„Haltet sie vom Bergsteigen ab, sie schockiert ganz London“ – so äußerte sich eine Tante über Elizabeth Alice Frances Hawkins-Whitshed Burnaby Main Le Blond, die auf die höchsten Alpengipfel kletterte, Wintersportler:innen fotografierte, das alternative Leben in St. Moritz genoss und Bücher darüber schrieb.

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Im Jahr 1861 kommt Elizabeth Alice Frances Hawkins-Whitshed in London zur Welt. Sie ist das einzige Kind ihres Vaters, Sir St. Vincent Bentinck Hawkins-Whitshed, 3rd Baron of Killimcarrick. Dessen Familie gehört zur guten englischen Gesellschaft – er ist verwandt mit den Cavendish Bentincks und dem Duke of Portland und kann seine Wurzeln bis zu Katharina der Großen zurückverfolgen.

Das Schwarzweißfoto zeigt eine junge Frau aus dem 19. Jahrhundert mit einem Blumenstrauß im Gürtel des hellen, hochgeschlossenen Kleides und einem schwarzen Hut auf dem Kopf. Ihr Pony ist zu Löckchen gedreht.

Ein unterfordertes Kind

Elizabeth verbringt den Großteil ihrer Kindheit und Jugend in Killimcarrick House, einem Herrenhaus im irischen County Wicklow, etwa 18 Meilen südlich von Dublin. Dort spielt sie mit den Hunden und tobt im Wald herum. Erzogen wird sie von ihrer Mutter Anne Alicia (1837–1908), Tochter des Reverend Sir J. Handcock, und einem Kindermädchen, aber als Erwachsene beklagt sie mehrfach, dass sie so gut wie keine Bildung erhalten habe. Für junge Mädchen in adligen Kreisen war das nicht vorgesehen.

Ihr Vater ist mit der Verwaltung des Hauses und der großen Ländereien überfordert. Er überarbeitet sich, isst nicht mehr und stirbt 1871 an sogenannter Nervenerschöpfung. Seine Tochter erbt zwar seinen Besitz, darf ihn als Frau jedoch nicht verwalten oder anderweitig über ihn bestimmen. Außerdem ist sie ja noch minderjährig und kommt deshalb unter Amtsvormundschaft.

Nun wird von ihr erwartet, dass sie bald heiratet und einen männlichen Erben produziert, der Haus und Land übernimmt.

Die erste Hochzeit

Als sie 18 Jahre ist, wird die zierliche junge Frau in London in die Gesellschaft eingeführt und heiratet ein Jahr später Captain Frederick Gustavus Burnaby (1842–1885). Er ist mit 37 Jahren deutlich älter als sie, groß und stark, hat sich als Soldat und Offizier einen Namen gemacht, aber auch als Abenteurer, der im Winter durch Zentralasien reitet und sieben Sprachen spricht. Durch die Heirat bekommt er 1000 GBP im Jahr von Elizabeths Eigentum zugesprochen, der Rest wird für den ersten Sohn aufbewahrt.

Das Gemälde zeigt einen Mann in Militäruniform, der sich entspannt auf einem Sofa zurückgelehnt hat, die Beine übergeschlagen hat, eine Zigarette raucht und den Mund leicht geöffnet hat. Neben ihm liegen Bücher und seine Mütze.

In Irland lebt es sich um diese Zeit als Landadlige nicht besonders ruhig – von 1879 bis 1882 herrscht der sogenannte Land War, der zwar kein richtiger Krieg ist, aber dennoch mit Unruhen und manchmal auch Gewalt daherkommt: Bauern und Pächter kämpfen gegen Hunger und Verarmung und wünschen sich Landreformen und mehr Rechte. Meist versuchen sie es mit Arbeitsverweigerung, bis ihnen bessere Behandlung und Bezahlung zugesichert wird. (Aus dieser Zeit stammt übrigens der Begriff des Boykotts.)

Fred entscheidet sich für ein Leben in London. Während Elizabeth sich noch über die große Hochzeitsfeier mit 400 Gästen in Kensington und die extravaganten Geschenke freut, wird ihr danach auf Hochzeitsreise in der Kurstadt Bad Homburg schon ein wenig langweilig. Auch ihre Wohnung in Kensington und Freds Überlegungen, Politiker zu werden, überzeugen sie nicht. Sie hatte gehofft, mit dem großen Abenteurer ein spannendes Leben zu führen.

Ein erstes Abenteuer

Zum Glück geht es doch bald auf Reisen. Bereits schwanger, begleitet sie ihren Mann nach Frankreich und über das Mittelmeer nach Algerien, wo sich um diese Zeit viele reiche englische Tourist:innen aufhalten. Ob die beiden sich dort nur erholen, ist unklar. Möglicherweise sind sie spionierend Spionin unterwegs und erkunden zum Beispiel die Eisenbahnstrecken, die das französische Militär durch Nordafrika baut. Für eine solche Art des unauffälligen Auskundschaftens werden oft Reisende, Landvermesser, Wissenschaftler und Fotografen genutzt.

Am 10. Mai 1880 kommt Elizabeths erster und einziger Sohn Harry Arthur Gustavus St. Vincent Burnaby zur Welt. Den gibt sie bald in die Obhut ihrer eigenen Mutter, weil ihr Arzt ihr verkündet, es bestehe Verdacht auf Tuberkulose und sie solle in die Schweiz reisen.

Der erste Blick auf die Alpen

Im Sommer 1881 sieht sie zum ersten Mal die Alpen. Anfänglich ist sie wenig begeistert. Mit einer Freundin hält sie sich in Interlaken und Montreux auf, und auf die hohen Berge in der Ferne will sie keinesfalls einen Fuß setzen – Bergsteiger:innen riskierten ihr Leben für nichts.

Doch dann wird sie ermutigt, aus dem Ort und in die Berge zu gehen. Und so wandert sie mit ihrer Freundin ganze 90 Kilometer und 1400 Höhenmeter von Montreux nach Chamonix. Ein Erweckungserlebnis: Sofort fühlt sie sich körperlich besser.

Das Schwarzweißfoto aus dem 19. Jahrhundert zeigt einen tief verschneiten Berg und zwei Bergsteiger in schwarzen Anzügen und Hüten mit Wanderstöcken, die mit einem Seil aneinander befestigt sind.

Sie schafft sich einen Alpenstock an, in den sie sich jede Begehung bzw. Besteigung gravieren lässt, und bittet die Bergführer, ihr Routen zu zeigen und Techniken beizubringen.

Im Rock auf den Gipfel

Meist ist sie dabei in Reitkleidern unterwegs, mit Absatzschuhen und Hütchen. Im Rock zu klettern, scheint uns heute lächerlich und absurd gefährlich. Und gefährlich war es tatsächlich: Röcke werden nass und schwer im Schnee, oder der Wind fährt darunter und bringt die Trägerin aus dem Gleichgewicht. Aber sie hatten auch Vorteile: Die Frauen konnten sie als Decke benutzen, um sich zu wärmen, hatten großen Taschen für ihre Ausrüstung und konnten ungesehen urinieren. Manche Bergsteigerinnen trugen Pluderhosen, wie auch schon Henriette d’Angeville, die als erste (oder zweite) Frau auf dem Gipfel des Mont Blanc stand.

Auch Elizabeth besteigt von Chamonix aus zweimal den Mont Blanc. Das Bergfieber hat sie gepackt, und das bleibt nicht unbemerkt. Die britische Presse berichtet über ihre Expeditionen, und um diese Zeit muss auch der schockierte Ausruf ihrer Tante erfolgt sein,

Das Schwarzweißfoto zeigt einen schwarz gekleideten Mann mit Gehstock steht auf einem Gletscher.

Schon 1882 trennt Elizabeth sich wieder von ihrem Mann Fred Burnaby.

Kurzer Überblick über die Geschichte des Alpinismus

Der Alpinismus lässt sich in drei Phasen einteilen:

  • 1780er–1850er: Noch sind es wenige Menschen, die etwas Erholsames in der harschen Bergwelt finden. Nur unkonventionelle Einzelpersonen, die es sich leisten können, reisen in die Schweiz, um die urtümliche Natur zu erleben.
  • 1850er–1860er: Diese zwei Jahrzehnte sind das „Goldene Zeitalter“ des Alpinismus. Vor allem bürgerliche Engländer:innen reisen in die Alpen, setzen sich ehrgeizige Ziele in Form von Erstbesteigungen und professionalisieren sich. Sie rühmen sich weiterhin ihrer Individualität, denn noch ist die Schweiz nicht überlaufen. Die Infrastruktur, die sich in den langen Jahren zuvor langsam gebildet hat, wird weiter ausgebaut. Als Ende dieser Zeit kann man eventuell den Absturz am Matterhorn sehen, bei dem 1865 drei englische Bergsteiger und ein Bergführer ums Leben kamen. Queen Victoria soll überlegt haben, das Bergsteigen für Engländer:innen zu verbieten.
Das Gemälde von Doré zeigt sieben Personen an einem Berg, die durch ein Seil verbunden sind. Die unteren vier stürzen den Hang hinunter.
  • Ab 1870er: Der Massentourismus beginnt. Thomas Cook organisiert Gruppenreisen, an denen sich nun auch weniger wohlhabende Tourist:innen beteiligten. Sie möchten dem Stress des modernen, industriellen Lebens in der Stadt entkommen. In der Schweiz werden Wege und Hütten gebaut. Hotels werden errichtet, der Kurtourismus entsteht. Es erscheinen Reiseführer wie der uns heute noch bekannte Baedeker. Dass es Spaß macht zu wandern, entdecken die Menschen erst, als sie im Alltag nicht mehr gezwungen sind, alles zu Fuß zu erledigen, weil es mehr öffentliche Transportmittel und Fahrräder gibt. Die „alten“ Bergsteiger – reich, weiß, aus der Oberschicht – sind entsetzt und fühlen sich überrannt. Elizabeth sagt: „I have an aversion to tourists“.

Als Frau auf den Bergen – aber nicht allein

Mit jeder neuen Besteigung erkennt Elizabeth, dass sie Kontrolle über ihren Körper hat, dass sie besonnen handeln und die richtigen Entscheidungen treffen kann. Vielleicht ist sie gar nicht so krank, wie die Ärzte sagen? Vielleicht hat sie in Irland und England einfach nie Gelegenheit gehabt, sich auszuprobieren?

Bewegung, das merkt sie jetzt, heilt nicht nur ihren Körper, sondern auch ihren unterforderten Geist. Sie lernt viel, zum Beispiel, wie man Temperatur und Luftdruck misst, wie man Blumen und Steine sammelt und klassifiziert und wie man beim Aufstieg Probleme löst und Routen findet.

So geht es vielen Frauen um diese Zeit: Ihr Leben lang fühlen sie sich überflüssig und dürfen nichts lernen. In den Alpen fühlen sie sich frei.

Im englischsprachigen Wikipedia-Artikel steht, Elizabeth sei Pionierin des Bergsteigens gewesen zu einer Zeit, in der es kaum Frauen gab, die auf Berge stiegen. Aber wenn man sich Elizabeths Fotos ansieht (und von denen gibt es zahlreiche), sieht man dort jede Menge Frauen, die am Seil die Hänge hoch klettern oder im Engadin Wintersport betreiben!

Das Schwarzweißfoto zeigt eine verschneite Berglandschaft. Im Vordergrund sieht man vier Figuren mit Alpenstöcken, die durch ein Seil miteinander verbunden sind.

Es scheint eine gute Zeit gewesen zu sein, in der Frauen zwar immer noch Angst haben mussten, auf einsamen Wegen von Männer bedroht zu werden – oder auch in Hotels und Berghütten solchen Exemplaren zu begegnen, die ihren Raum nicht mit Frauen teilen wollten. Bestimmt wurden sie beim Bandyspielen und am Berg oft genug beobachtet und verspottet.

Doch die Tourismusbranche erkennt, dass sie eine eigene Zielgruppe sind. Die Reiseführer weisen auf für Frauen geeignete Touren hin. Bei der Verteilung der Bergführer wird darauf geachtet, dass sie Begleiter wählen können, mit denen sie sich wohlfühlen. Es werden mehr Damensattel angeschafft, damit die Frauen auf Pferden oder Maultieren zum Ausgangspunkt ihrer Besteigungen kommen.

Pointe Burnaby

Ab 1883 unternimmt Elizabeth auch Winterbesteigungen und kann sich verschiedener Erstbesteigungen rühmen. Nachdem sie den Ostgipfel des Bishorns erreicht hat, wird er ihr zu Ehren Pointe Burnaby genannt. Auch dass ihr einmal fast die Nase abfriert, hält sie nicht von weiteren Eroberungen ab.

Das Schwarzweißfoto zeigt eine Frau im 19. Jahrhundert, die sich Stoff vor das Gesicht gelegt hat, der durch ihre Brille und einen um den Kopf gewickelten Schal festgehalten wird. Es gibt ein Loch für den Mund und zwei für die Augen. Sie trägt darüber eine Sonnenbrille.

Im selben Jahr erscheint ihr erstes Buch mit dem Titel The High Alps in Winter; or Mountaineering in Search of Health (Die Hochalpen im Winter oder Bergsteigen für die Gesundheit). Im Alpine Journal des englischen Alpine Club wird es jedoch verrissen als wohl das schwächste und trivialste Buch, das einem alpinistisch interessierten Publikum je vorgesetzt wurde.

Ab 1884 hält sie sich regelmäßig in St. Moritz im Hotel Kulm auf.

Sie besteht als erste Frau die Prüfung für Eislauf der Männer.

Sie erhält die Goldspange der Schlittschuh-Vereinigung in St. Moritz.

Winter- und Sommertourismus

Die Begeisterung für die Wintersaison in den Bergen wird immer größer. Denn während Engländer:innen nur düstere, nasse Winter kennen, kann man in den Bergen auch bei Schnee auf der Sonnenterrasse sitzen und sich bräunen. Das Hotel Kulm installiert elektrisches Licht und eine neue Heizung. Es werden Curling-, Bandy- und Eislaufringe sowie Tennisplätze/-hallen und Rodelbahnen gebaut. (Das Skifahren wird erst in den 1890ern beliebt.)

Das Schwarzweißfoto zeigt eine verschneite Berglandschaft. Im Vordergrund klafft eine Gletscherspalte. Ein Mann steht direkt davor, stützt sich auf seinem Stock ab und blickt hinein. Hinter ihm stehen eine Frau und ein Mann, mit denen er über ein Seil zusammengebunden ist.

In St. Moritz ist aber nicht die beste Gesellschaft versammelt. Elizabeths schockierte Tante würde wohl niemals ins Engadin reisen. Denn dort urlauben Autor:innen, Musiker:innen, Künstler:innen, Journalist:innen, Schauspieler:innen – all jene, die den gesellschaftlichen Konventionen eine Weile entfliehen möchten oder nach einer skandalösen Scheidung oder Affäre Abstand brauchen.

Hier probieren sie sich aus, stellen Beziehungen und Geschlechterbilder infrage. Leslie Stephen (der Vater von Virginia Woolf und begeisterter Bergsteiger) bezeichnet die Alpen als „playground of Europe“.

Elizabeth als Fotografin

Elizabeth fotografiert all das. Sie hat sich in ihrem Hotelzimmer eine Dunkelkammer eingerichtet. Fotografieren, das dürfen Frauen, weil man dafür schließlich auch „weibliche“ Eigenschaften wie Sorgfalt braucht, statt männlicher Kraft.

Sie macht dokumentarische Naturaufnahmen, aber auch Sportaufnahmen mit modernen Kameras mit kürzeren Belichtungszeiten, was für die Sportfotografie natürlich ideal ist.

Die Aufnahmen verschenkt sie oft als Preise für Sportwettbewerbe oder verkauft sie für den von ihr gegründeten St. Moritzer Hilfsfonds. Vom Alpine Club werden ihre Bilder nur anonym ausgestellt. Sie wird Mitglied in der Royal Photographic Society und erhält später deren Ehrenmedaille.

Die zweite Hochzeit

Im Jahr 1884 lernt sie in Davos einen gewissen Dr. John Main (1854–1892) kennen, einen Doktor und Universitätsdozenten für Ingenieurwissenschaften. Er ist 31 Jahre alt und begeistert sich sowohl wissenschaftlich als auch ästhetisch für die Berge. Klettern geht er nicht. John hat Elizabeth möglicherweise an ihren Vater erinnert, denn auch John war von seinen beruflichen Aufgaben überfordert und überarbeitet. Er war langfristig krankgeschrieben.

Nachdem Elizabeths erster Mann, Fred Burnaby, 1885 in einer Schlacht im Sudan fällt, heiratet sie 1886 John Main. Auch er erhält 1000 GBP pro Jahr aus ihrem Vermögen. Daheim in England regt sich die englische Presse weiterhin über ihr Gebaren auf, aber Elizabeth ist weit genug entfernt, um daran keinen Gedanken zu verschwenden.

Für ihren Sohn findet sich nun eine offizielle Regelung: Elizabeths Mutter behält die Vormundschaft und heiratet einen deutlich jüngeren Mann (den ehemaligen Privatsekretär von Fred Burnaby), sodass der Sohn zwei Vormünder hat und jemand sich um die irischen Ländereien kümmern kann.

Sie hilft bei der Gründung einer englischen Zeitung für Tourist:innen vor Ort und schreibt über das Bergsteigen und den Wintersport für britische und amerikanische Magazine. Ihr Mann hält wissenschaftliche Vorträge über Mathematik, Astronomie und Eis.

Es hält nicht lang

Wenig später trennt Elizabeth sich schon wieder von ihm. Woran es liegt, weiß niemand. Sie erwähnt ihn in ihrer Autobiografie kein einziges Mal, und sie wird in seinem Nachruf nicht beachtet. Er zieht mit einer Schwester oder Cousine in die USA und arbeitet in Denver als Investmentbanker. Als er 1891 stirbt, will Elizabeth den ihr zustehenden Erbanteil nicht annehmen.

1890 ist Elizabeth als Expertin für die Abnahme einer Bergführerprüfung dabei.

1895 ist sie im Finale der Schweizer Rasentennis-Meisterschaft. (Tennis galt damals als Sport für Außenseiter:innen und Sonderlinge.)

1897 trifft sie auf Giovanni Segantini, um mit ihm im Auftrag des Verkehrsvereins über die Weltausstellung 1900 zu sprechen. Segantini möchte gern einen Pavillon gestalten, in dem die gesamte Bergwelt des Engadins als Panorama dargestellt wird. Aus finanziellen Gründen wird daraus leider nichts. Elizabeth fotografiert ihn am Silsersee.

Das Schwarzweißbild zeigt den Maler Giovanni Segantini, der am Rand eines zugefrorenen Sees steht und in die Kamera blickt.
Das sepiafarbene Schwarzweißbild zeigt eine große Eisfläche und im Hintergrund einen schneebedeckten Berg. Auf dem Eis steht eine Frau in schwarzem Kleid und Hut mit Schlittschuhen an den Füßen.

Sie begeistert sich auch fürs Radfahren und legt über 90 km von Chur bis St. Moritz auf dem Sattel zurück, fährt nach Italien und Frankreich. Die Frauenrechtlerin Susan B. Anthony sagte einmal, das Fahrrad habe mehr für die Emanzipation der Frauen getan als alles andere, weil die Frauen dadurch viel mobiler und freier wurden. Elizabeth hätte wohl zugestimmt.

Ärzte warnen, Männer winseln

Währenddessen warnt die Ärzteschaft, dass sportliche Überanstrengung den Frauen das Kinderkriegen erschwere und Bobfahren ihren Brüsten schaden können. Immer wieder werden biologische Gründe angeführt, um Frauen im Haus zu halten.

Und mit Ende des 19. Jahrhunderts ändert sich langsam die Einstellung den Frauen gegenüber wieder.

„Ich bin sonst absolut kein Weiberfeind“, schreibt ein freundlicher Herr, aber: „Offen gestanden, bedaure ich es, dass ein weiblicher Fuss den stolzen Nacken dieses männlichsten aller Berge betreten hat“.

Der männlichste aller Berge. Egal, welchen er gemeint hat: Alle Berge sind für diese Männer männlich. Sie sind dafür da, bestiegen und besiegt zu werden und zu zeigen, was Naturburschen erreichen können. Um diese Zeit lief es nicht gut für die Männer. So viele lebten inzwischen in der Stadt und arbeiteten als Anwalt oder im Büro. Sie verweichlichten, waren körperlich nicht mehr fit. Deshalb verlor England auch Kriege.

Gleichzeitig erzielten die Frauen erste Siege für ihre Gleichberechtigung: Sie bekamen mehr Rechte in der Ehe, sie arbeiteten häufiger, studierten häufiger.

Die Natur sollte den Männern also helfen, wieder stärker, leistungsfähiger, männlicher zu werden, nicht nur, was ihre Körperkraft anging, sondern auch ihren Entdeckungsgeist.

Der Nationalgedanke spielt dabei natürlich auch immer eine Rolle. Wenn die Engländer auf schweizerische Berge steigen, stärken sie die „imperiale Macht“ Englands.

Frauen hatten in dieser Welt nichts zu suchen. Die Männer wollten doch endlich wieder Männer sein und sich nicht gleich wieder bedroht fühlen vom schwachen, aber so manipulativen Geschlecht.

Alpenvereine und andere Clubs

Um einen geschützten Raum zu haben, gründen Männer wohl schon immer Clubs und erlauben Frauen den Zutritt nicht. So war es auch in den Alpenvereinen. 1907 wurden Frauen aus dem Schweizer Alpenclub ausgeschlossen und erst 1980 wieder zugelassen. Im DAV nahmen die letzten Sektionen erst ab 1997 wieder Frauen auf.

Der berühmte Golfclub im schottischen St. Andrews hat noch später Frauen zugelassen: 2014.

Auf Long Island wird Lehrerinnen das Fahrradfahren verboten, es sei unsittlich.

1907 wird in Wimbledon das Frauen-Doppel abgeschafft.

Einer der Gründer der modernen Olympischen Spiele und Präsident des Komitees, Pierre de Coubertin, sagt, Frauen haben im Sport generell nichts zu suchen.

(Aber nicht nur Frauen betrifft die Ausschlusswut der weißen Männer: Schwarze Männer werden vom Baseball ausgeschlossen, sobald der Sport professioneller und lukrativer wird. Über Schwarze Frauen muss man wohl gar nicht erst reden, genauso wenig wie über Homosexuelle und später natürlich jüdische Menschen.)

Nur was dokumentiert wird, hat stattgefunden

Um nachweisen zu können, dass man (Mann) wirklich auf dem Gipfel eines Berges gestanden hatte, musste man dies dem Alpine Club oder seinem jeweiligen Verein melden, der es dann durch Dokumentation offiziell machte. Die Bergsteiger konnten auch selbst Artikel über ihre Taten veröffentlichen. Frauen war das zwar anfangs noch erlaubt, aber nur anonym. Je mehr sich die Männer organisierten, desto weniger Platz bekamen die Frauen.

All das mag neben ihrem Privatleben auch ein Grund für Elizabeth gewesen sein, den Alpen den Rücken zu kehren.

1898 ist sie zwar noch bei der ersten Überschreitung des Piz Palü durch eine reine Frauenseilschaft (cordée féminine) dabei, gemeinsam mit Evelyn McDonell.

Von 1899 bis 1902 versucht sie sich an Filmaufnahmen, die in 1 bis 2 Minuten Länge Sportereignisse im Engadin zeigen. Heute sind diese Filme leider verschollen.

Nach Norwegen mit dem liebsten Bergführer

Aber dann wendet sie sich nach Norden und ist zwischen 1897 und 1899 mehrfach in Nordnorwegen unterwegs, wo sie 38 Erstbegehungen und 29 Erstbesteigungen verzeichnen kann. Immer dabei ist ihr zwanzig Jahre älterer Bergführer Josef Imboden (1840–1925).

Das Schwarzweißporträt zeigt den Bergführer Josef Imboden in Anzug und Hut. Er hat einen großen Schnauzbart und eine strenge Falte zwischen den Augen.

Die Beziehung zu einem Bergführer muss gezwungenermaßen vertrauensvoll und eng sein, Oft ist körperlicher Kontakt erforderlich, den viktorianische Frauen niemals mit Männern aus derselben Gesellschaftsschicht erlauben würden: Sie müssen sich an der Hand nehmen, sich ein Seil um die Taille knüpfen lassen. Elizabeth steht einmal auf Imbodens Schultern.

Welche Eigenschaften ein guter Bergführer haben sollte? Elizabeth sagt: zuallererst Vorsicht, dann einen starken Wille, Forschheit und Mut. Er muss den Schnee gut kennen, in Gefahrenmomenten ruhig bleiben, in Notfällen schnell handeln und einfallsreich sein. Er muss stark und gesund sein, ein ausgeglichenes Temperament haben und selbstlos, ehrlich und erfahren sein,

All diese Eigenschaften brachten Josef Imboden und sein Sohn Roman wohl mit. Roman starb früh, 1896, was Elizabeth sehr mitgenommen hat.

Das Schwarzweißfoto zeigt Elizabeth Main neben einer Steinpyramide auf einem Berggipfel. Sie stützt sich auf einem Stock oder einem Eispickel ab. An ihren Hut hat sie eine Feder geklemmt.

Die dritte Hochzeit

Im Jahr 1900 lernt sie ihren dritten Mann kennen. Francis Bernard Aubrey Le Blond (1869–1951) heißt er, ist fast zehn Jahre jünger als sie, ältester Sohn eines Kaufmanns und begeisterter Porzellansammler. Er hat in Cambridge Sprachen studiert und spielt gern Tennis. Nun reist er seit drei Jahren durch Europa, sie lernen sich in St. Moritz kennen. Doch nach einer Weile gerät das Unternehmen seiner Familie in Gefahr, und er muss zurück nach England.

Elizabeth folgt ihm, heiratet ihn und lebt dann mit ihm in Kensington. Sie wird krank und leidet unter einer Phlebitis, die sie wochenlang ans Bett fesselt. Wenn es ihr besser geht, hält sie Vorträge und schreibt journalistische Artikel.

Der Ladies’ Alpine Club

1907 wird Elizabeth von der Bergsteigerin Adeline Edwards gefragt, ob sie Präsidentin des neu zu gründenden britischen Frauenbergsteigervereins werden will. Sie sagt zu und übernimmt diese Rolle von 1907 bis 1912 und dann noch einmal von 1931 bis 1934.

Die Frauen in diesem Verein – weiße Frauen in ihren Vierzigern aus der Oberschicht, wohlhabend, aus London und Südengland – wollen sich nicht damit zufriedengeben, dass sie im Sport von den Männern verdrängt werden. Sie veröffentlichen eigene Fachliteratur (zu Routen, Kleidung, Bergführern) und dokumentieren ihre eigenen Errungenschaften, wenn auch nicht so auf Siege fokussiert wie die Männer. Sie leisten soziale und politische Arbeit, halten Vorträge und organisieren Netzwerktreffen.

Viele der Mitglieder sind Suffragistinnen. Elizabeth setzt sich nicht selbst für das Frauenwahlrecht ein, sagt aber, sie würde sich natürlich freuen, wenn es soweit käme. Einige Bergsteigerinnen lassen sich auf den Gipfeln mit „Votes for Women“-Plakaten fotografieren oder schreiben diesen Slogan in die Gipfelbücher.

Das Schwarzweißfoto zeigt einen Mann und eine Frau mit Bergsteigerausrüstung. Der Mann blickt in die Ferne. Die Frau hat sich einen Schal um ihren Kopf und Hut geschlungen und hält Schneeschuhe in der Hand.

Andere Ziele

In den Jahren 1912 und 1913 reisen Elizabeth und ihr Mann nach Ägypten, Ceylon, Russland und den Fernen Osten. Dort erwirbt Le Blond koreanisches Porzellan, das teilweise aus Raubgrabungen stammt und später in Teilen an das Victoria and Albert Museum übergeben wird.

Danach hält Le Blond sich vor allem im ländlichen England auf und bewirtschaftet einen Hof. Seine Frau sieht er kaum. Stattdessen nimmt er sich eine Bedienstete zur Geliebten und nach Elizabeths Tod zur Frau. Angeblich soll diese viele Erinnerungsstücke und möglicherweise auch die Kurzfilme von Elizabeth verschenkt oder weggeworfen haben.

Im Ersten Weltkrieg

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs arbeitet Elizabeth als Freiwillige im Sanitätsdienst des Militärs. Und zwar im französischen Dieppe, da sie dort auch Ungelernte nehmen. Sie macht die Betten und wäscht die Patienten.

Später kehrt sie nach London zurück und arbeitet beim Roten Kreuz im Büro. Sie sammelt Spenden für das British Ambulance Committee, hält Diavorträge vor Soldaten und erhält eine Victory Medal für ihren Einsatz.

Spionage?

Im Jahr 1920 reist sie als Anhängerin der französischen Kolonialpolitik nach Marokko und trifft mit Hubert Lyauty zusammen, dem Maréchal de France. Auch hier stellt sich die Frage, ob sie inoffiziell diplomatisch oder möglicherweise als Spionin unterwegs war.

Sie unterstützt den British Empire Fund beim Beschaffen von Geldern für die Reparatur der Kathedrale von Reims.

Sie kämpft gegen ein Verbot des Frauenfußballs in England.

Im Jahr 1922 (oder 1929) heiratet ihr Sohn und zieht nach Kalifornien (oder Washington), und sie nimmt das zum Anlass, ihn zu besuchen und ausgedehnte Eisenbahnreisen durch die USA zu unternehmen. Auch dabei lässt es sich theoretisch gut spionieren.

Ihre letzten Jahre

1928 veröffentlicht sie ihre Autobiografie Day In, Day Out.

1933 wird sie für ihr Engagement für ihr „internationales Ideal“ zum Chevalier de la Légion d’Honneur ernannt.

Ihre letzten Jahre verbringt sie in London in einem Hotel, wie sie ja auch schon die ganzen Jahre im Hotel Kulm in St. Moritz gelebt hat. Dort trifft sie auf andere Reisende, aber genau dieses Hotel gilt wohl auch als inoffizieller Treffpunkt für Spione aus aller Welt.

1934 stirbt sie im Alter von 73 Jahren nach einem schweren medizinischen Eingriff. Sie wird in Kensington beerdigt, wo auch ihre Mutter liegt.

Elizabeths Nachlass

Zwar hat die zweite Frau ihres dritten Ehemanns möglicherweise einiges vernichtet, doch Elizabeth hatte viele ihrer Fotografien im Hotel Kulm hinterlassen. Von dort aus sind sie später ins Kulturarchiv Oberengadin gelangt. Viele dieser Bilder zeigen Sport treibende Frauen zu viktorianischen Zeiten – es gab sie, und man hätte sie niemals aus der Öffentlichkeit verdrängen sollen.

Elizabeths Bücher sind heute meist nur antiquarisch erhältlich. Der Großteil handelt vom Bergsteigen. Neben ihrer Autobiografie hat sie außerdem einen humorvollen Roman zum winterlichen Hotelleben in St. Moritz (The Story of an Alpine Winter) geschrieben sowie einen Reiseführer zu Spanien, einen Gartenführer zu Italien und eines über Fotografieren im Schnee.

Wie es mit dem Bergsteigen weitergeht

Die Alpen bergen irgendwann keine großen Herausforderungen mehr. 1938 wird die Eigernordwand bestiegen, die als eines der „letzten Probleme“ in den Alpen galt. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg blicken die Bergsteiger:innen auf den Himalaja.

Viele ehemaligen Soldaten aus Europa bewerben sich als Träger, Dolmetscher, Köche. Auch Marie Marvingt will ihre Dienste anbieten, aber sie wird ausgelacht.

Die Frauen aus der Region dürfen bis in die 1970er wenn überhaupt nur als Trägerinnen dabei sein. Wichtigere Rollen müssen sie sich erst erkämpfen. Die erste weibliche Sherpa steht erst 1993 auf dem Gipfel des Mount Everest. Heute wird in Pakistan und Afghanistan versucht, Mädchen und Frauen früh ans Bergsteigen heranzuführen und zu unterstützen, was natürlich gerade in Afghanistan so gut wie unmöglich ist.

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Quellen:

Aubrey Mrs. Le Blond: Adventures on the Roof of the World.
Aubrey Mrs. Le Blond: My Home in the Alps.
Daniel Anker, Ursula Bauer, Markus Britschgi, Cordula Seger: Elizabeth Main. Alpinistin – Fotografin – Schriftstellerin. Diopter Verlag 2003.
Rachel Hewitt: In Her Nature. How Women Break Boundaries in the Great Outdoors. Vintage 2024.
Tanja Wirz: Gipfelstürmerinnen. Eine Geschlechtergeschichte des Alpinismus in der Schweiz 1840-1940. hier+jetzt 2013.
Elizabeth Alice Hawkins-Whitshed, Wikipedia, abgerufen am 26.7.2024
Die Bergkönigin. Ein Leben als Pionierin: Elizabeth Main (1861–1934). Schweizer Alpen-Club SAC, abgerufen am 26.7.2024

Hörtipp von Susanne: Eine kleine Kulturgeschichte des Urlaubs

Lesetipp zum Thema Radfahren von Petra: Cycling’s Silent Epidemic

New Journalism, New Woman – Nellie Bly lebt zu einer Zeit in New York, in der so einiges neu erfunden wird. Und sie ist mittendrin. Ihr erster großer Coup: Sie lässt sich als Investigativ-Reporterin in eine Psychiatrie einweisen. Ihr zweiter, noch größerer Coup: Sie will es schaffen, in weniger als 80 Tagen um die Welt zu reisen. Angelehnt an den beliebten Roman von Jules Verne, selbstverständlich. Und Nellie Bly wäre nicht Nellie Bly, wenn es ihr nicht auch gelänge.

Später übernimmt sie dann noch das Unternehmen ihres verstorbenen Mannes, lässt mehrere Patente anmelden und versorgt ihre Arbeiter à la Google mit Pausenraum und gutem Essen, Tischtennisplatte und Pianoforte.

Als der Erste Weltkrieg ausbricht, ist sie gerade auf dem Weg nach Europa und entscheidet sich, aus dem Kriegsgebiet zwischen Österreich und Serbien wieder als Journalistin zu berichten. Es kommt, wie es kommen muss: Sie wird als Spionin festgenommen …

Bly ist wieder einmal eine dieser Frauen, die mehrere Leben gleichzeitig gelebt zu haben scheint. Ausführlich erzählen wir davon in dieser neuen Folge.

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Quellen:
Brooke Kroeger: Nellie Bly. Daredevil, Reporter, Feminist. Times Books, New York 1994.
Karen Roggenkamp: Sympathy, Madness, and Crime. How Four Nineteenth-Century Journalists Made the Newspaper Women’s Business. The Kent State University Press, Kent, Ohio 2016.

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Artwork und Musik: Uwe Sittig

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke

Frauenleben-Podcast

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Angst habe sie nie gehabt, sagte die Französin Marie Marvingt in einem Interview. Sie war Pilotin im Krieg und im Frieden, sie war Krankenschwester, Erfinderin des Luftrettungsdiensts, Extremsportlerin – und wohl ein Adrenalinjunkie.

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Marie Marvingt in Deperdussin aeroplane 1912
Marie Marvingt in einem Deperdussin-Flugzeug, 1912

Nachdem ich die Biografie von Rosalie Maggio gelesen hatte, fragte ich mich, wie diese Marie Marvingt all das, was sie getan und erlebt hat, in einem einzigen Leben unterbringen konnte. Und wie sollte ich es nun alles in eine Podcastfolge stopfen? Schon allein der Gedanke war erschöpfend 😉

Marie Marvingt
Marie Marvingt

Marie Marvingt war das Sinnbild der New Woman, die genau in der Zeit ins Leben gerufen wurde, in der (einzelne) Frauen sich bereits genug Freiheiten nehmen konnten, um ihre Träume zu verwirklichen, und in der ihnen auch die Voraussetzungen zur Verfügung standen, um Erfolg zu haben. In Marvingts Fall waren das vor allem die Technik – Automobile, Fahrräder, die ersten Flugzeuge.

Dazu gehörte ein unbedingter Wille, alles zu erreichen und immer das Beste zu geben.

Verblüffenderweise wurde sie dabei von der Öffentlichkeit stets unterstützt. Die Presse war ihre beste Freundin: Sie gab ihr ehrenvolle Spitznamen wie die „Verlobte der Gefahr“, die „wichtigste Frau in Frankreich seit Jeanne d’Arc“ und „Leonardo da Vinci im Rock“.

Marie Marvingt by Emile Friant 1914
Marie Marvingts Flugambulanz, Zeichnung von Emile Friant (1914)

Was diese Frau alles erlebt und ausprobiert hat, erfahrt ihr in dieser Folge.

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Empfehlung:
Der Film The Aeronauts (2019) mit Felicity Jones und Eddie Redmayne

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Quellen:
Rosalie Maggio: Marie Marvingt, Fiancée of Danger. First Female Bomber Pilot, World-Class Athlete and Inventor of the Air Ambulance. McFarland & Company 2019.

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Artwork und Musik: Uwe Sittig

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke

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Maria Sibylla Merian war Malerin und Insektenforscherin – in einer Zeit, in der Frauen in den Wissenschaften nichts zu suchen hatten und Insekten als Teufelsbrut galten.

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Ihr Nachname ist bekannt: Maria Sibyllas Vater war Matthäus Merian der Ältere (1593–1650), Schweizer Kupferstecher und Verleger, der bis heute für seine Städteansichten, Landkarten und Chroniken bekannt ist. Das Haus Merian war einer der größten europäischen Verlage, ansässig in Frankfurt am Main, das auch damals schon als Zentrum des Buch- und Verlagswesens galt. Sogar zweimal jährlich fand eine geschäftige Buchmesse statt.

Matthäus Merian der Ältere

Kindheit mit Puffärmelchen

Maria Sibylla wird am 2. April 1647 geboren. Der Dreißigjährige Krieg neigt sich doch endlich dem Ende zu. Die Hälfte der Bevölkerung ist tot, Seuchen toben durch Deutschland, die Überlebenden hungern. Angeblich kommt es sogar zu Fällen von Kannibalismus. Menschen strömen in die Städte in der Hoffnung auf Arbeit. Gleichzeitig breitet sich der Pietismus aus, eine mystisch-erbauliche, schwärmerische Strömung, die auf Verinnerlichung setzt und das Urchristentum wiederherstellen möchte.

Seit 1645 ist Johanna Sibylla Heim die zweite Frau des Matthäus Merian. Sie gilt als tugendsam, fromm und in Gelddingen kompetent. Maria Sibylla hat ältere Halbgeschwister, unter anderem Matthäus den Jüngeren (1621 geboren) und Caspar (1627), die nach dem Tod des Vaters den Verlag weiterführen. Matthäus der Ältere stirbt nämlich schon, als Maria Sibylla erst drei Jahre alt ist. Kurz zuvor soll er ausgerufen haben: Bin ich schon nicht mehr da, so wird man doch sagen: Das ist Merians Tochter. Eine schöne – und wahre – Prophezeiung.

Sie gilt als sein Lieblingskind, und einem von Matthäus dem Jüngeren gemalten Familienporträt wird sie nachträglich hinzugefügt – anders als die griechisch gewandete Familie jedoch im zeitgenössischen Kleid mit Puffärmelchen. In den Armen hält sie den riesigen Kopf einer Laokoon-Statue aus dem Louvre, die aber angeblich nichts weiter zu bedeuten hat, als dass der Maler sagen wollte: Schaut her, ich war in Paris.

Matthäus Merian d. J.: Familie des Künstlers

Laut Matthäus dem Jüngeren ist Johanna eine „Stiefmutter wie sie im Buche steht“. Mit einem Blick auf seine Autobiografie lässt sich allerdings auch sagen, dass er nicht unbedingt der netteste aller Stiefsöhne war … Sie werden streng religiös erzogen, Arbeit gilt als die höchste Tugend, und somit hat Johanna wohl auch einfach keine Zeit, ihre Kinder zu verhätscheln.

Ein neuer Stiefvater und eine unwiderstehliche Tulpe

Nach dem Tod ihres Mannes bekommt sie von ihrem Stiefsohn widerwillig ein kleines Erbe ausbezahlt und zieht mit Maria Sibylla ins Stadtzentrum von Frankfurt, wo sie ein kleines Haus mietet. 1651 heiratet sie Jacob Morell (ein Mann mit vielen Schreibweisen), einen Blumenmaler mit Kontakten in die Niederlande,  wo gerade die Tulpenmanie wütet. Er richtet im Haus eine Werkstatt ein, die die kleine Maria Sibylla immer wieder anzieht. Selten geht sie ihren Bruder Caspar in der Druckerei des Verlages besuchen, ansonsten sind die Kontakte zur Familie Merian kaum noch vorhanden.

Sie geht in die Schule – nicht selbstverständlich für Mädchen zu dieser Zeit, lernt Rechnen, Schreiben, Lesen, aber kein Latein, das für ihr frühes Interesse an den Naturwissenschaften eigentlich unabdingbar gewesen wäre. Denn Insekten haben es ihr angetan. Sie will sie allerdings nicht nur tot oder in Büchern studieren, sondern in der lebendigen Natur.

Dafür richtet sie sich heimlich auf dem Dachboden eine kleine Forschungsstation her, mit Dosen, Schachteln und Gläsern voller krabbelnder, kreuchender, fleuchender Insekten. Ob das wirklich so war? Das Haus war winzig, die Türen standen immer offen, Menschen gingen ein und aus. Wahrscheinlich hätte sie so etwas vor ihrer Mutter nicht geheim halten können. Und dann ist da noch die Anekdote mit dem Tulpenklau: Ein reicher Nachbar hat viel Geld ausgegeben und sich im Garten Tulpen angepflanzt. Maria Sibylla pflückt sich eine der Blumen (je nach Quelle auch das gesamte Beet), um sie zu malen. Als der Nachbar es herausfindet, gibt es ein großes Donnerwetter. Maria Sibylla gesteht, dass sie unbedingt die wunderschönen Blüten malen wollte. Ungläubig lässt der Nachbar sich das Aquarell zeigen – und ist so begeistert von Maria Sibyllas Talent, dass er ihr nicht mehr böse sein kann.

Ausbildung zur Kupferstecherin – es bleibt in der Familie

Nun erhält sie auch einen eigenen Arbeitsplatz in der Werkstatt des Stiefvaters. Damals ist es gar nicht unüblich, dass die Frauen der Handwerkerfamilien mitarbeiten. Da Jacob Morell viel verreist, wird ihr der achtzehnjährige Abraham Mignon als Lehrer zugewiesen. Er bringt ihr bei, wie sie Aquarellfarben herstellt, welche Maltechniken es gibt, wie Kupferstiche entstehen, wie sie Gemälde komponiert.

Mit einem eisernen Grabstichel, befestigt an einem hölzernen Griff, vorne spitz, ritzt er feine Linien in die große, polierte Kupferplatte, die vor ihm schräg auf einem Pult liegt. Immer wieder vergleicht er mit der gezeichneten Vorlage. Für breitere Linien oder Flächen nimmt er ein vorne breiteres, rundes oder flaches Werkzeug. Mit einem Schaber entfernt er die kleinen, aufgeworfenen Kupferspäne entlang der Linien. Die so hergestellten Vertiefungen der Platte sollen später, beim Druck, die schwarze Farbe aufnehmen. Je tiefer die Linie, so erklärt er ihr, desto dunkler erscheint sie auf dem Papier. Hellere oder dunklere Schattierungen erreicht er durch engeren oder weiteren Abstand der Linien.

Helmut Kaiser, Maria Sibylla Merian: eine Biographie, S. 39.

Inzwischen geht es der Gesellschaft besser. Nach dem langen Krieg können die Menschen sich endlich wieder etwas gönnen. Seide gehört zu den größten Luxusartikeln, und ihre Herstellung ist in Europa noch gar nicht allzu lang bekannt. Mit dreizehn Jahren bekommt Maria Sibylla deshalb von einem Bekannten Seidenraupen geschenkt. Ihre Leidenschaft ist endgültig geweckt. Allerdings nicht für das Luxusgut Seide, sondern für die Entwicklung der Insekten, vom Ei über die Raupe und den Kokon bis hin zum wunderschönen Falter.

Sie beginnt mit einer wissenschaftlich fundierten, systematischen Erforschung der Insekten, findet heraus, welche Futterpflanzen sie brauchen, wie lange sich welche Art verpuppt und dass aus hübschen Raupen nicht immer unbedingt die hübschesten Schmetterlinge entstehen. Fast ein ganzes Jahrhundert vor Carl von Linné notiert sie ihre Beobachtungen und nimmt zum Beispiel bereits die Einordnung in Tag- und Nachtfalter vor.

Sommervögelein und Mottenvögelein

Ihre geliebten Schmetterlinge nennt sie Sommervögelein, die Nachtfalter Mottenvögelein. Damals hießen diese Tiere meist noch Butterfliegen (im Englischen heute noch butterflies) – das Wort Schmetterling hat denselben Ursprung wie das Wort Schmand, denn damals glaubt man, dass Hexen sich gern in Schmetterlinge verwandeln und die Milch ranzig machen … Die schlimmste Zeit der Hexenverfolgung ist zwar zu Maria Sibyllas Zeiten schon vorbei, aber leicht hat es ihr der Aberglaube bestimmt nicht gemacht. Zudem meint man auch, dass Insekten generell aus Morast und Exkrementen entstehen und somit reine Teufelsbrut sind. (Es wurden sogar einige Insekten vor Gericht verurteilt, damit sie bestraft und ihnen der Teufel ausgetrieben werden konnte.)

Von ihrer speziellen Insektenleidenschaft aber einmal abgesehen, ist das Sammeln von Pflanzen usw. eigentlich gar nicht so schlecht angesehen, genauso wie das Beobachten der Sterne. Weiberarbeit, von Rousseau empfohlen, damit die Frauen nicht stattdessen auf schlimmere Gedanken kommen. (Seltsam, oder? Ist nicht gerade die Natur voll von Schweinereien und Sex?)

Mutter Johanna ist nicht besonders begeistert, aber der Stiefvater unterstützt sie. Außerdem ist da noch die Sache, dass Johanna sich vielleicht selbst die Schuld gibt an der seltsamen Leidenschaft ihrer seltsamen Tochter. Beim sogenannten Versehen geschieht es nämlich, dass eine Frau, die sich, während sie schwanger ist, zum Beispiel vor einem Hasen erschrickt, ein Kind mit Hasenscharte zur Welt bringt. Und Johanna hat während ihrer Schwangerschaft eine alte Truhe geöffnet, in die sich jede Menge Insekten verkrochen hatten. Darüber ist sie so erschrocken, dass die ungeborene Maria Sibylla vielleicht Schaden genommen hat …

Maria Sibylla muss ein introvertiertes Kind gewesen sein, das viel Zeit allein verbringt. Ihr Halbbruder Caspar ist viel unterwegs, Morell und Mignon genauso.

Maria Sibylla heiratet und wird von der Merianin zur Gräffin

Im Jahr 1665 ist sie achtzehn. Ein ehemaliger Schüler ihres Stiefvaters kehrt aus Italien zurück, wo er sich zum Architekturmaler hat ausbilden lassen. Andreas Graff kommt ursprünglich aus Nürnberg und ist zehn Jahre älter als Maria Sibylla.

Noch im gleichen Jahr heiraten sie. Es scheint für beide Seiten eine willkommene Ehe zu sein: Maria Sibylla darf weiter forschen und malen, er hingegen ist wohl ein bisschen faul und undiszipliniert und kann sich an ihrer Selbstständigkeit und ihrem Selbstbewusstsein festhalten. Außerdem hofft er vielleicht, dass ihm die Kontakte zum Verlagshaus Merian helfen. Die ja aber leider kaum vorhanden sind.

Im Jahr 1668 kommt die erste Tochter zur Welt, Johanna Helena. Zwei Jahre später ziehen sie nach Nürnberg, mit 25.000 Einwohnern eine enge Stadt, deren goldene Zeiten mit Dürer usw. jedoch vorbei sind. Hier wird Maria Sibylla aktiv: Sie eröffnet eine Stick- und Malschule für junge Patrizierinnen und Töchter aus Künstlerfamilien und nennt sie die Jungfern-Company. Sie zieht einen Farbenhandel hoch, verkauft Stickvorlagen und bemalte Stoffe (zum Beispiel Tischdecken). Außerdem gibt sie ihr erstes Blumenbuch heraus, bei der ihr laut Danksagung ihr „Eheliebster“ geholfen hat. Im Jahr 1678 wird die zweite Tochter geboren, Dorothea Maria, ganze zehn Jahre nach der ersten. Es bleibt bei zwei Kindern – für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich.

Die erste Veröffentlichung

Ihr erstes kleines Wunderwerk ist das Buch Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung, ganz elegant mit Ganzledereinband und Goldschnitt – und dem Hinweis „Tochter des M. Merian“. Je nach Geldbeutel kann es unkoloriert, teilkoloriert oder koloriert bestellt werden. Obwohl sie inzwischen Latein gelernt hat, entscheidet sie sich für eine Veröffentlichung auf Deutsch, damit alle es lesen können. Das Besondere bereits an ihrem Werk ist die Darstellung ökologischer Zusammenhänge und der Metamorphose der Insekten. Maria Sibylla denkt holistisch.

Als 1681 der Stiefvater stirbt, kehrt die Familie nach Frankfurt zurück. Maria Sibylla kümmert sich um ihre alternde Mutter, geht aber auch den gleichen Unternehmungen nach wie in Nürnberg. Vier Jahre später trennt sich das Ehepaar, und Andreas Graff zieht allein nach Nürnberg zurück. Sie bittet jedoch in einem Brief eine Freundin, sich um ihn zu kümmert, scheint ihm also trotz der Trennung noch wohlgesonnen.

Dann kehrt Maria Sibylla auch Frankfurt den Rücken. Sie zieht mit ihrer Mutter und ihren Töchtern nach Schloss Waltha in den Niederlanden (Westfriesland). Dort lebt bereits ihr Halbbruder Caspar in einer Labadisten-Gemeinde. Die Niederlande sind ein stark bevölkertes und im Vergleich zu Deutschland religiös sehr freies Land.

Living la vida Labadista

Der Franzose Jean de Labadie (1610–1674) war Pietist, predigte gegen Üppigkeit und Unsitten, gegen Tanz, Glücksspiel und luxuriöse Kleidung, gegen Besitz allgemein. Er wurde als eine Art zweiter Calvin bezeichnet. Dabei gab er jedoch immer nur Ratschläge und empfahl meditative Übungen – Dogmen verbreitete er nicht. Maria Sibylla ist zwischen solchen Strömungen aufgewachsen, sodass diese Hinwendung nicht aus dem Nichts kommt.

Schloss Waltha gehört Cornelis von Aerssen von Sommeldijk, dem Gouverneur von Surinam. Zur Orientierung: Surinam liegt in Südamerika, nördlich von Brasilien und ist etwa halb so groß wie Deutschland heute. Die Niederlande haben es gegen Neu-Amsterdam (das heutige New York) eingetauscht und wegen des Reichtums an Zuckerrohr kolonisiert. Der Familie von Sommeldijk gehört zeitweise ein Drittel des ganzen Landes. Drei von Cornelis’ Schwestern leben ebenfalls in der Sekte. Insgesamt sind es rund 350 Leute, als Maria Sibylla dort ankommt. Nachfolger von Labadie ist der weniger beliebte Pierre Yvon.

Maria Sibylla ordnet sich der Gemeinschaft jedoch auch hier nicht ganz unter – genauso, wie sie schon ihr Leben lang nicht allen Konventionen getrotzt oder offen dagegen rebelliert hat und trotzdem immer ihren eigenen Weg verfolgt hat. Sie lernt weiter (auch Holländisch), gibt ihren Töchtern eine gründliche künstlerische Ausbildung und erstellt ein Studienbuch mit Vorlagen für ihre späteren Werke.

Vier Jahre später stirbt Caspar. Prompt kommt Andreas Graff angereist, der Maria Sibylla bittet, doch wieder mit ihm zu kommen. Aber sie sagt Nein, ihre Töchter ebenso. Unverrichteter Dinge reist Graff wieder ab. Offiziell geschieden wird die Ehe jedoch erst sechs Jahre später, als er eine andere Frau heiraten möchte.

Aus dem Kokon hinaus in die Welt

Maria Sibyllas Zeit der Verpuppung (dieses Bild bietet sich einfach an …) endet 1690, als ihre Mutter stirbt und der Gouverneur von Sommeldijk in Surinam gewaltsam getötet wird. Die Zukunft des Schlosses ist ungewiss, und die Gemeinschaft löst sich wegen Uneinigkeit und Geldnöten auf.

Sie zieht, inzwischen 44 Jahre alt, mit ihren Töchtern nach Amsterdam. Mit 200.000 Einwohnern ist Amsterdam eine wohlhabende Hafen- und Handelsstadt, international durch zahlreiche Geflüchtete. Maria Sibylla kommt erneut in Schwung, richtet ihren Farbenhandel wieder ein und arbeitet auf Auftrag. Sie knüpft Kontakte, unter anderem zum Bürgermeister und dem Leiter des Botanischen Gartens.

Johanna Helena heiratet den Kaufmann Jacob Hendrik Herolt, der ebenfalls mit Surinam Geschäfte macht. Als sie von einer Reise dorthin zurückkehren, ist Maria Sibylla von den Schilderungen ihrer Tochter so begeistert, dass sie ebenfalls entschließt, die Überfahrt zu wagen. Sie braucht jedoch finanzielle Unterstützung, und das dauert. Patiencya ist ein gut Kräutlein, sagt sie sich.

Über den Atlantik: Maria Sibyllas Reise nach Surinam

Erst im Juni 1699 ist es soweit. Sie ist 52 Jahre alt. Sie macht ihr Testament, packt ihre 21-jährige Tochter Dorothea Maria ein und sticht in See. Wir befinden uns noch hundert Jahre vor Alexander von Humboldt und seiner Tour de Force durch Südamerika. Drei Monate lang sind die Frauen auf See. In der surinamischen Hauptstadt Paramaribo mieten sie ein Holzhäuschen mit Garten und machen sich jeden Tag in den frühen Morgenstunden auf in den Urwald.

Begleitet werden sie von ihren Sklaven. Zwar spricht Maria Sibylla sich vehement gegen die Sklaverei und die furchtbare Behandlung der Einheimischen und aus Afrika Verschleppten aus und irritiert damit die übrigen Siedler, aber sie nimmt sie offenbar doch zu Hilfe, um nicht vom Dschungel verschlungen zu werden. Wespen und Mücken stören bei der Arbeit, obwohl doch alles viel schneller gehen muss als zu Hause. Denn die gesammelten Tiere und Pflanzen verschimmeln oder vertrocknen sofort oder werden von anderen Viechern aufgefressen. Die Durchschnittstemperatur liegt bei 28 Grad. Wahrscheinlich ist es gut, dass Maria Sibylla schon so viel Erfahrung mit dieser Arbeit hat – alle anderen wären von der Artenvielfalt und der guten Tarnfähigkeit der Insekten vermutlich überwältigt gewesen. Einmal fahren sie auf dem Fluss etwa 65 Kilometer flussaufwärts zur dortigen Labadistenkolonie.

Allzu lange bleiben die beiden Frauen nicht in Surinam. Maria Sibylla wird krank – Gelbfieber, Malaria oder Ruhr – und muss abreisen. Sie ist nicht das einzige Opfer:

150 Jahre später, selbst unter verbesserten hygienischen Verhältnissen, gibt Schomburgk noch folgende Zahlen: Von 400 Deutschen, die 1839 angekommen waren, lebten 1844 noch 20. Von 10.000 Portugiesen waren bei seiner Abreise noch 3000 am Leben.

Helmut Kaiser, Maria Sibylla Merian: eine Biographie, S. 39.

Im September 1701 sind sie zurück in Amsterdam. Dorothea Maria heiratet, und Maria Sibylla erkennt, dass sie schon wieder Geld braucht. Sie malt auf Auftrag und bietet Teile ihrer einheimischen und surinamischen Insektensammlung zum Kauf an. Gleichzeitig erhält sie jedoch die Möglichkeit, ihre Ausstellung im Rathaus zu zeigen.

Metamorphosis Insectorum Surinamensium

Und sie fängt mit ihrem Hauptwerk an: Metamorphosis Insectorum Surinamensium. Dafür malt sie 60 Aquarelle im Folioformat, die als Vorlage für 60 Kupferstiche dienen. Beim Stechen helfen ihr aus Zeitgründen drei Künstler. Die erklärenden Texte verfasst sie selbst und entscheidet sich für eine lateinische und eine holländische Version. Wegen der hohen Kosten setzt sie auf Subskription: 15 Gulden soll die unkolorierte, 45 Gulden die kolorierte Version kosten. (Ein ganzer Batzen, denn für 12 Gulden erhält man laut Kaiser bereits zwei geschlachtete Kälber.) Dieses Mal braucht es keinen Hinweis auf den alten Merian mehr und auch der „Eheliebste“ wird nicht mehr erwähnt. Maria Sibylla ist eine eigenständige, selbstbewusste Künstlerin und Wissenschaftlerin.

Das Buch enthält neben den Zeichnungen der Insekten und ihrer Futterpflanzen auch Speisezubereitungen, Kultivierungsempfehlungen für tropische Pflanzen und Informationen zu ihrer Heilwirkung. Auch für ethnologische Beobachtungen ist Platz. Dabei bewertet sie niemals die Kultur der Eingeborenen, kritisiert aber umso stärker die Siedler und Kolonisten, die nur an den verdammten Zucker denken und die Einheimischen misshandeln, statt zum Beispiel Vanille und Weintrauben anzubauen. Sie berichtet, dass die Sklavinnen eine Pflanze kennen, mit der sie ihre ungeborenen Kinder abtreiben, weil sie der Überzeugung sind, dass die Babys so in Afrika wiedergeboren werden und dem elenden Leben in Surinam entgehen.

Sie wird mit ihrem Buch leider nicht reich, auch weil sie bei Arbeit und Material keine Kosten und Mühen scheut. Aus einer deutschen Version wird nichts, und auch die angedachte englische Übersetzung muss sie sich aus dem Kopf schlagen, obwohl sie so gern der Queen ein unterzeichnetes Exemplar zukommen lassen würde, so von Frau zu Frau.

Das Erbe der Merian

Im Jahr 1715 erleidet Maria Sibylla einen Schlaganfall, und zwei Jahre später stirbt sie mit siebzig Jahren. Ihr Grab ist nicht erhalten, aber ihre Werke werden in Amsterdam, im British Museum, in Basel und in Sankt Petersburg gut gehütet. Dort soll übrigens auch Vladimir Nabokov darauf gestoßen sein, was zu seiner Leidenschaft für das Schmetterlingssammeln geführt haben soll.

Nach ihrem Tod wurde sie häufig kritisiert und als unwissenschaftlich bezeichnet. Teilweise mag das stimmen – es gibt in ihrem Werk zum Beispiel die Zeichnung eines Insekts, dessen Kopf und Rumpf nicht zusammenpassen – angeblich hatte da ein Helfer den Schalk im Nacken.

Dennoch muss man unbedingt anerkennen, dass sie eine, wenn nicht gar die Vorreiterin der Insektenkunde war, was Linné und Kolleg*innen auch dadurch anerkannt haben, dass inzwischen sechs Pflanzen, neun Schmetterlinge und zwei Wanzen nach ihr benannt sind. Ihre Unabhängigkeit, ihre Neugier und ihr verblüffend wissenschaftliches Denken, für das sie überhaupt kein Vorbild gehabt hat, machen Maria Sibylla Merian zu einer beeindruckenden Frau des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts.

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Quellen:
Helmut Kaiser: Maria Sibylla Merian: eine Biographie. Artemis und Winkler, Düsseldorf/Zürich 1997.
Charlotte Kerner: Seidenraupe, Dschungelblüte: Die Lebensgeschichte der Maria Sibylla Merian. Beltz & Gelberg, Weinheim/Basel 1988.

Lesehinweise:
Wer sich „der Merianin“ lieber belletristisch nähern will, wird auch fündig: Utta Keppler schreibt über Die Falterfrau Maria Sibylla Merian, Inez van Dullemen über Die Blumenkönigin (Übersetzung: Marianne Holberg) und Nicole Steyer über den Fluch der Sommervögel.

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