre Arbeitsplätze und reichen eine Petition ein, die zum Ziel hat, das Beschäftigen von Frauen zu verbieten. Die Petition hat Erfolg. Mathilde will daraufhin eine eigene Druckerei gründen und versucht das Geld dafür mit Vortragsreisen zu verdienen. Sie besucht Städte mit einer großen deutschen Bevölkerung, wie Detroit, Cleveland, Buffalo, New York, Philadelphia oder Pittsburgh. Ihre Vorträge werden häufig von Vereinen gesponsort, etwa Arbeitervereinen, Turnervereinen oder von Freien Gemeinden. 

Übersiedelung nach Newark, New York

Die Annekes verlegen nun ihren Wohnsitz nach New York. Dort gibt Mathilde Franziska Anneke die Zeitung ab Oktober 1852 heraus. Sie erscheint zweimal im Monat und hat etwa 2000 Abonnentinnen und Abonnenten unter anderem in Texas und Brasilien. Ihr Mann Fritz gründet in die Newarker Zeitung, die sich ebenfalls gut verkauft. Von 1852 bis 1858 kann die Familie sich finanzieren, obwohl Mathilde ihre Publikation schon 1855 wieder aufgeben muss. Gründe dafür sind gesundheitliche Probleme, außerdem muss sie sich um die wachsende Familie kümmern. Sie bekommt Zwillinge, Rosa und Irla, die beide sterben, und dann noch einmal Zwillinge, Hertha und Irla. 

Sie hält auch nach der Gründung der Zeitung weiter Vorträge, beispielsweise im September 1853 anlässlich der Suffrage Convention. Suffragetten sind typischerweise weiße Mittelklasse-Frauen, viele sind Abolitionistinnen und Sozialreformerinnen. Während draußen auf der Straße Menschen gegen die Versammlung protestieren, hält Mathilde Franziska Anneke drinnen die letzte Rede der Versammlung. Sie spricht auf Deutsch, wird aber simultan auf Englisch übersetzt. Sie spricht über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Frauen in der alten und der neuen Welt und über das universelle Bedürfnis nach Frauenrechten. 

1858 ereilt die Annekes ein Schicksalsschlag, von dem sich die Ehe nie mehr richtig erholt. Die Kinder Irla und Fritz sterben an den Pocken, obwohl es bereits Impfungen gibt – die freilich riskant sind. Jedenfalls hat Fritz sich dagegen ausgesprochen, die Kinder impfen zu lassen. Sie ziehen zurück nach Milwaukee, wo Mathildes Mutter lebt, zu der sie ein enges Verhältnis hat. Fritz hingegen geht zurück nach Europa. Von da an leben die Annekes nicht mehr zusammen, wenn sie einander auch verbunden bleiben und sich nicht scheiden lassen.  

Mathilde Franziska Anneke in der Schweiz

Die wichtigste Person in Mathildes Leben für die nächsten Jahre wird nun ihre gute Freundin aus Milwaukee Mary H. C. Booth, eine aktive Abolitionistin. 1860 gehen Mathilde und Mary gemeinsam mit ihren Kindern in die Schweiz. Fritz Anneke hält sich ebenfalls dort auf. Zuvor versuchen sie erfolglos, Marys Mann, ebenfalls ein bekannter Abolitionist, aus dem Gefängnis zu befreien, wo er wegen der Vergewaltigung einer Vierzehnjährigen einsitzt. 

Mathilde Franziska Anneke mit Mary Booth
M. F. Anneke (stehend) mit ihrer Freundin Mary Booth

Fritz kehrt in die USA zurück, um im amerikanischen Bürgerkrieg journalistisch tätig zu werden. Mathilde bleibt in der Schweiz und für sie sind diese Jahre sehr fruchtbar. Sie schreibt mehrere Novellen und den Roman „Das Geisterhaus in New York“, publiziert in Zeitschriften wie der Didaskalia. Mathildes Themen sind weiterhin die Rechte der Frauen und mehr und mehr geht es ihr auch um die Befreiung der Sklaven. Die rechtliche Situation von Sklaven und Frauen weist Parallelen auf, weshalb viele Abolitionistinnen auch gleichzeitig Frauenrechtlerinnen sind. Doch Marys Gesundheitszustand verschlechtert sich und die Frauen gehen zurück in die USA, wo die Freundin 1865 stirbt. Mathilde Franziska Anneke kehrt nach Milwaukee zurück. 

Gründung des Milwaukee Töchter Instituts

1865 gründet sie zusammen mit einer anderen Freundin, Caecilie Kapp, in Milwaukee eine Schule, das Milwaukee Töchter Institut, das sehr schnell einen sehr guten Ruf hat. Öffentliche amerikanische Schulen gelten als eher überfüllt, u0nd0 es geht vor allem ums Auswendiglernen. Private Schulen sind wiederum wenig liberal und meistens kirchlich.

Mathilde Annekes Ideal sieht so aus: Eine liberale säkulare Schule, in der bilingual auf Deutsch und Englisch unterrichtet wird und in der die Mädchen zur Selbständigkeit erzogen werden. Die Erziehung ist, so heißt es, ist streng aber liebevoll. Das Schulgeld beträgt 350 Dollar im Jahr. Es gibt 50 Schülerinnen im Alter von 5 bis 17 Jahren. Nach einigen Jahren werden in den untersten Klassen auch Jungs zugelassen und 1865 wird sogar ein Physiklehrer eingestellt. Musik, Zeichnen und Französisch kosten interessanterweise extra und es gibt weder Haushaltsunterricht noch Religion. Auch gibt es keine Reihenbeschulung in den Klassen, sondern man sitzt an großen Tischen im Kreis. Häufig gibt es Exkursionen und man legt Wert auf die praktische Anwendung des Gelernten. 

Second building used by Mathilde Franziska Anneke’s Töchter Institut. Website: Immigrant Entrepreneurship, Courtesy of the Milwaukee County Historical Society, published by German Historical Institute

Eine moderne Mädchenschule

Obwohl die Schule eine gute Reputation genießt, ist es finanziell immer knapp. Man kann davon ausgehen, dass Mathilde Anneke zwar über viel Idealismus, jedoch nicht unbedingt über ein großes finanzielles Geschick verfügt. 1868 wird ein Unterstützungsverein gegründet, Aufführungen wie Musicals oder Theaterstücke bringen zusätzlich etwas Geld in die Kasse. 

1872 stirbt Fritz Anneke, der weiterhin als Journalist tätig gewesen war, nach einem Sturz in Chicago. 1878 hat Mathilde Anneke einen weiteren großen Verlust zu beklagen, als ihre Tochter Fanny stirbt. Mathilde Anneke schreibt weiter für verschiedene Zeitungen und ist nach wie vor eine gefragte Rednerin. Sie verstirbt nach längerer Krankheit im November 1884 und wird unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beerdigt. Ihr Tod wird in mehreren Zeitungen gewürdigt.

Nachruf

In den USA gilt Mathilde Anneke noch in den 1930er Jahren als eine der einflussreichsten Frauen der vereinigten Staaten. Nach dem 2. Weltkrieg gerät sie in Vergessenheit und wird Jahrzehnte später wiederentdeckt. 1988 gibt es in Deutschland eine Briefmarke mit ihrem Konterfei in der Reihe „Frauen der deutschen Geschichte“. An der Ostseite des Kölner Doms gibt es eine Statue von ihr. 

Briefmarke mit dem Porträt von Mathilde Franziska Anneke mit Mary Booth

Der Mathilde Anneke-Preis der Städte Hattingen und Sprockhövel wird alle zwei Jahre verliehen und würdigt außergewöhnliche Leistungen von Einzelpersonen oder Vereinen, die sich in besonderem Maße für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzen und eine besondere Würdigung verdient haben.

Quellen:

Stephani Richard-Wilson: Mathilde Franziska Anneke (1817-1884) Social Entrepreneur and Sufragette in Immigrant Entrepreneurship: The German American Experience since 1700, Seite 141 – 165

Maria Wagner, Mathilde Franziska Anneke in Selbstzeugnissen und Dokumenten. Fischer Taschenbuch Verlag 1980

Links

https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/mathilde-franziska-anneke

https://www.hattingen.de/stadt_hattingen/Rathaus/Verwaltung/News/Nachrichten%202024/April%202024/Mathilde%20Anneke-Preis%20wird%20zum%207.%20Mal%20ausgeschrieben

Hier noch weitere Frauenleben-Podcast-Folgen über zwei weitere Frauenrechtlerinnen aus dem 19. und aus dem 20. Jahrhundert: Helene Stöcker und Iris von Roten

Und ergänzend zu dieser Folge das erwähnte Zeitzeichen des WDR:

https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/zeitzeichen/anneke102.html

Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

Frauenleben-Podcast 

Instagram: https://www.instagram.com/frauenleben.podcast/

Die Isländerin war Frauenrechtlerin, Lehrerin, Schulrektorin und die erste Frau im Parlament Alþing. Ingibjörg H. Bjarnason gründete eine Stiftung für den Bau des Nationalkrankenhauses und setzte sich für Mädchenbildung ein.

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Ingibjörg H. Bjarnason wurde am 4.12.1867 in Þingeyri geboren. Dieser Ort liegt in den abgeschiedenen Westfjorden, hatte jedoch damals einiges an Bedeutung, weil er der älteste Handelsplatz der Region war und im späten 18. Jahrhundert amerikanische Fischer dort ihren Stützpunkt hatten.

Ihr Vater Hákon Bjarnason war Kaufmann und Reeder. Als das Mädchen zehn Jahre alt war, kam er bei einem Schiffsunglück ums Leben. Mutter Jóhanna Kristín Þorleifsdóttir blieb allein mit fünf Kindern zurück. Neben Ingibjörg waren das vier Söhne, die später Psychologe, Politiker, Einzelhandelsunternehmer und Linguist/Lehrer wurden.

Umzug nach Reykjavík

Die Mutter führte Reederei und Laden eine Weile weiter, ging dann jedoch in die Hauptstadt Reykjavík. Ingibjörg wurde nach ihrer Konfirmation auf die Reykjavíker Kvennaskólinn („Frauenschule“) geschickt, die es erst seit 1874 gab und als Privatschule geführt wurde. Dort lernte sie vor allem Hauswirtschaft und machte 1882 ihren Abschluss.

Ingibjörg H. Bjarnason zwischen 1890 und 1905, Porträtbild
Ingibjörg H. Bjarnason zwischen 1890 und 1905, Porträtbild

In den folgenden zwei Jahren nahm sie Privatunterricht bei Þóra Pétursdóttir, einer bildenden Künstlerin (einer der ersten isländischen Frauen, die Kunst studierten), die ein Buch über isländische Volkslieder herausgab und journalistische Artikel u. a. im von Bríet Bjarnheðinsdóttir herausgegebenen Kvennablaðið („Frauenzeitschrift“) veröffentlichte. Als Tochter des Bischofs und eines der reichsten Männer des Landes war sie allen gut bekannt.

1884 ging Ingibjörg H. Bjarnason zur weiteren Ausbildung nach Dänemark – für junge Männer damals ganz normal, für Frauen weniger. Sie ließ sich am Poul Petersen Institut zur Gymnastiklehrerin nach Pehr Henrik Ling ausbilden. Ihre Mutter kam ebenfalls nach Kopenhagen und führte dort ein Heim für Schülerinnen/Studentinnen, die wie Ingibjörg ohne ihre Eltern zum Lernen den Heimatort oder sogar das Land verlassen mussten.

Tätigkeit als Lehrerin und Schuldirektorin

Zwischen 1893 und 1903 unterrichtete sie Gymnastik in Reykjavík und reiste nach Deutschland und in die Schweiz, um dort mehr über Schulverwaltung zu lernen.

Ingibjörg H. Bjarnason
Ingibjörg H. Bjarnason

Ab 1903 war sie dann Lehrerin an „ihrer“ Kvennaskólinn und unterrichtete Turnen, Zeichnen, Handarbeiten, später auch Dänisch und Gesundheitswissenschaften. 1906 wurde sie zur Direktorin der Schule ernannt und blieb dies bis zu ihrem Tod im Jahr 1941. Sie wurde von Kolleg:innen für ihre Ausdauer und harte Arbeit gelobt, und die Schülerinnen bewunderten sie ebenfalls. Sie setzte sich stark für ihre Schule ein, reiste wiederholt ins Ausland, um sich weiterzubilden, forderte mehr öffentliche Gelder und fand ein größeres Gebäude samt Wohnheim. Nach und nach führte sie die Fächer Säuglingspflege, Erste Hilfe und häusliche Pflege ein.

Andere Aktivitäten

1911 war Ingibjörg H. Bjarnason Mitgründerin des Lestrarfélag kvenna („Frauenlesevereins“), und auch bei der Gründung des isländischen Handarbeitsvereins war sie dabei.

Politische Karriere

Bereits nach ihrer Rückkehr nach Island wurde sie in der Frauenbewegung aktiv. Ab 1908 durften verheiratete Frauen bei Lokalwahlen wählen und Teil des Stadtrats werden. Am 19. Juni 1915 wurde dann das landesweite Frauenwahlrecht eingeführt. Der 19. Juni ist heute der Frauentag.

Es gab eine große Kundgebung, eine Botschaft an den dänischen König wurde verlesen, eine Parade durchs Stadtzentrum organisiert. Fünf Frauen zogen ins Parlamentsgebäude ein und hielten Reden, auch Ingibjörg H. Bjarnason.

Exkurs: das isländische Parlament

Das isländische Parlament heißt Alþing (oder Althing) und existiert bereits seit der Landnahme im Jahr 930, als sich Menschen aus Norwegen in Island niederließen. Jedes Jahr zur Sommersonnenwende trafen sich die Familien und Clans im Südwesten des Landes in Þingvellir (oder Thingvellir), wo vom Lögberg („Gesetzesberg“) aus rechtliche Entscheidungen verkündigt wurden. Die Zusammenkunft war gleichzeitig auch Volksfest und Heiratsmarkt.

Þingvellir, wo das älteste europäische Parlament tagte
Þingvellir, wo das älteste europäische Parlament tagte

1262 wurde Island doch wieder der norwegischen Krone unterworfen. Ende des 14. Jahrhunderts kam es unter dänische Herrschaft. 1800 wurde das Alþing aufgelöst, 1844 in moderner Form wiederhergestellt. 1918 wurden die Strukturen weiter modernisiert, als Island zu einem unabhängigen Königreich in Personalunion mit Dänemark wurde.

Das war die Zeit von Ingibjörg H. Bjarnason. Die Ausrufung der Republik Island im Jahr 1944 hat sie nicht mehr erlebt.

Bau eines neuen Krankenhauses

Nach Erlangung des Wahlrechts war es eines der größten Anliegen der Frauen und Frauenvereine, den Bau eines neuen Krankenhauses voranzutreiben. Sie gründeten eine Stiftung, die heute noch aktiv ist und deren Vorsitzende damals Ingibjörg H. Bjarnason wurde. 1925 konnte dank ihrer engagierten Geldsammelaktionen mit dem Bau des Landspítali begonnen werden. Der Grundstein wurde von Königin Alexandrine gelegt. Auf ihm steht: „Dieses Haus wurde mit dem Geld gebaut, das isländische Frauen gesammelt haben …, um zu pflegen und zu heilen.“

Als erste Frau im Parlament

1922 trat Ingibjörg H. Bjarnason für eine parteiunabhängige Frauenliste (Kvennalistinn eldri) an, die bei der Wahl auf erfolgreiche 22,4 % kam. Ingibjörg H. Bjarnason zog am 15. Februar 1923 als erste Frau ins Parlament ein.

Sie sagte:

Ich sehe mich selbst als jemanden, die hierherkam, um die Interessen meiner Leute zu schützen, so gut wie ich es kann … Aber natürlich erwarte ich auch, dass es zu Situationen kommen kann, in denen ich besonders die Rechte der Frauen schützen muss.

Und:

Natürlich stehen die ersten Frauen, die Pionierinnen, vor diversen Herausforderungen, nur weil sie Frauen sind … Wenn die Zahl der Frauen im isländischen Parlament zunimmt, verschwindet, dass sie speziell angegriffen werden, weil sie Frauen sind.

Ihre Reden sind heute noch im Wortlaut im Internet abrufbar. Interessanterweise wollte sie damals durchsetzen, dass die Reden der Parlamentarier:innen nicht mehr veröffentlicht werden; sie wollte die Druckkosten sparen. Dabei wären ihre eigenen Reden gar nicht so teuer gewesen, denn sie bestand immer darauf, sich kurzzufassen.

Typisch Frau? „Typisch Frau“ wurde sie jedenfalls auch belächelt, wenn sie ihre Emotionen zeigte, während sie jedoch darauf bestand, sie würde logisch argumentieren und würde keine Lästereien dulden.

Platz am Tisch

Die ersten Frauenrechtlerinnen, so wird im Rückblick analysiert, dachten wohl, dass mit dem Wahlrecht alles gewonnen sei. Sie beklagten sich, dass die Männer sie jedoch nicht „reinlassen“ würden, obwohl Frauen doch aufgefordert werden wollten, wichtige Aufgaben zu übernehmen. Erst später verstanden sie, dass sie selbst weiter um einen Platz am Tisch kämpfen müssen.

Ingibjörg H. Bjarnason wurde später Mitglied der konservativen Íhaldsflokkurinn und später der Sjálfstæðisflokkurinn (Unabhängigkeitspartei), wofür sie von anderen Frauen kritisiert wurde. Das seien doch beides typische Männerparteien. Doch sie schien sich dort wohlzufühlen.

Konservative Partei Íhaldsflokkurinn, 1924, mit Ingibjörg, nicht schwer zu erkennen
Konservative Partei Íhaldsflokkurinn, 1924, mit Ingibjörg, nicht schwer zu erkennen

Diskussion um Kindererziehung

Es wurde diskutiert, ob Jungen und Mädchen getrennt zur Schule gehen sollten oder nicht. Die konservative Ingibjörg H. Bjarnason war der Meinung, Mädchen sollten getrennt unterrichtet werden, da nur sie wirklich wüssten, wie Haushalt und Familie funktionieren. Trotzdem sollten die Mädchen mehr als das lernen und die gleichen Rechte haben wie Jungen bzw. Männer.

Ihr Gegner dabei war der sozialdemokratische Jónas frá Hriflu – eine sehr interessante, nicht unumstrittene Politikerpersönlichkeit, für die ich auf Wikipedia verweisen möchte.

Ingibjörg H. Bjarnason setzte sich weiterhin gegen Armut (und die typischen Reykjavíker Kellerwohnungen) ein sowie für Frauenrechte, Bildung und Kunst. 1925 bis 1927 war sie zweite Vizepräsidentin des Oberhauses, 1928 bis 1932 Mitglied des Kultusministeriums. Sie starb im Jahr 1941.

Porträt von Ingibjörg H. Bjarnason, das heute im isländischen Parlament hängt
Porträt, das heute im isländischen Parlament hängt

Ehrung

Seit 2015, zum 100-jährigen Jubiläum des Frauenwahlrechts, steht vor dem Parlamentsgebäude eine Statue von Ingibjörg H. Bjarnason, geschaffen von der Bildhauerin Ragnhildur Stefánsdóttir.

Statue von Ingibjörg H. Bjarnason vor dem isländischen Parlament von Ragnhildur Stefánsdóttir
Statue von Ingibjörg H. Bjarnason vor dem isländischen Parlament von Ragnhildur Stefánsdóttir

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Quellen:
Hver var Ingibjörg H. Bjarnason…?
Kvennasólastjóri, fyrst kvenna alþingismaður: Ingibjörg H. Bjarnason
Málsvari íslenskra kvenna

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Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

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Die Kirchenkritikerin Uta Ranke-Heinemann erhielt 1970 weltweit als erste Frau einen Lehrstuhl für katholische Theologie und verlor ihn 1987 wieder, weil sie die Jungfrauengeburt in Frage stellte.

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Das Elternhaus von Uta Ranke-Heinemann

Uta Ranke-Heinemann wuchs in den ersten Jahren sehr behütet auf, bis ihre Kindheit vom zweiten Weltkrieg überschattet wurde. Ihre Mutter Hilda hatte evangelische Theologie studiert, ihr Leben widmete sie der Erziehung ihrer vier Kinder. Utas Vater Gustav Heinemann war zunächst eher atheistisch eingestellt, bei der Eheschließung musste er dem Schwiegervater sogar noch versprechen, seine Frau niemals am Kirchgang zu hindern. Erst drei Jahre nach der Trauung vollzieht er seine Wandlung zum gläubigen und sozial sehr engagierten Protestanten. 

Gustav Heinemann in jungen Jahren mit seiner Frau Hilda und seinen vier Kindern (etwa 1931). Bildrechte: unbekannt

Das Kind Uta ist sehr begabt, mit sechs Jahren kennt sie mehrere Kinderbücher auswendig und mit acht Jahren kann sie zweistellige Zahlen im Kopf multiplizieren. Ausgesprochen prägend dürften auch die starken Pflicht- und Ehrvorstellungen beider Eltern gewesen sein. Utas Ehrgeiz ist allerdings so groß, dass der Vater ihr, um sie zu bremsen, für jede „Vier“ vier Groschen in die Sparbüchse steckt, für jede „Eins“ gibt es dagegen nur einen Groschen. 

Bomben auf Essen

1940 erlebt die Familie die erste Bombennacht – die Kinder werden daraufhin zu den Großeltern außerhalb von Essen umgesiedelt, wo sie auch die Schule besuchen. 1943 muss die gesamte Familie aus der Villa in Essen in eine Wohnung im Nachbarort fliehen. Die Mutter unterrichtet Uta selbst in Latein, später kommt Privatunterricht in Griechisch hinzu. Es fällt auf, wie schnell die Tochter alles begreift – und wie sehr sie ihre Lehrer auch immer wieder in Diskussionen verstrickt. Uta sieht man nie ohne ein Buch in der Hand, der Leseeifer wird den Eltern unheimlich. Nachdem 1944 auch das Ausweichquartier von Bomben getroffen wird, wird Uta nach Marburg geschickt, wo die Mutter studiert und ihr Examen abgelegt hat. Sie wohnt dort bei deren ehemaligem Professor Rudolf Bultmann. 

Uta Ranke-Heinemann
Foto: Stuart Mentiply, Wolfsburg (Wikipedia)

Schülerin auf einem Jungen-Gymnasium 

Nach Kriegsende zieht die Familie zurück in das wieder hergerichtete Haus in Essen. Es sind schwierige Zeiten, die Familie leidet Not, was auch an der moralischen Einstellung des Vaters liegt, der sich weigert, eine Sonderstellung für sich und seine Familie in Anspruch zu nehmen. Uta wird als einzigem Mädchen der Besuch des Burggymnasiums, einer reinen Jungenschule, gestattet. Dort lernt sie ihren Mitschüler Edmund Ranke kennen – eine Kriegswaise – in den sie sich verliebt, weil er so schön Homer aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzen kann, obwohl er nicht einmal ein eigenes Buch besitzt.  

Sie nimmt Privatstunden in Geschichte, griechischer Philosophie und Romanliteratur. Es ängstigt die Mutter, dass Uta so rastlos lernbegierig ist und die schönen Dinge des Lebens ignoriert. In ihrem Tagebuch, in dem sie die Gedanken über ihre Tochter festhält, notiert sie: „Du kannst nicht vor blühenden Wiesen mit Entzücken stehen bleiben, weil du immer irgendwie in Gedanken bist“. Im selben Tagebuch steht auch der Satz: „Du hast ein starkes Wissen um das Leid in der Welt“.

Uta Ranke-Heinemann sagt sechs Jahrzehnte später selbst, dass sie in ihrem Leben nicht eine einzige Stunde mit Nichtstun verbracht habe. Eine Rastlosigkeit, die schon früh zu Schlafstörungen führt, die sie eine Zeitlang versucht, mit Medikamenten zu bekämpfen, wovon sie aber wieder abkommt. Lieber nimmt sie es in Kauf, mitten in der Nacht aufzustehen, um zu lesen oder zu arbeiten. 1947 macht sie ihr Abitur mit Auszeichnung, der Vater wird im selben Jahr in den Landtag gewählt und Justizminister. 

Studium der evangelischen Theologie

Uta schreibt sich für ihr Studium der evangelischen Theologie an der Universität in Bonn ein. Als der Vater jedoch erfährt, dass ihr Freund Edmund Ranke in Bonn katholische Theologie studiert, muss sie sich auf seine Veranlassung hin wieder exmatrikulieren und stattdessen in Wuppertal einschreiben. Sie legt die Prüfung in Hebräisch mit Auszeichnung ab und studiert anschließend in Basel und Oxford. Oxfords Bibliotheken begeistern Uta. Sie studiert die Schriften der sogenannten Kirchenväter Augustinus oder Thomas von Aquin und genießt es sehr, dass niemand ihren Vater kennt.  Der ist mittlerweile eine Berühmtheit , wird 1949 Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland und kandidiert bei der ersten Bundestagswahl. Adenauer macht ihn zum Innenminister. 

Verlobung mit Edmund Ranke 

1950 kehrt Uta nach Bonn zurück und verlobt sich 1951 gegen den Willen des Vaters mit Edmund Ranke. 1953 konvertiert sie schließlich zum Katholizismus – als Begründung gibt sie später an, ihr sei es so vorgekommen, als habe sie in der die katholischen Kirche mehr Freiheiten als im strengen Protestantismus, den sie von zu Hause kannte. Außerdem habe sie das Gefühl gehabt, zu einer Minderheit zu wechseln, der geholfen werden müsse.  Dass sie vom Regen in die Traufe gekommen sei, habe sie zu spät realisiert. Sie geht nach München, um dort katholische Theologie zu studieren und wird als begabte Konvertitin sehr wohlwollend von den Professoren aufgenommen. 

Promotion gemeinsam mit Joseph Ratzinger

Der Vater nimmt es ihr sehr übel, dass sie sich vom Protestantismus abgewandt hat. Er kürzt ihr die finanzielle Unterstützung, und das bisschen, was sie von ihm noch bekommt, teilt sie mit Edmund, der als Waise gar nichts hat, sodass sie beide in Armut leben. Sie absolviert das auf sechs bis zehn Semester angelegte Studium in einem Jahr und promoviert 1954 gemeinsam mit Joseph Ratzinger, später Kardinal und Papst Benedikt XVI. Thema der Dissertation von Uta Heinemann: Das frühe Mönchtum. Seine Motive nach den Selbstzeugnissen der ersten Mönche, Beurteilung: „Magna cum laude“. Damals ist sie nach eigener Aussage noch fasziniert von der Frömmigkeit der Mönche. Die Dissertation ist bis heute in jedem Kloster der Welt zu finden. 

Uta Heinemann und Edmund Ranke heiraten 1954. Sie wird Dozentin am Erzbischöflichen Katechetinnenseminar und später an einer Schule, die von Ursulinen geleitet wird. Dort ist sie nicht sonderlich gut gelitten, die Nonnen warten darauf, dass ihr Mann endlich mit dem Studium fertig wird und sie aufhören kann, zu arbeiten. Sie fühlt sich gestresst und unter Druck und erleidet eine Fehlgeburt – und die Erkenntnis, dass die Nonnen sich in mehr um das ungeborene Kind sorgen als um sie, wird prägend für ihr späteres Leben.  Noch erkennt sie darin aber keinen systematischen Fehler. 

Familie und weitere berufliche Karriere

Die Beziehung zum Vater bessert sich sehr langsam, sie bekommen finanzielle Unterstützung, sodass sie und Edmund ein Haus kaufen können. 1958 und 1960 werden die Söhne Andreas und Johannes geboren. Trotzdem leben sie in prekären Verhältnissen, die Sparsamkeit wird Uta ihr Leben lang nicht mehr los. Um den Haushalt kümmert sich von Anfang an Edmund, der 1967 wegen einer chronischen Muskelkrankheit aus dem Schuldienst ausscheiden muss und später auf den Rollstuhl angewiesen ist. 

1965 wechselt Uta an die Pädagogische Fachhochschule in Neuss und habilitiert sich 1969 als erste Frau der Welt in katholischer Theologie. Ihr Hauptgutachter Karl Rahner wird im weiteren Verlauf selbst zu einer eher kritischen Stimme in der Welt der katholischen Theologie. 1970 wird Uta Ranke-Heinemann weltweit als erste Frau zur Professorin der katholischen Theologie ernannt. Im gleichen Jahr wird ihr Vater Gustav Heinemann Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.

Zwanzig Jahre lang ist sie „voll auf Kurs“, beantwortet zum Beispiel die Leserbriefe an die Bistumszeitung. Doch als eine Frau anfragt, die nach fünf Kindern endlich verhüten möchte, plädiert sie – natürlich theologisch begründet – für eigene Entscheidungen der Eheleute. Die Zusammenarbeit mit der Zeitung ist daraufhin beendet. 

Pazifistisches Engagement von Uta Ranke-Heinemann

Sie wird oft zu Empfängen ihres Vaters eingeladen, kann sich mit den Gästen unter anderem auf Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Griechisch, Niederländisch und Russisch verständigen. Insgesamt zwölf Sprachen beherrscht sie. In den 70er Jahren schließt sie sich den weltweiten Protesten gegen den Vietnam-Krieg an, Gert Bastian zählt sie zu ihren engsten Freunden. (Er war der Lebensgefährte und leider auch der Mörder von Petra Kelly – hier gehts zur Episode über Petra Kelly). In ihrer Zeit als Friedensrednerin werden ihre Töne schärfer, wenn von angeblich gerechten Kriegen oder von „Soldaten Christi“ die Rede ist. Es frustriert Uta dass die Kirchen Kriege gutheißen und das ungeborene Leben um jeden Preis schützen. 1984 und 1985 kandidiert sie als Spitzenkandidatin für die Friedensliste zu den Bundestags- bzw. Landtagswahlen in NRW.

Von Stuart Mentiply, Wolfsburg (Wikimedia)

Streit um Marias Jungfräulichkeit 

Sie beginnt zu den Themen Sexualfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit und Menschenfeindlichkeit zu forschen und kritisiert die hohen Kosten für den Papstbesuch. Außerdem fordert sie eine Wiedergutmachung an Martin Luther, der gesagt hat, dass die Ketzerverbrennung gegen den Willen des Heiligen Geistes geschehen seien. 1976 wendet sie sich gegen eine Erklärung des Papstes zur Sexualethik, wo die Ehe ohne Trauschein und die schwere Sünde der Onanie explizit abgelehnt werden. Masturbation galt als schwere Schuld – wird in der Bibel jedoch als solche gar nicht erwähnt. 

Der Streit entzündet sich schließlich an Marias Jungfernhäutchen. Die Idee, der die Katholiken anhängen, ist die, dass sie jungfräulich das Kind empfangen aber auch geboren hat, dass das Hymen also nicht verletzt wurde.  Am 15. April 1987 wird sie zu einer Sendung des WDR-Fernsehens am Marien-Wallfahrtsort Kevelaer eingeladen. Dort zweifelt sie das Dogma der Jungfrauengeburt an und sagt, Jesus sei ein Mensch gewesen, geboren von einer menschlichen Mutter. Er hatte auch Geschwister, die in der Bibel zu Stiefgeschwistern werden mussten aus eben diesem Grund. Die Vorstellung einer Jungfräulichkeit Marias sei eine kirchliche Geschichte und somit nicht als biologische Tatsache anzusehen. Zitat: „Viele Juden sind umgebracht worden, weil sie nicht an die Jungfrauengeburt glauben konnten. Und ich kann das auch nicht“.

Uta Ranke-Heinemann
Auf dem Weltjugendtag 2005. Foto: Sven Wolter, Lizenz: Creative Commons

Entzug der Lehrerlaubnis für katholische Theologie

Am 9. Juni 1987 wird Uta Ranke Heinemann zu Gesprächen ins Bistum geladen. Sie soll widerrufen – was sie nicht tut. Bei der Anhörung sagt sie, die Behauptung Maria sei eine Jungfrau gewesen, setze den normalen Zeugungs- und Geburtsvorgang herab und stelle ihn als schmutzig dar. Daher sei dies eine Beleidigung für alle Frauen und Eheleute. Kurz zuvor gibt sie in einem Interview im WDR eine Erklärung ab. „Ich werde uneingeschränkt dazu stehen und vorschlagen, dass wir uns auf Karl Rahner einigen, der schon 1970 geschrieben hat, dass diese Dinge als Bildersprache und nicht als historische Darstellungen zu verstehen sind. Wenn mir das gleich nicht gelingt, dann wird heute hier in Essen der bedeutendste Theologe dieses Jahrhunderts ebenfalls verurteilt. Insofern befinde ich mich in bester Gesellschaft.“ (Zitiert nach: Werner Alberts, Uta Ranke-Heinemann – Abschied vom Christentum, 2004, S. 82)

Am 15. Juni 1987 wird ihr die Lehrerlaubnis durch die katholische Kirchenleitung entzogen. Ende des Jahres erhält sie einen kirchenunabhängigen Lehrstuhl für Religionsgeschichte an der Universität-Gesamthochschule Essen.

Ute Ranke-Heinemann: „Eunuchen für das Himmelreich“ 

Ihr Ton wird schärfer, sie klagt beklagt die sexualfeindlichen und zölibatär-neurotischen Züge der Kirche oder das „frauenfeindliche Homosexuellen-Biotop“ – weil ja alle Frauen aus der Kirche verbannt seien, sind die Angehörigen der Kirche automatisch homosexuell. Sie fühlt sich von der Last des Gehorsams befreit. 1988 veröffentlicht sie das Werk: „Eunuchen für das Himmelreich“, in dem es um katholische Kirche und Sexualität geht. Themenschwerpunkte sind Frauenfeindlichkeit, die Sexualmoral und der Komplex ungeborenes Leben und Abtreibung, Todesstrafe und Krieg. 

Cover der Taschenbuchausgabe. Die Neuausgabe trägt zusätzlich den Untertitel: Von Jesus bis Benedikt XVI.

Sie sagt darin unter anderem, dass der Zölibat Priester in die verbotene Sexualität treibe. Und sie deckt ausführlich die nichtchristlichen Wurzeln des christlichen Sexualpessimismus auf. Sie bringt Dinge in verständlicher Sprache und Argumentation auf den Punkt. Maßstab für Sünde sind laut der Kirche die Fortpflanzung und die Lust. Wird die Fortpflanzung behindert, macht man sich schuldig. Kondom, Pille, Coitus Interruptus, Anal- oder Oralverkehr oder Masturbation dienen nicht der Fortpflanzung und sind daher eine schwere Sünde.

Sie wendet sich auch gegen die reine Männerkirche. „Die Unterordnung der Frau unter den Mann ist ein Postulat der Theologen während der ganzen Kirchengeschichte geblieben, und auch in der Männerkirche von heute ist sie immer noch als gottgewollt dogmatisiert. Die Männerkirche hat niemals begriffen, dass die Wirklichkeit der Kirche sich auf die Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit von Mann und Frau gemeinsam gründet.“ (Eunuchen, Seite 201). Eine bloß virile Kirche hat ihrer Meinung nach längst aufgehört, Kirche in vollem Sinne zu sein. Sie hat längst ihre Katholizität gegen einen dünkelhaften Sexismus ausgetauscht. Diese Männerkirche ist zu einem „Schrumpfchristentum“ degeneriert. Der christliche Glaube ist zu einem Zölibats-Credo ausgetrocknet. “ (Eunuchen, Seite 202). Das Buch wird auf Anhieb ein Weltbestseller, es wird sogar auf Japanisch übersetzt. 

Und noch ein Bestseller: „Nein und Amen“

1992 veröffentlicht sie „Nein und Amen. Mein Abschied vom traditionellen Christentum“. Das Buch wird ebenfalls ein Bestseller. Uta Ranke-Heinemann zeigt darin den phantastischen Ballast von Märchen und Legenden innerhalb des neuen Testaments auf, den die Kirche mit sich schleppt. Die führt aus, dass es Sadismus sei, an eine Hölle, und Henkertheologie, an eine Erlösung durch Blut zu glauben. Dahinter stecke das Bild eines heidnischen Blutgottes, der Menschenopfer fordert. Sie führt die Leser*innen fort von einer christlichen Erziehung zur Grausamkeit und Verstandesunterdrückung. Das Buch wendet sich gegen eine Religion der Angstmacherei und sinnlosen Opfer unter der Herrschaft männlich klerikaler Arroganz und Unfehlbarkeit. Sie führt sie hin zu einem „Gott des Lebens“. 

Nein und Amen, Uta Ranke-Heinemann
Cover der Originalausgabe, die Neuausgabe trägt den Untertitel „Mein Abschied vom traditionellen Christentum“

Ein ganzes Leben für die Wahrheit

1999 kandidiert Uta Ranke-Heinemann – vor allem aus Protest gegen den Krieg im Kosovo – für das Amt der Bundespräsidentin. 2001 verstirbt ihr Mann Edmund. Sie widmet ihm in der Neuauflage von „Nein und Amen“ das Kapitel „Eine Blume auf das Grab meines Mannes“. 2009 wirkte sie in Rosa von Praunheims Film „Rosas Höllenfahrt“ – einem Dokumentarfilm zur Geschichte der Hölle – mit. Sie wendet sich bis ins hohe Alter in Interviews, Reden und Schriften gegen die Brutalität, mit der gegen homosexuelle Menschen seitens der katholischen Kirche in ihrer 2000jährigen Geschichte vorgegangen wurde. Die katholische Kirche fände auch heute noch mehr Sünde in den Schlafzimmern als auf den Schlachtfeldern. 

Am 25. März 2021 stirbt Uta Ranke-Heinemann in ihrem Haus im Beisein ihres Sohnes Andreas, ihrer Schwiegertochter und ihres einzigen Enkels. 

Weiterhören auf Frauenleben:

Podcast-Episode über Maria von Nazareth. Hier geht es unter anderem um die Mythen rund um die „Jungfrauengeburt“

Petra Kelly – pazifistische Mitstreiterin von Uta Ranke-Heinemann

Weiterführende Links:

Katechismus der katholischen Kirche: Berufung zur Keuschheit

Abschnitt 2352. Zitat:

Masturbation ist die absichtliche Erregung der Geschlechtsorgane, mit dem Ziel, geschlechtliche Lust hervorzurufen. „Tatsache ist, daß sowohl das kirchliche Lehramt in seiner langen und stets gleichbleibenden Überlieferung als auch das sittliche Empfinden der Gläubigen niemals gezögert haben, die Masturbation als eine in sich schwere ordnungswidrige Handlung zu brandmarken“, weil „der frei gewollte Gebrauch der Geschlechtskraft, aus welchem Motiv er auch immer geschieht, außerhalb der normalen ehelichen Beziehungen seiner Zielsetzung wesentlich widerspricht“. Der um ihrer selbst willen gesuchten geschlechtlichen Lust fehlt „die von der sittlichen Ordnung geforderte geschlechtliche Beziehung, jene nämlich, die den vollen Sinn gegenseitiger Hingabe als auch den einer wirklich humanen Zeugung in wirklicher Liebe realisiert.

 

Abschnitt 2357. Zitat: Homosexuell sind Beziehungen von Männern oder Frauen, die sich in geschlechtlicher Hinsicht ausschließlich oder vorwiegend zu Menschen gleichen Geschlechtes hingezogen fühlen. Homosexualität tritt in verschiedenen Zeiten und Kulturen in sehr wechselhaften Formen auf. Ihre psychische Entstehung ist noch weitgehend ungeklärt. Gestützt auf die Heilige Schrift, die sie als schlimme Abirrung bezeichnet [Vgl. Gen 19, 1-29; Röm 1,24-27; 1 Kor 6,10; 1 Tim 1,10.], hat die kirchliche Überlieferung stets erklärt, „daß die homosexuellen Handlungen in sich nicht in Ordnung sind“ (CDF, Erkl. „Persona humana“ 8). Sie verstoßen gegen das natürliche Gesetz, denn die Weitergabe des Lebens bleibt beim Geschlechtsakt ausgeschlossen. Sie entspringen nicht einer wahren affektiven und geschlechtlichen Ergänzungsbedürftigkeit. Sie sind in keinem Fall zu billigen.

Katechismus der katholischen Kirche: Berufung zur Keuschheit

Der empfehlenswerte Podcast der Zeit, „Unter Pfarrerstöchtern“, beschäftigt sich mit den Geschichten aus der Bibel. Wir verlinken eine Episode, in der unter anderem eine Stelle im Alten Testament (Gen 19, 1-29) behandelt wird, die wir in unserer Episode erwähnen. Die fragwürdige Bibelstelle wird im Weltkatechismus bis heute herangezogen, um die Verderbtheit der Homoesxualität zu belegen. „Sodom und Gomorra“ (etwa ab Minute 12:45).

Interview mit Uta Ranke-Heinemann zu den Themen katholische Kirche und Zölibat vom 7. Juni 1995. Video: „Von einem Bischof erwarte ich nichts“

Quellen:

Werner Alberts, Uta Ranke-Heinemann, Abschied vom Christentum, Patmos, 2004

H.-D. Schütt, Uta Ranke-Heinemann, Querköpfe, Elefantenpress, 1993

Uta Ranke-Heinemann, Eunuchen für das Himmelreich. Katholische Kirche und Sexualität. Von Jesus bis Benedikt XVI. Aktualisierte Taschenbuchausgabe 02/12, Heyne

Uta Ranke-Heinemann, Nein und Amen. Mein Abschied vom traditionellen Christentum. Ergänzte Neuausgabe, Heyne

Website über Uta Ranke-Heinemann mit einigen Texten und Kurzbiographie

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Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

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Petra Kelly war eine deutsche Politikerin und Gründungsmitglied der Partei „Die Grünen“. Geboren in Deutschland und sozialisiert in den USA, wurde sie zu einer Symbolfigur der deutschen Umwelt- und Friedensbewegung. Nach politischen Rückschlägen und persönlichen Problemen zog sich Kelly immer mehr ins Private zurück. Ihr plötzlicher Tod sorgte für Entsetzen in der Öffentlichkeit: Ihr Lebensgefährte und Parteikollege Gert Bastian erschoss im Oktober 1992 erst sie und dann sich selbst.

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Petra Kelly, geborene Lehmann, verbringt ihre Kindheitsjahre im katholischen Günzburg. Ihr leiblicher Vater, ein ehemaliger Frontberichterstatter, verlässt früh die Familie. Die Eltern lassen sich 1954 scheiden, für Petra ein großer Verlust. Die Mutter ist nun Alleinernährerin und beginnt, im Supermarkt eines amerikanischen Militärstützpunkts zu arbeiten. Petra wird jetzt hauptsächlich von ihrer verwitweten Großmutter „Oma Birle“ erzogen, zu der sie zeitlebens ein sehr enges Verhältnis hat.

Übersiedelung in die USA

Auf der Arbeit lernt die Mutter John Kelly, ihren zweiten Ehemann, kennen. Petra nimmt seinen Nachnamen an, lässt sich jedoch nicht von ihm adoptieren. 1959 kommt Petra Kellys Halbschwester Grace auf die Welt. Der Stiefvater wird zurück in die USA versetzt, weshalb sie ganze Familie – mit Ausnahme der geliebten Oma –nach Georgia übersiedelt. Der besucht Petra Kelly die Elementary School und dann die Junior High School.

Das intelligente Kind ist zunächst schüchtern und zurückhaltend, lernt aber schnell Englisch. Spätestens ab 1964, wo sie in Virginia, dem nächsten Einsatzort ihres Stiefvaters, auf die angesehene Hampton Highschool geht, fällt sie auch durch ihre Leistungen und ihr soziales Engagement auf. Sie schreibt für eine Schülerzeitung, darf als Vertreterin der Schule öffentliche Reden halten und sucht bereits den Kontakt zu den Mächtigen der Welt, beispielsweise indem sie in einem Brief an Robert Kennedy den Wunsch äußert, Diplomatin zu werden. Dem Oberbefehlshaber der US-Truppen schickt sie ein Gedicht, das in einer Militärzeitung abgedruckt wird.

Studium

Von 1966 bis 1970 studiert sie Politische Wissenschaften und Weltpolitik an der American University in Washington und ist während dieser Zeit Mitglied im Studentenrat, organisiert politische Seminare und beteiligt sich an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg sowie gegen die Rassendiskriminierung. Sie engagiert sich auch im Präsidentschaftswahlkampf in den Büros der Senatoren Robert Kennedy (1925-1968) und Hubert Humphrey (1911-1978).

Tod der Schwester von Petra Kelly

Ein wichtiger Einschnitt in ihrem Leben und Impuls für ihren weiteren politischen Werdegang ist im Jahr 1970 der Tod ihrer kleinen Schwester Grace, die 1966 an Krebs erkrankt war und eine vierjährige Leidenszeit mit vielen Operationen und Bestrahlungen erlebt hat. Petra Kelly gründet daraufhin die G.P. Kelly-Vereinigung zur Unterstützung der Krebsforschung für Kinder e.V.. Die Vereinigung entwirft in Form einer Bürgerinitiative ein psychosoziales Betreuungsmodell für krebs- und chronisch kranke Kinder und fördert aus Spendenaufkommen weitere Projekte dieser Art. Petra Kelly führt den Tod ihrer Schwester unter anderem auf die Strahlentherapie und den unkritischen Umgang mit Radioaktivität zurück. 

Arbeit bei der Europäischen Kommission

1971 kehrt Petra Kelly nach Europa zurück. Sie wird Praktikantin und später Mitarbeiterin bei der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel und lernt den deutlich älteren Sicco Mansholt kennen, den Präsidenten der Europäischen Kommission. Die beiden werden ein Paar und arbeiten auch zusammen, sie begleitet ihn beispielsweise auf eine Tagung der UNO nach New York.

Zwischen 1972 und 1982 ist sie bei der Europäischen Kommission angestellt. Zunächst arbeitet sie als Verwaltungsreferendarin im Wirtschafts- und Sozialausschuss und später als Verwaltungsrätin im Sekretariat der Fachgruppen Sozialfragen, Umweltschutz, Gesundheitswesen und Verbrauch. Ihr Schwerpunkt sind Frauenthemen. Ehe- und Familienrecht, Mutterschutz und die Berufstätigkeit von Müttern liegen ihr besonders am Herzen. Ihr neuer Lebenspartner, mit dem sie ebenfalls politisch zusammenarbeitet, wird der irische Gewerkschaftsführer John Carroll, der sich 1978 wegen ihr von seiner Ehefrau scheiden lässt. Doch im selben Jahr geht die Beziehung auseinander. 

Mitglied im BBU

Ebenfalls ab 1972 wird sie aktives Mitglied im neu gegründeten Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU). Kelly betätigt sich in Gremien wie der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner e.V., der Humanistischen Union, dem Bund für soziale Verteidigung e.V., der Union Syndicale in Brüssel und der Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion, Lüchow-Dannenberg. Außerdem unterstützt sie gewaltfreie Ökologie-, Frauen- und Friedensbewegungen in den USA sowie in zahlreichen europäischen Ländern, in Japan und in Australien.

Die berufliche Doppelbelastung und die Pendelei zwischen ihrem Arbeitsplatz in Brüssel und der Tätigkeit in Deutschland belasten sie gesundheitlich schwer. Ihre ohnehin labile Konstitution – sie hatte schon als Kind unter schweren Nierenkoliken gelitten und viel Zeit in Krankenhäusern verbracht – hält dem Stress nicht stand. Immer wieder leidet sie unter physischen und psychischen Zusammenbrüchen. 

Petra Kelly wird Gründungsmitglied der Grünen

1979 wird sie Gründungsmitglied der Grünen und tritt aus der SPD aus, was sie in einem emotionalen offenen Brief an Helmut Schmidt mit dem Fehlen gleichberechtigter Strukturen, aber auch der unzulänglichen Programmatik gegenüber Problemen der Dritten Welt, Friedenssicherung und Umweltbelastung begründet. 

Der Einzug ins Parlament gelingt den Grünen im Jahr 1983. Kelly kommt über die bayerische Landesliste in den Bundestag, wo sie bis 1990 Mitglied bleibt. Die Delegierten wählen sie zusammen mit Otto Schily und Marieluise Beck-Oberdorf in den Sprecherrat der Fraktion, außerdem wird sie Mitglied des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten. 

Cover von 1982

Der Umgang mit den Parteistrukturen und die Arbeit in Bonn fallen Kelly schwer, denn in ihrem Herzen bleibt sie Aktivistin und eher den Bürgerinitiativen verhaftet. In Interviews betont sie immer wieder, dass es ihr lieber gewesen wäre, die die Grünen wären Bürgerrechtsbewegung geblieben. 

Dennoch ist sie ein Star der Partei und erhält so viele politische Anfragen wie der gesamte Rest der Fraktion zusammen. Als Chefin hat sie keinen guten Ruf, weil ihre Arbeitsaufträge sind unpräzise sind und ihre Anforderungen zu hoch. Es fällt ihr außerdem schwer, Prioritäten zu setzen. Die meisten MitarbeiterInnen bleiben daher nicht lange, und innerhalb der Partei wird Kelly immer mehr zur idealistischen Einzelkämpferin.

Petra Kelly und Gert Bastian
Pressekonferenz der „Grünen“ zum Ausgang der Bundestagswahl vom 6.3.1983 – Otto Schily und Petra Kelly im Saal der Bundespressekonferenz. By Bundesarchiv, B 145 Bild-F065187-0022 / Reineke, Engelbert / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de

Lebensgemeinschaft mit Gert Bastian

1985 zieht Petra Kelly in Bonn mit ihrem Freund und Parteikollegen, dem früheren General Gert Bastian (1922-1992), zusammen. Obwohl er bereits in der Wehrmacht gekämpft hat und trotz seiner beeindruckenden Karriere bis in die höheren militärischen Ränge setzt er sich ab 1979 (NATO Doppelbeschluss) für Abrüstung ein und scheidet aus dem Militär aus. Der verheiratete Familienvater lässt sich trotz der neuen Beziehung nicht von seiner Ehefrau scheiden.

Mit den Bundestagswahlen von 1987 wird Kelly erneut Bundestagsabgeordnete. Sie nimmt am Moskauer Friedensforum teil und trifft in Moskau mit Andrej Sacharow und Michail Gorbatschow zusammen.

Gert Bastian 1987

Vor den Bundestagswahlen 1990 bemüht sich Kelly erfolglos um eine weitere Bundestagskandidatur und scheidet mit Ende der Legislaturperiode aus dem Bundestag aus. Als sie sich im darauf folgenden Jahr für das Amt der Vorstandssprecherin der Grünen bewirbt, erhält sie nur einen Bruchteil der Stimmen. Sie lebt mit ihrem Lebensgefährten zurückgezogen und zunehmend von politischen Weggefährten und Freunden isoliert in ihrem Haus im Bonner Stadtteil Tannenbusch. Immer wieder gibt es Berichte über ihren schlechten Gesundheitszustand und Angstzustände. Auch ihre Abhängigkeit in der Partnerschaft zu Gert Bastian wird öffentlich diskutiert. 1992 übernimmt sie die Moderation des SAT-1-TV-Umweltmagazins „Fünf vor Zwölf“, doch die Sendung wird nach kurzer Zeit wieder abgesetzt. 

Das gewaltsame Ende von Petra Kelly

Am 1. Oktober 1992 wird Petra Kelly im Schlaf von Gert Bastian erschossen, der sich anschließend selbst mit derselben Waffe das Leben nimmt. Allerdings wird kein Abschiedsbrief gefunden, der einen Hinweis auf die Motive geben könnte. Die Leichen von Petra Kelly und Gert Bastian findet man erst drei Wochen nach ihrem Tod.

In der Öffentlichkeit  – und vor allem auch von Parteifreunden – wird zunächst von einem Doppelselbstmord ausgegangen, und dieses Narrativ wird auch über längere Zeit aufrechterhalten, selbst als immer deutlicher wird, dass Petra Kelly ihrem Tod sicher nicht zugestimmt hat. 1993 veröffentlicht Alice Schwarzer  das Buch „Eine tödliche Liebe. Petra Kelly und Gert Bastian“. Die Autorin, die mit den beiden Toten bekannt war, geht darin der Frage nach, inwieweit Kelly mit dem gewaltsamen Ende einverstanden war. Ihrer Meinung nach handelte es sich um Mord.

Petra Kelly auf dem Cover des Spiegel
Cover von 1992

Quellen: 

Saskia Richter: Die Aktivistin. Das Leben der Petra Kelly, DVA, München 2010

Alice Schwarzer, Eine tödliche Liebe, Kiepenheuer und Witsch, Köln, 1993 

Haunhorst, Regina/Zündorf, Irmgard: Biografie Petra Kelly, in: LeMO-Biografien, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 
URL:

Anschauen auf YouTube: 

Interview | Nuclear Disarmament | Ecological Concerns | Afternoon plus | part 1 | 1982

Auftritt in einer deutschen Talkshow von 1990

Anhören:

Interview mit dem SDR von 1985 

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Nach wem ist eigentlich der Luise-Kiesselbach-Platz in München benannt? Und die Luise-Kiesselbach-Straße in Erlangen? Schüchtern und gleichzeitig kämpferisch, Workaholic und Gartenliebhaberin: Luise Kiesselbach war Armenpflegerin, Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, die sich in zahllosen Vereinen engagierte.

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Die Recherche zu dieser Münchner Persönlichkeit erwies sich als schwierig, bis ich die Website von Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp entdeckte, der dankenswerterweise verschiedene Artikel – hauptsächlich Nachrufe – über Luise Kiesselbach zusammengestellt hat. Eine ausführliche Biografie wäre dennoch wünschenswert!

Luise Kiesselbach

Kindheit und Hochzeit

Luise Becker wird in Hanau geboren, der Vater ist Realschuldirektor, sie ist das vierte von acht Kindern. Mutter und Vater haben verschiedene Konfessionen, was durchaus zu Spannungen führt. Mit 15 Jahren muss Luise von der Schule abgehen, um ihre kranke Mutter und ihre behinderte Schwester zu pflegen. Mit 20 heiratet sie ihre große Liebe, den Erlanger Privatdozenten und späteren Professor für Halsnasenohrenkunde Wilhelm Kiesselbach. Er ist 24 Jahre älter, aber „ein selten harmonischer, innerlich reifer Mensch“. Sie bekommen eine Tochter und einen Sohn, die beide später Medizin studieren – die Tochter Gusta als eine der ersten Frauen in Bayern und die allererste in Erlangen. Gustas Tochter Else wird später ebenfalls Ärztin. Luise und Gusta stehen sich sehr nahe. Bald stirbt der geliebte Mann an einer Infektion.

Luise Kiesselbach

Der erste Schritt in die Öffentlichkeit

Um ihre Trauer zu überwinden, unternimmt Luise Kiesselbach eine lange Romreise und kommt dort zu dem Schluss, dass sie mit nun 40 Jahren und zwei erwachsenen Kindern noch einmal etwas für die Gesellschaft und die Frauenrechte tun will. Sie ist jedoch nie radikal, sondern immer vorsichtig, immer bürgerlich, um sich nicht den Ärger der Männer zuzuziehen, die keine Frauen in der Öffentlichkeit sehen möchten.

Luise Kiesselbach kehrt nach Erlangen zurück, nimmt Kontakt mit der Frauenrechtlerin Helene von Forster auf und tritt dem Verein „Frauenwohl“ bei, der Bildungs- und Unterhaltungsabende organisiert und gemeinnützige Einrichtungen wie einen Mädchenhort und eine Rechtsschutzstelle für Mädchen und Frauen gründet.

Als Hilfsarmenpflegerin in Erlangen

1909 wird Luise Kiesselbach zu einer der ersten acht Hilfsarmenpflegerinnen ernannt. In dieser Rolle kümmert sie sich vor allem Familien und Kinder. Armenpfleger:innen besuchten „ihre Armen“ unangekündigt zu Hause, um ihnen „mild und nachsichtig, aber auch streng“ zur Seite zu stehen.

Zwei Jahre später bei einem Frauentag in Würzburg hält Luise Kiesselbach zum ersten Mal eine Rede vor großem Publikum. Leicht fällt ihr das nicht, denn sie ist und bleibt ihr Leben lang schüchtern und muss jedes Mal einen inneren Kampf ausfechten, bevor sie sich auf die Bühne traut.

Luise Kiesselbach

Ika Freudenberg und Umzug nach München

Bald lernt sie Ika Freudenberg kennen, die Vorsitzende des Hauptverbandes Bayerischer Frauenvereine. Ika Freudenberg holt Luise Kiesselbach nach München und baut sie dort als ihre Nachfolgerin auf. Noch im gleichen Jahr muss Luise Kiesselbach diese Aufgaben übernehmen, als Ika Freudenberg mit nur 53 Jahren an Krebs stirbt.

Luise Kiesselbach bleibt in München und lebt von der Pension ihres toten Mannes. Ehrenamtlich arbeitet sie für verschiedenste Vereine, wird für ihre innovativen Organisationsformen gelobt und dafür, dass sie immer weiß, wann es Zeit wird, einen neuen Verband zu gründen oder Petitionen zu schreiben. Sie hält und organisiert Vorträge und schreibt Fachtexte. Sie wird in den Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine sowie den des Reichsverbandes Deutscher Hausfrauenvereine gewählt und gründet den Stadtbund Münchner Frauenvereine. Später ist sie Mitgründerin des heute riesigen Paritätischen Wohlfahrtsverbands Bayern.

Dazu kommen ein Kinderferienheim in Tutzing am Starnberger See für 50 bis 60 Kinder (das Gabrielenheim) und ein Waisenhaus in München für 20 Kinder (das Luisenheim).

Im und nach dem Ersten Weltkrieg

Während des Ersten Weltkriegs versorgt Luise Kiesselbach mit Hilfe ihrer Vereine etwa 3000 Münchner Familien. Auf einem Acker bauen sie Gemüse und Kartoffeln an, gründen ein Erholungsheim für Frauen und eine Nähstube, geben Kurse zur Haushaltsführung speziell bei Lebensmittelknappheit und basteln und verteilen Weihnachtsgeschenke für Kinder.

Während der Räteherrschaft in München ist Luise Kiesselbach kurzzeitig für den Rat der geistigen Arbeiter im Bayrischen Landtag. Nach Einführung des Wahlrechts für Frauen wird sie in den Stadtrat gewählt und bleibt dort zehn Jahre lang. Sie tritt in die DDP ein und kandidiert auch für Land- und Reichstag, wird aber nicht gewählt. Allzu unglücklich ist sie deshalb vermutlich nicht, weil sie lieber handelt statt verhandelt und die praktische Arbeit vor Ort vorzieht. Ihre Aufgaben umfassen die Verwaltung verschiedener Mädchenschulen und -pensionate, sie ist im Erwerbslosenausschluss, in der Schulpflegschaft, im Krankenhausausschuss und vieles mehr. Sie setzt sich für die Fachausbildung für Mädchen und eine Hauswirtschaftsschule für Hausangestellte ein.

Ein Altersheim für Kleinrentner

Da ihr auch die Kleinrentner am Herzen liegen, die durch die Inflation auch noch einen Großteil ihres Vermögens verloren haben, gründet sie ein Altersheim in der Äußeren Wienerstraße – ihr Herzensprojekt mit Einzelzimmern, fließendem Wasser und Fahrstuhl, in dem die Alten einen ungetrübten Lebensabend verbringen können, während zugleich junge Leute eine hauswirtschaftliche Lehre machen. Heute heißt dieses Altersheim Luise-Kiesselbach-Haus.

Wie sah diese unermüdliche Sozialarbeiterin aus? Ihre Mitarbeiterin Dr. Auguste Steiner erinnert sich an

die kräftige, etwas gedrungene Gestalt, das großflächige Gesicht, das blonde, in der Mitte gescheitelte Haar, die hellen Brauen und die blauen Augen; ihr Blick war ruhig und fest. An fast allen ihren Kleidern hat sie ein weißes Krägelchen […] gehabt […]. Ich kann mich eigentlich nur an Kleider erinnern, die lose und bequem waren, in denen sie sich leicht bewegen hat können, nicht an Blusen und Röcke oder auf Taille Gearbeitetes. Ein Problem waren die Hüte: klar, dass man einen haben musste, aber sie wollte den Kopf frei haben; dann wurde der Hut eben in die Hand genommen; so ist mancher irgendwo liegen geblieben. … Ihr Gesichtsausdruck war meistens ernst [aber] … ihr Gesicht hat von innen heraus hell werden können […] und so warm und herzlich, dass man ihr gut sein hat müssen.

Ewig ist die Arbeit

Wie sie all diese Arbeit geschafft hat? Geschlafen hat sie wohl wenig, und ihre Wahlsprüche lauteten „Man muss mehr von sich verlangen als man leisten kann, um wenigstens das zu leisten, was man kann“ und „Ewig ist die Arbeit / Das Werk des Menschen / Es wechseln nur die Hände“. Ihrer Mitarbeiterin riet sie einmal: „Wenn Sie Rat oder Hilfe brauchen, wenden Sie sich an jemanden, der viel zu tun hat, der hat auch für Sie noch Zeit.“

Luise Kiesselbach

Zudem erwähnt Steiner in ihren sehr persönlichen, gut lesbaren Erinnerungen, dass es bei Luise Kiesselbach nie strenge Abteilungen oder Hierarchien gab, sondern alle gern angefasst und das große Ganze im Blick behalten haben. In einem Gedächtnisgedicht von Hed Sailer-Ubromeit heißt es über Luise Kiesselbach:

Nichts war zu klein, daß sie’s bereute,
Nichts war zu groß, daß sie es nicht bezwang,
[…]
Wir aber wollen nicht nur trauern,
Denn reifen soll die große Saat der Zeit,
Der Geist wird auch das Sterben überdauern,
Wenn Ihr ihm, Schwestern, Träger seid!

Luise Kiesselbach
Als Germania. Warum?
Leider keine Ahnung …

Tod und Nachrufe

Luise Kiesselbach starb am 27.1.1929, nachdem sie länger an einer Herzkrankheit gelitten hatte, an einem plötzlichen Herzschlag im Sanatorium Ebenhausen. Ihre Nachrufe sprechen von ihrer mütterlichen, bescheidenen Persönlichkeit, die sich stets für Notleidende und Kinder einsetzte und auch in ihren beschäftigsten Jahren immer Zeit hatte, um einzelne Bittsteller anzuhören und ihre Fälle nachzuverfolgen, bis sie das bekamen, was sie benötigten.

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Quelle (auch für die Fotografien):
Website von Prof. Dr. Herwig-Lempp

Ergänzung im Januar 2024 – – Es gibt eine neue Biografie über Luise Kiesselbach, verfasst von Adelheid Schmidt-Thomé, verlegt vom Franz Schiermeier Verlag: Luise Kiesselbach. Kinder, redet nicht, tut was!

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Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

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Die deutsche Frauenrechtlerin, Philosophin, Publizistin, Sexualreformerin und Pazifistin Dr. phil. Helene Stöcker war eine Vertreterin des radikalen Flügels der historischen Frauenbewegung. Eine ebenbürtige Partnerschaft zwischen Männern und Frauen und die sexuelle Gleichberechtigung der Geschlechter standen im Mittelpunkt ihres Denkens. Daraus leitete sie die Notwendigkeit umfassender gesellschaftlicher Veränderungen ab.

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Schon in den allerfrühesten Kinderjahren war ich mir vollkommen klar über meine Lebensziele. Sowie ich erwachsen wäre, so dachte ich, würde ich schriftstellerisch tätig sein wollen und für die Gleichberechtigung der Geschlechter kämpfen, deren verschiedene Bewertung ich schon als Kind sehr deutlich und schmerzlich empfand.

Helene Stöcker, Lebenserinnerungen
Helene Stöcker vor 1903 (Quelle Wikipedia)

Helene Stöcker und die Philosophie der Neuen Ethik

In ihrer Philosophie der ‚Neuen Ethik’, die sie ab etwa 1905 beginnt zu entwickeln, erkennt Stöcker nicht die Ehe, sondern ausschließlich die Liebe als Legitimation für sexuelle Beziehungen an. Selbst in einem streng calvinistischen Haushalt aufgewachsen, plädiert sie außerdem für die Überwindung einer heuchlerischen sexuellen Moral, die die freie Sexualität unterdrückt. Sie bekämpft den Status der Frauen als Sexualobjekt, wie er beispielsweise in Goethes „Faust“ in der Geschichte rund um Gretchen gleichsam wie nebenbei thematisiert wird (die Lektüre des „Faust“ hat sie stark beeinflusst). Aus ihren Forderungen nach einer „Kultur der Liebe“ leitet sie die Notwendigkeit einer  finanziellen Unabhängigkeit der Frauen und nach weiteren gesellschaftlich notwendigen Veränderungen ab.

Helene Stöcker mit Schwestern
Helene Stöcker und ihre Schwestern (Quelle: Frauenmediaturm.de)

Wenn ich heute an diese erste Lektüre des „Faust“ zurückdenke, so glaube ich, dass mich in ihm weit mehr die Gretchentragödie erschüttert hat als das Erkenntnisproblem. Ich kann kaum mehr beschreiben, mit wie ungeheurer Wucht dieser erste Einblick in die Gewalt und Tragik der Geschlechtsbeziehungen auf mich damals gewirkt hat. Ich stand am Beginn des Pubertätsalters und war überdies durch Anlage und Erziehung gewöhnt, am Schicksal anderer Menschen mitfühlend teilzunehmen. Auf ein Kind weiblichen Geschlechtes musste diese frühe Begegnung entscheidend einwirken. Welche Gefahren, welche Schicksale einer Frau drohten, wenn die Liebe in ihr Leben trat – das stand hier in der vollen Krassheit eines vernichtenden Schicksals vor mir. Auch dass der männliche Partner in dieser Verbindung sich als so schwach und gleichgültig erwies, dass er keine Hilfe und Rettung vor den zerstörenden Konsequenzen zu bringen vermochte, war hier schonungslos offenbart

Helene Stöcker, Lebenserinnerungen

Abschaffung des Paragrafen 218

Stöcker kämpft mit ihrem ‚Bund für Mutterschutz und Sexualreform’ für die Abschaffung des § 218, den besseren Schutz lediger Mütter und gegen ihre gesellschaftliche Ächtung; für Sexualaufklärung und das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung über ihren Körper. Ihre Zeitschrift „Mutterschutz“, 1908 in „Neue Generation“ umbenannt, erscheint ab 1905 bis zu ihrer Flucht aus Deutschland im Jahr 1932. 

Mutterschutz Zeitschrift von Helene Stöcker
Quelle: Frauenmediaturm.de

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs engagiert sich Stöcker in pazifistischen Organisationen. So ist sie unter anderem von 1922 bis 1932: Vorstandsmitglied der „Deutschen Liga für Menschenrechte“.

1943 stirbt sie verarmt und einsam im New Yorker Exil. 

Helene Stöcker Mutterschutz Publikation
Quelle: Frauenmediaturm

Zweck des Bundes ist es, die Stellung der Frau als Mutter in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu verbessern, insbesondere unverheiratete Mütter und deren Kinder vor wirtschaftlicher und sittlicher Gefährdung zu bewahren und die herrschenden Vorurteile gegen sie zu beseitigen, sowie überhaupt eine Gesundung der sexuellen Beziehung anzubahnen.

Helene Stöcker über den Bund für Mutterschutz und Sexualreform BfMS

Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, auch denen zu helfen, die durch das Übel der Schwangerschaftsunterbrechung ein noch größeres Übel – nämlich das der Zerstörung von Gesundheit und Lebensglück der schon Lebenden – vermeiden wollen.

Helene Stöcker

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Literatur: 

Helene Stöcker: Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin. Herausgegeben von Reinhold Lütgemeier-Davin und Kerstin Wolff.
L‘HOMME Archiv 5, Böhlau Verlag, Köln 2015. 

Angelika Schaser: Frauenbewegung in Deutschland. 1848 – 1933

Chronologische Biographie von Helene Stöcker mit Jahreszahlen unter Lebendiges Museum Online

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Empfehlungen

Wir sprechen über die Romane von Petra Hucke „Vom Gehen und Bleiben“, S. Fischer Verlage und von Susanne Popp „Der Weg der Teehändlerin“, Fischer Taschenbuch

Wir weisen auf den Podcast frauenvondamals von Bianca Walther hin, die sich fundiert mit der Frauenbewegung in Deutschland beschäftigt, zum Beispiel Folge 8: Von Olympe bis Helene, Streifzug durch 100 Jahre Frauenbewegung oder Folge 18: Helene Lange (Begründerin der Gymnasialkurse für Mädchen).

Wir erwähnen die frauenleben-podcast-Folge über Iris von Rothen und die Folge über Bertha Pappenheim. Für den Mutterschutz und den Schutz unehelicher Kinder setzte sich im Nachkriegsdeutschland auch die erste Ministerin Deutschlands ein: Elisabeth Schwarzhaupt

Eine zeitgenössische heute noch lesenswerte Autorin ist Gabriele Reuter, zum Beispiel der damals sehr erfolgreiche Roman „Aus guter Familie“, der auch von Helene Stöcker in ihrer Autobiographie erwähnt wird. (Gibt es hier gratis als E-Book)

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Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

Frauenleben-Podcast 

Instagram: https://www.instagram.com/frauenleben.podcast/