Mit dieser zweiten Kurzbio bleiben wir in der Schweiz, sogar in Graubünden, denn in der Savogniner Biblioteca populara, die ich diesen Sommer mehrfach besucht habe, gibt es nicht nur Regionalkrimis auszuleihen, sondern auch einige interessante Biografien über Frauen aus der Region. Dazu gehört Greti Caprez-Roffler.
Am 13. September 1931 geschieht etwas Unerhörtes in Furna, einem 200-Seelen-Ort im Prättigau: Eine Frau wird zur reformierten Pfarrerin gewählt – die erste in der Schweiz. Damals ist es Frauen gar nicht erlaubt, dieses Amt zu bekleiden. Was ist also geschehen?
„Nun gibt es wohl nichts anderes mehr als hindurch“
So schreibt Greti Caprez-Roffler in ihr Tagebuch, als sie die Stelle annimmt. Zuvor hat sie ihre Welt bereits mit einem einjährigen Aufenthalt in Sao Paolo erweitert, wo das Klima offener ist als in der Schweiz, sodass sie sogar Gottesdienste übernehmen konnte. Nun ist sie 25 Jahre alt, verheiratet und Mutter eines kleinen Kindes. Auf Fotos aus dieser Zeit trägt sie die Haare streng zurückgekämmt und wohl in einem Dutt zusammengefasst. Sie sieht ein wenig träumerisch aus, und später gesteht sie, dass sie furchtbare Angst davor hat, vor Menschen reden zu müssen. Dennoch täuscht der träumerische Eindruck. Sie hat sich durchgebissen.
Eigentlich hat sie in Zürich Altphilologie studiert, aber in den Hörsälen der Theologie wurden die „letzten und tiefsten Fragen“ diskutiert, schreibt sie, und dort war sie dann immer häufiger anzutreffen. Ihr Vater Josias ist ebenfalls Pfarrer, von großem Ansehen in Graubünden, ziemlich fortschrittlich, und er setzt durch, dass sie das Examen machen darf. Er ist in Furna aufgewachsen, und Greti kennt das abgeschiedene Dorf, das noch nicht einmal an das Stromnetz angeschlossen ist. Als dort ein Pfarrer gesucht wird, organisiert er die Wahl für sie – und Greti wird angenommen: „Wenn unser Pfarrer keinen andern Fehler hat, als dass er einen Rock trägt, behalten wir ihn“, sagen die Furnaer. (Kurze Zeit später setzt Greti durch, dass die Mädchen im Winter Hosen tragen dürfen.)
„Dass es eine Schande ist, ein Weib zu sein“
Doch die Kirchenoberen protestieren sofort: Die Wahl sei rechtswidrig. Greti ist wütend – ihre Eignung wird nur deswegen infrage gestellt, weil sie eine Frau ist, dazu noch verheiratet. Die Furnaer stehen ihr weiter zur Seite, sodass sie erst einmal im Amt bleibt. Sie schreibt einen viel gelesenen Zeitungsartikel, in dem sie das Frauenpfarramt und allgemein die Frauenarbeit verteidigt, recht radikal sogar, und regt sich über genau das auf, was heute immer noch viele Frauen im Job umtreibt: Warum werden die Väter eigentlich nicht gefragt, wie sie mit Arbeit, Haushalt und Kleinkind zurechtkommen? (Ihr geliebter Mann Gian, mit dem sie sich auf Augenhöhe fühlt, bleibt übrigens erst einmal in Zürich und arbeitet dort als Ingenieur.)
Frauen, heißt es von ihren Kritikern, seien nicht objektiv genug, um dieses wichtige Amt zu übernehmen, sie agieren auf Grundlage ihrer Gefühle statt ihres Verstandes, sie sollen Mutter sein und nicht den Männern die Arbeit wegnehmen, blabla, man kennt das und ärgert sich immer noch darüber. In der evangelischen Kirche dürfen Frauen damals nur als Aushilfspfarrerinnen sowie in der Mütter- und Krankenseelsorge tätig sein.
Ihre sechs Kinder erzieht sie an allen Geschlechterstereotypen vorbei, ihre Söhne lernen stricken und kochen. Eine besonders liebevolle Mutter, die ihren Kindern genug Freiheit lässt, um sich selbst zu entwickeln, ist sie aber wohl nicht, und ihr Mann – liebevoll, sanft und gutmütig – mischt sich in die Erziehung kaum ein.
„Im Himmel gibt es keine Geschlechter“
Zurück zu ihrem Kampf um das Pfarramt: Die Kirchenoberen in Chur drohen Furna mit der Beschlagnahmung des gesamten Kirchenvermögens, und so bekommt Greti noch schnell ein ganzes Jahresgehalt ausgezahlt, damit sie das nicht mehr wegnehmen können. Ja, Furna steht hinter ihr.
Im Frühjahr 1932 erfolgt eine lautstarke Abstimmung über ledige (!) Frauen als Pfarrerin in Graubünden, aber zwei Drittel der Befragten, darunter auch viele Frauen, lehnen es weiterhin ab. (Immerhin dürfen diese Frauen schon in kirchlichen Dingen abstimmen, bis zum Gesamtwahlrecht der Frauen dauert es in der Schweiz ja noch bis 1971.) Greti bleibt drei Jahre in Furna und verzichtet die letzten anderthalb Jahre sogar auf ihren Lohn, weil mit der Beschlagnahmung ernst gemacht wurde. Es gefällt ihr in diesem Dorf mit seiner Bergbauerngemeinschaft, in der sie mit der Gleichberechtigung oft schon viel weiter scheinen als in der Stadt.
Danach zieht sie zurück nach Zürich zu ihrem Gian, der inzwischen selbst Theologie studiert hat und sofort eine Stelle als Pfarrer bekommt. Doch sie scheint es ihm nicht zu neiden, bleibt im Hintergrund, schreibt teilweise seine Gebete und Predigten, betreibt Seelsorge. In den 1940ern arbeiten sie und Gian in Chur gemeinsam als Gefängnis- und Spitalseelsorgerin – Gian erhält allerdings viel mehr Lohn als sie.
Die große Genugtuung kommt, als 1963 in Zürich und 1965 in Graubünden endlich auch Frauen ganz offiziell als Pfarrerinnen zugelassen werden. Sie gehört zu den ersten zwölf Frauen, die sich im Zürcher Großmünster ordinieren lassen. 1970 kehren sie dann tatsächlich nach Furna zurück, wo sie und Gian gemeinsam die Pfarrstelle übernehmen. So schließt sich der Kreis für Greti Caprez-Roffler (1906–1994).
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Dieser Artikel basiert auf einem Radiobeitrag von Gretis Enkelin Christina Caprez auf SRF2 und ihrem Buch Die illegale Pfarrerin vom Limmat-Verlag.