„Mich haben Frauen interessiert, die etwas mit Leidenschaft taten“

Januar 24, 2025

Angelika Overath ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie veröffentlicht Romane, Lyrikbände und Essays und stand zuletzt mit Unschärfen der Liebe (Luchterhand) auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2023. Mit ihrem Mann, dem Literaturwissenschaftler und Essayisten Manfred Koch, führt sie in Sent im Engadin eine Schule für Kreatives Schreiben.

2024 hat sie beim Limmat Verlag das Buch Engadinerinnen – Frauenleben in einem hohen Tal veröffentlicht, in dem 18 Frauen zu Wort kommen und ihr Leben erzählen. Es ist ein aufmerksames, behutsames und liebevolles Buch über sehr unterschiedliche Frauen. Manche sind im Tal geboren, andere sind hingezogen und haben ihre Heimat im Engadin gefunden.

Wir freuen uns, dass Angelika uns dazu für unseren Blog einige Fragen beantwortet.

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Liebe Angelika, seit wann lebst du in der Schweiz und wie hat es dich dorthin verschlagen?

Eigentlich wollten wir nur eine Ferienwohnung kaufen. Aber das Projekt hat sich etwas verselbständigt. (Ich schreibe darüber ausführlich in Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch). Wir fanden 2003 ein altes, seit drei Jahren leerstehendes Bauernhaus in Sent. Niemand wollte es. Als der Umbau fertig war, kamen wir auf die Idee, ganz nach Sent zu ziehen. Wir haben es nie bereut.

Buchcover von "Alle Farben des Schnees" von Angelika Overath mit zwei Holzhütten auf einem verschneiten Hang

Ist es dir schwergefallen, in der Dorfgemeinschaft anzukommen? Gab es Unterschiede, wie ihr als Mann und Frau (und Kinder) von Männern und Frauen (und Kindern) angenommen wurdet?

Wir zogen 2007 nach Sent. Unsere beiden grossen Kinder studierten schon. Der Kleine, Matthias, war sieben Jahre alt und kam mit. Die Gemeinde bezahlte ihm eine Weile Sprachunterricht. Denn die Unterrichtssprache in der Dorfschule war Rätoromanisch. Matthias war sportlich, ein guter Fussballer. Und mein Mann, der sich sehr für Fussball interessiert, wurde gleich einer der Trainer der Senter Fussballmannschaften. Es gab mehrere. Auch Mädchen spielten mit. Und bei Fussballturnieren im Tal waren sie sehr erfolgreich. Die Integration im Dorf ging also stark über das Kind. Mein Mann, Manfred, sagte immer: Angelika, wir sind Integrations-Streber. Das stimmt auch. Wir sangen im Dorfchor und versuchten, wo immer es ging, mitzumachen. Sent ist ein sehr lebendiges Dorf mit vielen Initiativen. Unsere grossen Kinder kamen in den Semesterferien oft zum Arbeiten ins Tal. Mein grosser Sohn jobbte nach dem Studium hier eine Weile. Er machte alles: Arbeit im Strassenbau, in der Käserei, im Service, er schrieb auch eine Weile für die zweisprachige Zeitung „Engadiner Post/Posta ladina“. Er war ziemlich beliebt.

Wie bist du auf die Idee zum Buch Engadinerinnen gekommen?

Wir kamen ja aus der Universitätsstadt Tübingen. Da war das Leben schon anders. Die Frauen waren anders. Schwer zu sagen wie. Vielleicht empfindlicher, oder zweifelnder. Im Engadin fiel mir auf, dass die Frauen stark waren und selbstbewusst. Sie packten überall mit an. Und sie waren sportlich. Die Grossmütter brachten den Enkeln das Skifahren bei. Vermutlich prägen die Berge, eine Landschaft, die nicht von Menschen gemacht ist, das Fühlen und Denken. Ein Sprichwort sagt: Kein Monat ohne Schnee. Das Leben hier ist auch hart. Man muss zusammenhalten, ein wenig nacheinander schauen.

Cover des Buchs "Engadinerinnen" von Angelika Overath, auf dem sich eine Frau über einen Zaun beugt und ein Schaf streichelt

Wusstest du von Anfang an, wen du interviewen wolltest? Waren die Frauen alle aufgeschlossen, oder musstest du dich an manche auch erst herantasten?

Von den 18 Frauen, die ich gefragt habe, haben zwei abgesagt. Eine war meine wunderbare Physiotherapeutin. Sie sagte: Angelika, wenn ich mich von irgendjemandem portraitieren lassen würde, dann von dir. Aber ich lasse mich nicht portraitieren.

Angefangen habe ich mit Franziska Barta, Landärztin in Zuoz, Oberengadin. Sie ist meine Freundin. Als 14-Jährige ist sie mit ihrer Mutter von Ostberlin nach Westberlin geflohen. Die Liebe zu den Bergen brachte sie vor 15 Jahren ins Engadin. Die nächste Frau war Tina Puorger, eine Kindergärtnerin in Sent, meine Nachbarin. Manche Frauen kannte ich, andere wurden mir empfohlen. Die Portraits waren ja zunächst eine Serie für das Magazin „Terra Grischuna“, das alle zwei Monate erscheint. Es war also schnell bekannt, dass ich so was mache.

Hast du darauf geachtet, dass die Frauen ihr ganzes Leben oder zumindest einen großen Teil davon im Engadin gelebt haben?

Von den 18 Frauen, die ich portraitiere, sind 11 im Engadin geboren und 7 zugezogen. Wobei die Zugezogenen manchmal länger im Tal gelebt haben als die hier Geborenen. Das ist lustig. Immer wieder ging es deshalb um die Frage nach Heimat. Auch die Bedeutung des Rätoromanischen ist erstaunlich. Heimat wird oft mit Sprache assoziiert. Und wenn Familien aus Portugal sich einbürgern lassen wollen, dann machen sie die Prüfung auf Rätoromanisch. Sie müssen die Prüfung in einer der vier Schweizer Landessprachen machen. Und sie lernen viel leichter Rätoromanisch als Schweizerdeutsch.

Gibt es im Rollenverständnis, was Familie und Beruf angeht, Unterschiede zu dem, was du bis dahin kanntest? Gilt das für Stadt und Land oder auch für Deutschland und die Schweiz?

Ich nehme an, dass Frauen in bäuerlichen Regionen ein anderes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl haben als in der Stadt. Zumindest im Engadin. Ihre Arbeit zählt, sie arbeiten viel. Es ist keine Frage, ob eine Frau arbeitet. Sie muss! Sonst läuft der Hof nicht, oder sonst reicht das Geld nicht. Und Kindergarten gibt es erst ab 5 Jahren. Das heisst, die Grossmütter sind stark in die Familienarbeit eingebunden. Ich singe gerade in einem Frauenchor in Scuol. Da machen 90 Frauen mit. Das ist grossartig. 90 Frauen! Es ist ihnen wichtig zu singen. Und dann organisieren sie das eben mit den Familien. Also sie setzen etwas für sich durch.

Fotografin: Franziska Barta

Welche Geschichten haben dich besonders beeindruckt? Gab es Übereinstimmungen zwischen den Frauen, die dich überrascht haben?

Mich haben Frauen interessiert, die etwas mit Leidenschaft taten. Egal was. Und ich wollte Frauen, die normalerweise nicht in den Medien vorkommen, auch wenn sie den Alltag im Tal prägen: Die Kindergärtnerin, die Sauna-und Bademeisterin, die Hüttenwartin, die Skilehrerin, die Sterbebegleiterin, die Putzfrau, die Lehrerin. Wenn ich eine Frau portraitiere, ist sie das Wichtigste, was ich gerade habe. Ich habe bei den Interviews kein Aufnahmegerät laufen lassen. Ich wollte, dass der Aufmerksamkeit der Frau, die spricht, die Aufmerksamkeit der Frau, die mitschreibt, entspricht. Ich wollte die Augenhöhe. Und so wurden das sehr intime Situationen. Ich habe dann jeweils den ersten Textvorschlag geschickt. Und die Frauen haben gesagt, was nicht stimmt, was fehlt, was raus soll. Man erzählt ja schon etwas am Küchentisch, das man dann nicht unbedingt in der Zeitung lesen will. Dadurch habe ich manche Spitzen verloren. Aber was ich habe und schreiben durfte, ist noch kostbar genug. Die Frauen hatten bis zuletzt die Chance, etwas zu ändern. Auch ein Bild austauschen zu lassen. Entstanden sind, glaube ich, Mutmachgeschichten. Denn jede der Frauen stand vor einer Entscheidung.

Wenn dich selbst jemand in solch einem Rahmen interviewt hätte, was hättest du dieser Person unbedingt erzählen wollen?

Ich glaube, das habe ich in Alle Farben des Schnees geschrieben. Vielleicht hätte ich von der Dankbarkeit gesprochen. Dankbarkeit macht freundlich.

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