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Monat: September 2020
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Oh, da komme ich liebend gerne vorbei, ich liebe Zwetschgen! Gab es früher bei uns daheim öfter, meistens mit Hefeteigboden. Doch ich backe eher selten. Manchmal einen Crumble nur mit Streuseln obendrauf aber ohne Boden,…
Liebe Susanne, über deine Schwiegermutter hast du mir schon mal ein wenig erzählt – sie muss ja wirklich ein interessantes Leben gehabt haben. Meine Schwiegereltern haben ihr ganzes Leben in Ostdeutschland gelebt, und als sie…
Liebe Petra, die Biografie von Helen Keller würde mich auch interessieren. Bin schon gespannt, was du davon berichten wirst. Ich habe zuletzt Monika Helfer, «Die Bagage» gelesen. Es wurde mir mehrfach empfohlen, ich glaube auch…
Dorothea Christiane Erxleben war im 18. Jahrhundert die erste promovierte Ärztin Deutschlands, setzte sich für die Bildung von Frauen ein und kämpfte gegen Vorurteile an, die schon auf die Griechen zurückgehen.
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An einem schönen Frühsommertag 2019 in Quedlinburg. Bei unserem Streifzug zu Beginn unseres Urlaubs spazieren wir durch das Städtchen mit der jahrtausendealten Geschichte und landen schließlich im Klopstockmuseum. Die Stimmung ist ein wenig gedämpft. Verträumt und träge liegen die Häuser und Gassen im Schatten des Klosterberges, der die Stadt beherrscht.
Kämpferin für die Rechte der Frauen
Ein paar Studenten haben die Säule vor dem Museum mit langen Papierstreifen umwickelt, auf denen Gedichte stehen. Eine spielerische Einladung, sich ein Stück Lyrik abzureißen, zu lesen und mitzunehmen. Ich bin sofort verzaubert. Wir treten ein. Der freundliche ältere Herr mit dem feinen Lächeln, der an der winzigen Theke die Besucher empfängt, scheint schon seit Jahrhunderten hier auf uns zu warten. Früher trug er wahrscheinlich ein Barrett, heute ein Jackett. In dieser ein wenig entrückten Stimmung also begegnet mir Dorothea Erxleben zum ersten Mal, denn in dem kleinen Raum gleich links hat man ein Gedenkzimmer für diese berühmte Tochter der Stadt Quedlinburg eingerichtet. Dabei war sie natürlich alles andere als eine Träumerin. Im Gegenteil, sie stand mit beiden Beinen fest im Leben und ließ sich durch nichts von den Zielen, die sie sich für ihr Leben gesteckt hatte, abbringen. Sie war die erste promovierte Ärztin Deutschlands, erfahren wir. Und sie war eine Kämpferin für die Rechte der Frauen. Ihre Streitschrift mit dem Titel «Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studieren abhalten», liegt in einem Reprint aus.
Meine Neugierde ist geweckt und als wir nach interessanten Frauen für unseren Podcast Ausschau halten, fällt mir natürlich Dorothea Erxleben als Erstes wieder ein. In der Unibibliothek besorge ich mir einen Nachdruck ihrer im altertümlichen Deutsch des 18. Jahrhunderts verfassten Streitschrift. Es ist die einzige ihrer Art in Deutschland in der damaligen Zeit. Ein Aufruf, Frauen die gleiche Erziehung zukommen zu lassen wie Männern. 250 Seiten schreibt sie, nach 410 Paragrafen geordnet, und setzt sich mit Fragen auseinander wie
Ob Weyber Menschen seyn
Dass die Vernunft der Weyber nur eine halbe Vernunft sey
Gelehrsamkeit schicke sich nicht für dieses Geschlecht, da dasselbe keinen Nutzen davon zu erwarten habe.
Sie ist 22 Jahre alt, als sie diese Schrift verfasst, und es ist ihr Vater, der vier Jahre später dafür sorgt, dass sie publiziert wird. Eine bemerkenswerte Familie, denn Dorothea Christina Leporin, so ihr Mädchenname, kämpft gegen Vorurteile an, die schon auf die Griechen zurückgehen. Aristoteles zum Beispiel begriff «Mann und Frau» als ein kosmologisches Prinzip, ebenso wie die vier Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde. Männer galten als heiß und trocken, Frauen als feucht und kalt – Frauen galten als minderwertiger wegen der geringeren Hitze des weiblichen Körpers. Eine Auffassung die bis Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschte und nicht wirklich herausgefordert wurde. Nur der Mann ist demnach die aktive Kraft, er legt den Samen in die passive Frau. (Die weibliche Eizelle wurde erst 1827 entdeckt!)
Seit dem Mittelalter wurde diese Auffassung von den christlichen Scholastikern gelehrt. Und die Diffamierung der Frauen durch die katholische Kirche fand auch auf andere Art und Weise ihre Fortsetzung. Jahrhunderte lang wurde die Minderwertigkeit der Frau beispielsweise damit erklärt, dass Eva aus der Rippe des Adams gemacht und folglich ihm untergeordnet sei. Diese Auffassung wurde dann allerdings irgendwann auch theologisch herausgefordert, beispielsweise von dem Humanisten Heinrich Cornelius von Nettersheim (1529), der Eva als Gottes Meisterstück bezeichnet hat, weil er sie als Letztes erschaffen habe.
Doch all diese Diskussionen änderten nichts an der sozialen und gesellschaftlichen Rolle der Frau, in der auch Dorothea sich wiederfand und mit der sie zurechtkommen musste. Nicht nur das, sie hat sie akzeptiert. Nur die Unwissenheit der Frau akzeptierte sie nicht.
Ihre außergewöhnliche Streitschrift adressiert sowohl Männer als auch Frauen. Gegenüber den Männern gibt sie sich bescheiden. Kein Wunder, denn das ist die einzige Möglichkeit, gehört zu werden. Gegenüber den Frauen ist sie direkter, sie fordert die Frauen dazu auf, sich nicht hinter falschen Entschuldigungen zu verstecken, und dazu zählt sie fehlendes Selbstvertrauen, Angst für stolz gehalten zu werden oder auch die Angst vor Anstrengung. Sie sieht zwar ein, dass Frauen, welche einen Haushalt zu führen haben, unter Umständen nicht die Energie haben, sich zu bilden. Doch Frauen, die durch ihren sozialen Status privilegiert seien, hätten diese Ausrede nicht, für sie bestehe kein Grund, ein Leben in Ignoranz zu führen. Solche Frauen sollten sich ihrer Meinung nach selbst weiterbilden. Dorothea weist außerdem die traditionelle Auffassung zurück, dass Frauen mehr als Männer ihren Emotionen ausgeliefert seien und den körperlichen Bedürfnissen unterliegen – sie sagt, dass wenn man bedenkt, was Frauen Tag für Tag leisten müssen, doch viel dafür spricht, dass sie durchaus leistungsfähig sind und durchaus ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten vermögen. Einen Haushalt zu führen und Kinder zu erziehen seien schließlich anspruchsvolle Tätigkeiten.
Es geht ihr dabei nicht um eine gesellschaftliche oder soziale Revolution. Sie argumentiert vielmehr, dass Frauen, die ihren Intellekt benutzen, um sich zu bilden, ihre täglichen Pflichten besser erfüllen und wahrnehmen können. Sie könnten ihr Leben besser und effektiver planen und in die Hand nehmen. Sie können auch der Gesellschaft besser dienen.
Ihr Leben zeigt, dass sie harte Arbeit nicht scheute. Ihre Pläne, in Halle zu studieren, muss sie aufgeben, als sie einen Witwer mit fünf Kindern heiratet. Doch das medizinische Handwerk und das theoretische Wissen dazu hatte sie zuvor schon von ihrem Vater gelernt. Sie hört nicht auf zu praktizieren. Ihre Patienten lieben sie und die anderen Ärzte in Quedlinburg fürchten ihre Konkurrenz. Sie macht sich einen Namen, erwirbt sich einen guten Ruf, und auch die Doktorwürde wird ihr nicht verwehrt, wenn sie ihr Ziel auch erst Jahre später erreicht. Wie sie das geschafft hat? Im Podcast erzählen wir die außergewöhnliche Geschichte dieser außergewöhnlichen Frau.
Quellen:
Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten. Dorothea Christina Leporin, mit einem Nachwort von Gerda Rechenberg. Hildesheim : Georg Olms, 1975, Nachdruck Originalausgabe: Berlin, Johann Andreas Rüdiger, 1742 Renate Feyl. Der lautlose Aufbruch. Frauen in der Wissenschaft. Diana Verlag. Ausstellung im Klopstockhaus Quedlinburg
Liebe Susanne, ach, die Ideen im Kopf sind Legion, aber eine Idee ist ja noch längst kein Roman, wie du bestimmt auch weißt. Sobald man etwas aufschreibt, ist es ohnehin nicht mehr so wunderbar, so…
Liebe Petra, ja, ich muss es zugeben, auch ich reite hin und wieder auf der True-Crime-Podcast-Welle. Und das kam so: Als die beste Tochter und der beste Ehemann von allen (!) kürzlich eine längere Autofahrt…
Liebe Susanne, ich benutze die App PodcastAddict. Ob böse oder nicht, muss wohl jeder und jede allein entscheiden. Genauso – apropos Assoziationen – ob man auf dieser True-Crime-Welle mitreitet, der man derzeit kaum aus dem…
Maria Sibylla Merian war Malerin und Insektenforscherin – in einer Zeit, in der Frauen in den Wissenschaften nichts zu suchen hatten und Insekten als Teufelsbrut galten.
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Ihr Nachname ist bekannt: Maria Sibyllas Vater war Matthäus Merian der Ältere (1593–1650), Schweizer Kupferstecher und Verleger, der bis heute für seine Städteansichten, Landkarten und Chroniken bekannt ist. Das Haus Merian war einer der größten europäischen Verlage, ansässig in Frankfurt am Main, das auch damals schon als Zentrum des Buch- und Verlagswesens galt. Sogar zweimal jährlich fand eine geschäftige Buchmesse statt.
Kindheit mit Puffärmelchen
Maria Sibylla wird am 2. April 1647 geboren. Der Dreißigjährige Krieg neigt sich doch endlich dem Ende zu. Die Hälfte der Bevölkerung ist tot, Seuchen toben durch Deutschland, die Überlebenden hungern. Angeblich kommt es sogar zu Fällen von Kannibalismus. Menschen strömen in die Städte in der Hoffnung auf Arbeit. Gleichzeitig breitet sich der Pietismus aus, eine mystisch-erbauliche, schwärmerische Strömung, die auf Verinnerlichung setzt und das Urchristentum wiederherstellen möchte.
Seit 1645 ist Johanna Sibylla Heim die zweite Frau des Matthäus Merian. Sie gilt als tugendsam, fromm und in Gelddingen kompetent. Maria Sibylla hat ältere Halbgeschwister, unter anderem Matthäus den Jüngeren (1621 geboren) und Caspar (1627), die nach dem Tod des Vaters den Verlag weiterführen. Matthäus der Ältere stirbt nämlich schon, als Maria Sibylla erst drei Jahre alt ist. Kurz zuvor soll er ausgerufen haben: Bin ich schon nicht mehr da, so wird man doch sagen: Das ist Merians Tochter. Eine schöne – und wahre – Prophezeiung.
Sie gilt als sein Lieblingskind, und einem von Matthäus dem Jüngeren gemalten Familienporträt wird sie nachträglich hinzugefügt – anders als die griechisch gewandete Familie jedoch im zeitgenössischen Kleid mit Puffärmelchen. In den Armen hält sie den riesigen Kopf einer Laokoon-Statue aus dem Louvre, die aber angeblich nichts weiter zu bedeuten hat, als dass der Maler sagen wollte: Schaut her, ich war in Paris.
Laut Matthäus dem Jüngeren ist Johanna eine „Stiefmutter wie sie im Buche steht“. Mit einem Blick auf seine Autobiografie lässt sich allerdings auch sagen, dass er nicht unbedingt der netteste aller Stiefsöhne war … Sie werden streng religiös erzogen, Arbeit gilt als die höchste Tugend, und somit hat Johanna wohl auch einfach keine Zeit, ihre Kinder zu verhätscheln.
Ein neuer Stiefvater und eine unwiderstehliche Tulpe
Nach dem Tod ihres Mannes bekommt sie von ihrem Stiefsohn widerwillig ein kleines Erbe ausbezahlt und zieht mit Maria Sibylla ins Stadtzentrum von Frankfurt, wo sie ein kleines Haus mietet. 1651 heiratet sie Jacob Morell (ein Mann mit vielen Schreibweisen), einen Blumenmaler mit Kontakten in die Niederlande, wo gerade die Tulpenmanie wütet. Er richtet im Haus eine Werkstatt ein, die die kleine Maria Sibylla immer wieder anzieht. Selten geht sie ihren Bruder Caspar in der Druckerei des Verlages besuchen, ansonsten sind die Kontakte zur Familie Merian kaum noch vorhanden.
Sie geht in die Schule – nicht selbstverständlich für Mädchen zu dieser Zeit, lernt Rechnen, Schreiben, Lesen, aber kein Latein, das für ihr frühes Interesse an den Naturwissenschaften eigentlich unabdingbar gewesen wäre. Denn Insekten haben es ihr angetan. Sie will sie allerdings nicht nur tot oder in Büchern studieren, sondern in der lebendigen Natur.
Dafür richtet sie sich heimlich auf dem Dachboden eine kleine Forschungsstation her, mit Dosen, Schachteln und Gläsern voller krabbelnder, kreuchender, fleuchender Insekten. Ob das wirklich so war? Das Haus war winzig, die Türen standen immer offen, Menschen gingen ein und aus. Wahrscheinlich hätte sie so etwas vor ihrer Mutter nicht geheim halten können. Und dann ist da noch die Anekdote mit dem Tulpenklau: Ein reicher Nachbar hat viel Geld ausgegeben und sich im Garten Tulpen angepflanzt. Maria Sibylla pflückt sich eine der Blumen (je nach Quelle auch das gesamte Beet), um sie zu malen. Als der Nachbar es herausfindet, gibt es ein großes Donnerwetter. Maria Sibylla gesteht, dass sie unbedingt die wunderschönen Blüten malen wollte. Ungläubig lässt der Nachbar sich das Aquarell zeigen – und ist so begeistert von Maria Sibyllas Talent, dass er ihr nicht mehr böse sein kann.
Ausbildung zur Kupferstecherin – es bleibt in der Familie
Nun erhält sie auch einen eigenen Arbeitsplatz in der Werkstatt des Stiefvaters. Damals ist es gar nicht unüblich, dass die Frauen der Handwerkerfamilien mitarbeiten. Da Jacob Morell viel verreist, wird ihr der achtzehnjährige Abraham Mignon als Lehrer zugewiesen. Er bringt ihr bei, wie sie Aquarellfarben herstellt, welche Maltechniken es gibt, wie Kupferstiche entstehen, wie sie Gemälde komponiert.
Mit einem eisernen Grabstichel, befestigt an einem hölzernen Griff, vorne spitz, ritzt er feine Linien in die große, polierte Kupferplatte, die vor ihm schräg auf einem Pult liegt. Immer wieder vergleicht er mit der gezeichneten Vorlage. Für breitere Linien oder Flächen nimmt er ein vorne breiteres, rundes oder flaches Werkzeug. Mit einem Schaber entfernt er die kleinen, aufgeworfenen Kupferspäne entlang der Linien. Die so hergestellten Vertiefungen der Platte sollen später, beim Druck, die schwarze Farbe aufnehmen. Je tiefer die Linie, so erklärt er ihr, desto dunkler erscheint sie auf dem Papier. Hellere oder dunklere Schattierungen erreicht er durch engeren oder weiteren Abstand der Linien.
Helmut Kaiser, Maria Sibylla Merian: eine Biographie, S. 39.
Inzwischen geht es der Gesellschaft besser. Nach dem langen Krieg können die Menschen sich endlich wieder etwas gönnen. Seide gehört zu den größten Luxusartikeln, und ihre Herstellung ist in Europa noch gar nicht allzu lang bekannt. Mit dreizehn Jahren bekommt Maria Sibylla deshalb von einem Bekannten Seidenraupen geschenkt. Ihre Leidenschaft ist endgültig geweckt. Allerdings nicht für das Luxusgut Seide, sondern für die Entwicklung der Insekten, vom Ei über die Raupe und den Kokon bis hin zum wunderschönen Falter.
Sie beginnt mit einer wissenschaftlich fundierten, systematischen Erforschung der Insekten, findet heraus, welche Futterpflanzen sie brauchen, wie lange sich welche Art verpuppt und dass aus hübschen Raupen nicht immer unbedingt die hübschesten Schmetterlinge entstehen. Fast ein ganzes Jahrhundert vor Carl von Linné notiert sie ihre Beobachtungen und nimmt zum Beispiel bereits die Einordnung in Tag- und Nachtfalter vor.
Sommervögelein und Mottenvögelein
Ihre geliebten Schmetterlinge nennt sie Sommervögelein, die Nachtfalter Mottenvögelein. Damals hießen diese Tiere meist noch Butterfliegen (im Englischen heute noch butterflies) – das Wort Schmetterling hat denselben Ursprung wie das Wort Schmand, denn damals glaubt man, dass Hexen sich gern in Schmetterlinge verwandeln und die Milch ranzig machen … Die schlimmste Zeit der Hexenverfolgung ist zwar zu Maria Sibyllas Zeiten schon vorbei, aber leicht hat es ihr der Aberglaube bestimmt nicht gemacht. Zudem meint man auch, dass Insekten generell aus Morast und Exkrementen entstehen und somit reine Teufelsbrut sind. (Es wurden sogar einige Insekten vor Gericht verurteilt, damit sie bestraft und ihnen der Teufel ausgetrieben werden konnte.)
Von ihrer speziellen Insektenleidenschaft aber einmal abgesehen, ist das Sammeln von Pflanzen usw. eigentlich gar nicht so schlecht angesehen, genauso wie das Beobachten der Sterne. Weiberarbeit, von Rousseau empfohlen, damit die Frauen nicht stattdessen auf schlimmere Gedanken kommen. (Seltsam, oder? Ist nicht gerade die Natur voll von Schweinereien und Sex?)
Mutter Johanna ist nicht besonders begeistert, aber der Stiefvater unterstützt sie. Außerdem ist da noch die Sache, dass Johanna sich vielleicht selbst die Schuld gibt an der seltsamen Leidenschaft ihrer seltsamen Tochter. Beim sogenannten Versehen geschieht es nämlich, dass eine Frau, die sich, während sie schwanger ist, zum Beispiel vor einem Hasen erschrickt, ein Kind mit Hasenscharte zur Welt bringt. Und Johanna hat während ihrer Schwangerschaft eine alte Truhe geöffnet, in die sich jede Menge Insekten verkrochen hatten. Darüber ist sie so erschrocken, dass die ungeborene Maria Sibylla vielleicht Schaden genommen hat …
Maria Sibylla muss ein introvertiertes Kind gewesen sein, das viel Zeit allein verbringt. Ihr Halbbruder Caspar ist viel unterwegs, Morell und Mignon genauso.
Maria Sibylla heiratet und wird von der Merianin zur Gräffin
Im Jahr 1665 ist sie achtzehn. Ein ehemaliger Schüler ihres Stiefvaters kehrt aus Italien zurück, wo er sich zum Architekturmaler hat ausbilden lassen. Andreas Graff kommt ursprünglich aus Nürnberg und ist zehn Jahre älter als Maria Sibylla.
Noch im gleichen Jahr heiraten sie. Es scheint für beide Seiten eine willkommene Ehe zu sein: Maria Sibylla darf weiter forschen und malen, er hingegen ist wohl ein bisschen faul und undiszipliniert und kann sich an ihrer Selbstständigkeit und ihrem Selbstbewusstsein festhalten. Außerdem hofft er vielleicht, dass ihm die Kontakte zum Verlagshaus Merian helfen. Die ja aber leider kaum vorhanden sind.
Im Jahr 1668 kommt die erste Tochter zur Welt, Johanna Helena. Zwei Jahre später ziehen sie nach Nürnberg, mit 25.000 Einwohnern eine enge Stadt, deren goldene Zeiten mit Dürer usw. jedoch vorbei sind. Hier wird Maria Sibylla aktiv: Sie eröffnet eine Stick- und Malschule für junge Patrizierinnen und Töchter aus Künstlerfamilien und nennt sie die Jungfern-Company. Sie zieht einen Farbenhandel hoch, verkauft Stickvorlagen und bemalte Stoffe (zum Beispiel Tischdecken). Außerdem gibt sie ihr erstes Blumenbuch heraus, bei der ihr laut Danksagung ihr „Eheliebster“ geholfen hat. Im Jahr 1678 wird die zweite Tochter geboren, Dorothea Maria, ganze zehn Jahre nach der ersten. Es bleibt bei zwei Kindern – für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich.
Die erste Veröffentlichung
Ihr erstes kleines Wunderwerk ist das Buch Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung, ganz elegant mit Ganzledereinband und Goldschnitt – und dem Hinweis „Tochter des M. Merian“. Je nach Geldbeutel kann es unkoloriert, teilkoloriert oder koloriert bestellt werden. Obwohl sie inzwischen Latein gelernt hat, entscheidet sie sich für eine Veröffentlichung auf Deutsch, damit alle es lesen können. Das Besondere bereits an ihrem Werk ist die Darstellung ökologischer Zusammenhänge und der Metamorphose der Insekten. Maria Sibylla denkt holistisch.
Als 1681 der Stiefvater stirbt, kehrt die Familie nach Frankfurt zurück. Maria Sibylla kümmert sich um ihre alternde Mutter, geht aber auch den gleichen Unternehmungen nach wie in Nürnberg. Vier Jahre später trennt sich das Ehepaar, und Andreas Graff zieht allein nach Nürnberg zurück. Sie bittet jedoch in einem Brief eine Freundin, sich um ihn zu kümmert, scheint ihm also trotz der Trennung noch wohlgesonnen.
Dann kehrt Maria Sibylla auch Frankfurt den Rücken. Sie zieht mit ihrer Mutter und ihren Töchtern nach Schloss Waltha in den Niederlanden (Westfriesland). Dort lebt bereits ihr Halbbruder Caspar in einer Labadisten-Gemeinde. Die Niederlande sind ein stark bevölkertes und im Vergleich zu Deutschland religiös sehr freies Land.
Living la vida Labadista
Der Franzose Jean de Labadie (1610–1674) war Pietist, predigte gegen Üppigkeit und Unsitten, gegen Tanz, Glücksspiel und luxuriöse Kleidung, gegen Besitz allgemein. Er wurde als eine Art zweiter Calvin bezeichnet. Dabei gab er jedoch immer nur Ratschläge und empfahl meditative Übungen – Dogmen verbreitete er nicht. Maria Sibylla ist zwischen solchen Strömungen aufgewachsen, sodass diese Hinwendung nicht aus dem Nichts kommt.
Schloss Waltha gehört Cornelis von Aerssen von Sommeldijk, dem Gouverneur von Surinam. Zur Orientierung: Surinam liegt in Südamerika, nördlich von Brasilien und ist etwa halb so groß wie Deutschland heute. Die Niederlande haben es gegen Neu-Amsterdam (das heutige New York) eingetauscht und wegen des Reichtums an Zuckerrohr kolonisiert. Der Familie von Sommeldijk gehört zeitweise ein Drittel des ganzen Landes. Drei von Cornelis’ Schwestern leben ebenfalls in der Sekte. Insgesamt sind es rund 350 Leute, als Maria Sibylla dort ankommt. Nachfolger von Labadie ist der weniger beliebte Pierre Yvon.
Maria Sibylla ordnet sich der Gemeinschaft jedoch auch hier nicht ganz unter – genauso, wie sie schon ihr Leben lang nicht allen Konventionen getrotzt oder offen dagegen rebelliert hat und trotzdem immer ihren eigenen Weg verfolgt hat. Sie lernt weiter (auch Holländisch), gibt ihren Töchtern eine gründliche künstlerische Ausbildung und erstellt ein Studienbuch mit Vorlagen für ihre späteren Werke.
Vier Jahre später stirbt Caspar. Prompt kommt Andreas Graff angereist, der Maria Sibylla bittet, doch wieder mit ihm zu kommen. Aber sie sagt Nein, ihre Töchter ebenso. Unverrichteter Dinge reist Graff wieder ab. Offiziell geschieden wird die Ehe jedoch erst sechs Jahre später, als er eine andere Frau heiraten möchte.
Aus dem Kokon hinaus in die Welt
Maria Sibyllas Zeit der Verpuppung (dieses Bild bietet sich einfach an …) endet 1690, als ihre Mutter stirbt und der Gouverneur von Sommeldijk in Surinam gewaltsam getötet wird. Die Zukunft des Schlosses ist ungewiss, und die Gemeinschaft löst sich wegen Uneinigkeit und Geldnöten auf.
Sie zieht, inzwischen 44 Jahre alt, mit ihren Töchtern nach Amsterdam. Mit 200.000 Einwohnern ist Amsterdam eine wohlhabende Hafen- und Handelsstadt, international durch zahlreiche Geflüchtete. Maria Sibylla kommt erneut in Schwung, richtet ihren Farbenhandel wieder ein und arbeitet auf Auftrag. Sie knüpft Kontakte, unter anderem zum Bürgermeister und dem Leiter des Botanischen Gartens.
Johanna Helena heiratet den Kaufmann Jacob Hendrik Herolt, der ebenfalls mit Surinam Geschäfte macht. Als sie von einer Reise dorthin zurückkehren, ist Maria Sibylla von den Schilderungen ihrer Tochter so begeistert, dass sie ebenfalls entschließt, die Überfahrt zu wagen. Sie braucht jedoch finanzielle Unterstützung, und das dauert. Patiencya ist ein gut Kräutlein, sagt sie sich.
Über den Atlantik: Maria Sibyllas Reise nach Surinam
Erst im Juni 1699 ist es soweit. Sie ist 52 Jahre alt. Sie macht ihr Testament, packt ihre 21-jährige Tochter Dorothea Maria ein und sticht in See. Wir befinden uns noch hundert Jahre vor Alexander von Humboldt und seiner Tour de Force durch Südamerika. Drei Monate lang sind die Frauen auf See. In der surinamischen Hauptstadt Paramaribo mieten sie ein Holzhäuschen mit Garten und machen sich jeden Tag in den frühen Morgenstunden auf in den Urwald.
Begleitet werden sie von ihren Sklaven. Zwar spricht Maria Sibylla sich vehement gegen die Sklaverei und die furchtbare Behandlung der Einheimischen und aus Afrika Verschleppten aus und irritiert damit die übrigen Siedler, aber sie nimmt sie offenbar doch zu Hilfe, um nicht vom Dschungel verschlungen zu werden. Wespen und Mücken stören bei der Arbeit, obwohl doch alles viel schneller gehen muss als zu Hause. Denn die gesammelten Tiere und Pflanzen verschimmeln oder vertrocknen sofort oder werden von anderen Viechern aufgefressen. Die Durchschnittstemperatur liegt bei 28 Grad. Wahrscheinlich ist es gut, dass Maria Sibylla schon so viel Erfahrung mit dieser Arbeit hat – alle anderen wären von der Artenvielfalt und der guten Tarnfähigkeit der Insekten vermutlich überwältigt gewesen. Einmal fahren sie auf dem Fluss etwa 65 Kilometer flussaufwärts zur dortigen Labadistenkolonie.
Allzu lange bleiben die beiden Frauen nicht in Surinam. Maria Sibylla wird krank – Gelbfieber, Malaria oder Ruhr – und muss abreisen. Sie ist nicht das einzige Opfer:
150 Jahre später, selbst unter verbesserten hygienischen Verhältnissen, gibt Schomburgk noch folgende Zahlen: Von 400 Deutschen, die 1839 angekommen waren, lebten 1844 noch 20. Von 10.000 Portugiesen waren bei seiner Abreise noch 3000 am Leben.
Helmut Kaiser, Maria Sibylla Merian: eine Biographie, S. 39.
Im September 1701 sind sie zurück in Amsterdam. Dorothea Maria heiratet, und Maria Sibylla erkennt, dass sie schon wieder Geld braucht. Sie malt auf Auftrag und bietet Teile ihrer einheimischen und surinamischen Insektensammlung zum Kauf an. Gleichzeitig erhält sie jedoch die Möglichkeit, ihre Ausstellung im Rathaus zu zeigen.
Metamorphosis Insectorum Surinamensium
Und sie fängt mit ihrem Hauptwerk an: Metamorphosis Insectorum Surinamensium. Dafür malt sie 60 Aquarelle im Folioformat, die als Vorlage für 60 Kupferstiche dienen. Beim Stechen helfen ihr aus Zeitgründen drei Künstler. Die erklärenden Texte verfasst sie selbst und entscheidet sich für eine lateinische und eine holländische Version. Wegen der hohen Kosten setzt sie auf Subskription: 15 Gulden soll die unkolorierte, 45 Gulden die kolorierte Version kosten. (Ein ganzer Batzen, denn für 12 Gulden erhält man laut Kaiser bereits zwei geschlachtete Kälber.) Dieses Mal braucht es keinen Hinweis auf den alten Merian mehr und auch der „Eheliebste“ wird nicht mehr erwähnt. Maria Sibylla ist eine eigenständige, selbstbewusste Künstlerin und Wissenschaftlerin.
Das Buch enthält neben den Zeichnungen der Insekten und ihrer Futterpflanzen auch Speisezubereitungen, Kultivierungsempfehlungen für tropische Pflanzen und Informationen zu ihrer Heilwirkung. Auch für ethnologische Beobachtungen ist Platz. Dabei bewertet sie niemals die Kultur der Eingeborenen, kritisiert aber umso stärker die Siedler und Kolonisten, die nur an den verdammten Zucker denken und die Einheimischen misshandeln, statt zum Beispiel Vanille und Weintrauben anzubauen. Sie berichtet, dass die Sklavinnen eine Pflanze kennen, mit der sie ihre ungeborenen Kinder abtreiben, weil sie der Überzeugung sind, dass die Babys so in Afrika wiedergeboren werden und dem elenden Leben in Surinam entgehen.
Sie wird mit ihrem Buch leider nicht reich, auch weil sie bei Arbeit und Material keine Kosten und Mühen scheut. Aus einer deutschen Version wird nichts, und auch die angedachte englische Übersetzung muss sie sich aus dem Kopf schlagen, obwohl sie so gern der Queen ein unterzeichnetes Exemplar zukommen lassen würde, so von Frau zu Frau.
Das Erbe der Merian
Im Jahr 1715 erleidet Maria Sibylla einen Schlaganfall, und zwei Jahre später stirbt sie mit siebzig Jahren. Ihr Grab ist nicht erhalten, aber ihre Werke werden in Amsterdam, im British Museum, in Basel und in Sankt Petersburg gut gehütet. Dort soll übrigens auch Vladimir Nabokov darauf gestoßen sein, was zu seiner Leidenschaft für das Schmetterlingssammeln geführt haben soll.
Nach ihrem Tod wurde sie häufig kritisiert und als unwissenschaftlich bezeichnet. Teilweise mag das stimmen – es gibt in ihrem Werk zum Beispiel die Zeichnung eines Insekts, dessen Kopf und Rumpf nicht zusammenpassen – angeblich hatte da ein Helfer den Schalk im Nacken.
Dennoch muss man unbedingt anerkennen, dass sie eine, wenn nicht gar die Vorreiterin der Insektenkunde war, was Linné und Kolleg*innen auch dadurch anerkannt haben, dass inzwischen sechs Pflanzen, neun Schmetterlinge und zwei Wanzen nach ihr benannt sind. Ihre Unabhängigkeit, ihre Neugier und ihr verblüffend wissenschaftliches Denken, für das sie überhaupt kein Vorbild gehabt hat, machen Maria Sibylla Merian zu einer beeindruckenden Frau des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts.
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Quellen: Helmut Kaiser: Maria Sibylla Merian: eine Biographie. Artemis und Winkler, Düsseldorf/Zürich 1997. Charlotte Kerner: Seidenraupe, Dschungelblüte: Die Lebensgeschichte der Maria Sibylla Merian. Beltz & Gelberg, Weinheim/Basel 1988.
Lesehinweise: Wer sich „der Merianin“ lieber belletristisch nähern will, wird auch fündig: Utta Keppler schreibt über Die Falterfrau Maria Sibylla Merian, Inez van Dullemen über Die Blumenkönigin (Übersetzung: Marianne Holberg) und Nicole Steyer über den Fluch der Sommervögel.
Weil wir gar nicht so viele Bücher schreiben können über all die tollen Frauen, die gelebt haben, erzählen wir euch davon. Von A wie Alice Ball bis Z wie … hm … oder zumindest bis W wie Wilhelmine Reichard.
Dabei konzentrieren wir uns auf Frauen aus Wissenschaft und Forschung, Politik und Wirtschaft.
Zu Beginn haben wir eine lange Liste mit Persönlichkeiten erstellt, die wir euch vorstellen möchten, und immer mehr kommen hinzu.
Es gibt also viel zu entdecken. Falls euch jemand mit Z einfällt, meldet euch am besten sofort über unser Kontaktformular.
Mit dieser zweiten Kurzbio bleiben wir in der Schweiz, sogar in Graubünden, denn in der Savogniner Biblioteca populara, die ich diesen Sommer mehrfach besucht habe, gibt es nicht nur Regionalkrimis auszuleihen, sondern auch einige interessante…