Clärenore Stinnes liebte die Geschwindigkeit und scheute keine Gefahren. Eine Karriere im Konzern ihres Vaters Hugo Stinnes blieb der intelligenten jungen Frau trotz ihrer zahlreichen Talente verwehrt. Also wurde sie Rennfahrerin und umrundete als erster Mensch mit einem serienmäßigen Personenwagen die Welt. 

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Clärenore Stinnes war keine politische Kämpferin, die sich für die Gleichberechtigung von Frauen eingesetzt hätte. Dennoch führte sie für viele Jahre ein Leben jenseits der Norm und war nicht gewillt, sich in die Rolle zu fügen, die die Gesellschaft und vor allem ihre Mutter für sie vorgesehen hatte. 

Ein Rennfahrer in der Familie

Hausfrauliche Tätigkeiten interessieren Clärenore nicht, eine Ehe schließt sie zunächst für sich aus. Früh entdeckt sie ihre Liebe zu Autos und lernt schon mit 11 Jahren heimlich das Autofahren, indem sie die Chauffeure ihres Vaters dazu bringt, sie ans Steuer zu lassen. Der Rennfahrer Robert Dunlop aus der britischen Reifendynastie ist mit ihrer Tante Nora verheiratet. Er begeistert sie für Geschwindigkeit und mit 18 macht Clärenore den Führerschein. Ihr Vater Hugo Stinnes, der «Ruhrbaron» genannt, herrscht über einen Industrie- und Handelskonzern von enormer Größe. Auch die Berliner Teststrecke AVUS gehört zu seinem Imperium, dort trainiert sie nun regelmäßig ihre Fähigkeiten und scheut sich auch nicht, sich schmutzig zu machen, verbringt viel Zeit in der Werkstatt und lernt, wie man Autos repariert. 

Glanz und Glamour in Berlin

Hugo Stinnes fördert seine Tochter auch deshalb, weil sie ihm von all seinen Kindern am ähnlichsten ist. Als er unerwartet im April 1924 mit 54 Jahren verstirbt, bedeutet das für Clärenore nicht nur einen großen persönlichen Verlust, sondern auch einen Rückschlag hinsichtlich ihrer beruflichen Ambitionen.  Alleinerbin des Konzerns ist ihre Mutter Cläre, und die verlässt sich völlig auf die beiden ältesten Brüder. In dem Imperium aus Zechen, Seeschiffen, Handelsflotte, Hotels, Druckerei und Speditionsfirmen – knapp 300 Firmen insgesamt – ist für sie keine Position vorgesehen. In der Hyperinflation des Jahres 1925 ruinieren die Brüder das Lebenswerk des Vaters, während Clärenore im fernen Berlin ihr Leben lebt. Sie trägt Anzüge mit Schlips, raucht Kette und tanzt im Kempinski, es heißt über sie, sie habe einen rauen Charme und viel Humor. 

Clärenore Stinnes auf einem Tanzball der Berliner Secession 1926

Clärenore Stinnes: Europas erfolgreichste Rennfahrerin 

Mit 24 Jahren fährt sie unter dem Pseudonym Fräulein Lehmann ihr erstes Autorennen und feiert bis 1927 17 Rennsiege, fast ausschließlich gegen Männer. Von den Zeitungen wird sie als «Europas erfolgreichste Rennfahrerin» gehandelt. 1925 nimmt sie an der internationalen allrussischen Prüfungsfahrt teil, einer Rallye von St. Petersburg über Tiflis nach Moskau. Das Land ist damals noch weitgehend straßenlos, die Herausforderungen extrem. Clärenore Stinnes gewinnt als einzige Frau unter 52 Männern den dritten Platz. Anschließend fasst sie den Entschluss zur Weltumrundung. Die Reiseroute soll über den Balkan und den Nahen Osten durch Russland nach Sibirien führen, dann durch Asien, über Japan und Hawaii nach Mittel- und Südamerika, über die Anden nach Chile, einmal durch die USA und wieder zurück nach Europa. 460 Kilometer bei bis zu 53 Grad plus und bis zu 50 Grad unter null, hinweg über weglose Wüsten und unerschlossene Gebirgsketten.

Der Adler Standard 6

Das Auto, das Modell Adler Standard 6, verfügt über 45 PS, drei Gänge und sechs Zylinder. Natürlich gibt es weder GPS, Servolenkung, Klimaanlage oder ein Satellitentelefon. Ein Begleitfahrzeug transportiert Ersatzteile, es müssen Depots mit Benzin, Öl und Maschinenteilen angelegt werden. Um es vorwegzunehmen: Außer dem Motor geht im Laufe der Reise alles am Wagen mindestens einmal in die Brüche. Rückblickend schreibt Stinnes: «Wäre ich damals vom ersten Tage an nicht blind gewesen für alle Tücken des Materials, die uns bevorstanden, dann hätte ich aufgegeben. Aber diese Vokabeln fehlten in meinem Wortschatz.»

Von der Familie erhält Clärenore keinen Pfennig Unterstützung, stößt jedoch in Wirtschaft und Politik auf Interesse und Hilfsbereitschaft. Außenminister Gustav Stresemann verschafft Stinnes die notwendigen Durchreisevisa. 100 000 Reichsmark werden über Sponsoren aufgetrieben. Die Stinnes-Reise gilt als Aushängeschild für die Leistungskraft der deutschen Industrie.

Der Adler Standard 6

Söderström und Stinnes 

Kurz vor der Abreise heuert Stinnes den schwedischen Kameramann und Fotografen Carl-Axel Söderström an, der die Reise dokumentieren soll. Am 25. Mai 1927 geht es los. In Moskau bleibt der erste Mechaniker mit einer Blinddarmentzündung zurück, der zweite Mechaniker springt bei Kilometer 10000 ab. Carl-Axel Söderström bleibt, obwohl er sich wünscht, «er hätte sich auf diese verdammte Reise nie eingelassen». Er schreibt auch in sein Tagebuch: «Fräulein Stinnes muss aus Stahl gemacht sein, so wie sie alles aushält, ohne zu klagen.»

Im sibirischen Irkutsk sitzen sie zehn Wochen fest, bis der Baikalsee zugefroren ist. Während der Überquerung versinkt vor ihnen ein Schlitten samt Pferd. Clärenore, die am Steuer sitzt, gibt Gas und schafft es über den Spalt. Die Kamera läuft und bannt alles auf Film. Söderström schreibt in sein Tagebuch: «Mit heiler Haut davongekommen. Wölfe begleiten unsere Fahrt. Fräulein Stinnes bietet mir das Du an.» 

Cläerenore Stinnes und Axel Söderström 1930
Clärenore Stinnes und Axel Söderström 1930

Clärenore Stinnes fährt um die Welt

Die größte Herausforderung steht ihnen jedoch noch bevor und das ist die Überquerung der Anden. Der Adler wird mehr getragen, gezogen und geschoben, als dass er wirklich fahren würde. Doch sie schaffen es. Im Mai 1929 kommen sie in New York an und am 24. Juni in Berlin. Die Tachonadel steht jetzt auf 46 758 Kilometer. 1930 heiraten Clärenore Stinnes und Axel Söderström, der sich zuvor von seiner Frau Marthe scheiden lässt.

Aus dem Filmmaterial entsteht der Reisebericht «Im Auto durch zwei Welten» und der Dokumentarfilm «Fräulein Stinnes fährt um die Welt», der 1931 in den Kinos gezeigt wird. Die Zuschauer erleben Einblicke in andere Länder und Kulturen. Nach ein paar Vorträgen und einer kurzen Promotour schweigt sich Clärenore Stinnes 50 Jahre über ihr Abenteuer aus. Selbst in der eigenen Familie wird darüber nicht geredet.

Glückliche Jahre in Schweden 

Stinnes und Söderström ziehen sich aus der Öffentlichkeit auf ein Landgut in Schweden zurück, das Clärenores Familie gehört. Sie züchtet Pferde, er betreibt Landwirtschaft und sie bekommen drei Kinder, Björn, Ulf und Cläre. Im Stinnes-Clan verliert niemand ein Wort über Clärenores aufregendes Leben. Auch sie selbst reden nicht darüber, dieses Kapitel ihres Lebens haben sie abgeschlossen. Ihre Söhne Ulf und Björn erzählen später, wie sie den Film gegen Ende der vierziger Jahre zufällig entdecken: «Meine Mutter guckte immer nach vorn – deshalb war ihre Reise […] selten ein Thema.» Die Tagebücher ihres Mannes findet sie selbst erst nach dessen Tod am 27. November 1976. Clärenore Stinnes stirbt am 7. September 1990 in Schweden. 

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Tipps und Links

Interview von Michael Kuball aus den Siebzigern
https://www.youtube.com/watch?v=7PCXCryNqWo

Clärenore Stinnes. Der Film
https://www.youtube.com/watch?v=jj5aImYW1f0

Clärenore Stinnes fährt um die Welt.  Dokudrama
https://www.youtube.com/watch?v=ePdH50i-Dkg

Artwork und Musik: Uwe Sittig

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

Podcast-Website: Frauenleben-Podcast 

Instagram: https://www.instagram.com/frauenleben.podcast/