Dorothe Zürcher war nicht nur Gast bei uns im Podcast, und sie ist nicht nur Autorin einer spannenden Romanbiografie über Agnes von Ungarn – die „heimliche Königin der Schweiz“.
Sie ist auch Geschichtslehrerin und arbeitet bei der Schulbuchentwicklung bei Klett Schweiz mit. Wir stellen ihr hier einige Fragen zum Geschichtsunterricht und wie der sich im Laufe der Jahre verändert hat.
Liebe Dorothe, wenn wir an unseren Geschichtsunterricht denken, dann an viele Könige, Kaiser, Päpste, Generäle. So viele Männer in unserer (meist westlichen) Geschichte. Was war mit den Frauen? Gab es die nicht? Waren sie so unwichtig? Waren sie immer nur Opfer der Geschehnisse?
Die Hälfte der Bevölkerung waren und sind Frauen und diese sind nicht nur Opfer. Die Geschichtsforschung mied bzw. ignorierte die Frauen jedoch. Vor allem im 19. Jahrhundert, als die Geschichtswissenschaft richtig Fahrt aufnahm, wurde die Geschichtsforschung dazu missbraucht, Nationenbildung und Sozialisierung zu betreiben. Die abwesenden oder eher nicht erforschten Frauen passten dabei ins konservative Frauenbild dieser Zeit. Dieses Bild wurde zu lange weitergereicht.

Hat sich die Konzipierung des Geschichtsunterrichts in den letzten Jahrzehnten geändert? Wenn ja, wie? Gab es bestimmte Anstöße oder war/ist das ein schleichender Prozess? Wer entscheidet eigentlich, wie die Geschichtslehrbücher aussehen?
Das Konzept hat sich verändert. Weg von einzelnen Herrschern und Jahreszahlen hin zu den Zusammenhängen und der Idee, ein umfassenderes Bild der Vergangenheit zu zeigen und auch über den Tellerrand Europas hinauszuschauen. Da gehören Frauen, Farbige, Migrant:innen, aber auch Kinder und Jugendliche dazu. Diese wurden von der frühen Forschung auch oft ausgeblendet.
Als schleichenden Prozess würde ich diese Veränderungen nicht bezeichnen. In den 70ern gärte es, so war man ab den 80er Jahren gewilligt, die alten Zöpfe abzuschneiden. Es dauerte aber, bis all die Lehrmittel und der Lehrplan nachzogen. Somit sind wir bei der Politik, Lehrpläne werden von Fachleuten geschrieben und von der Politik abgesegnet; das ist ein langer Prozess. Gerade in der Schweiz kam es deswegen auch zu Einsprachen und Volksabstimmungen, was den Prozess noch mehr verlangsamte. In den 80ern gab es also Lehrpersonen, die sehr konservativ, andere, die sehr progressiv unterrichteten. Heute sollte es einheitlicher sein, was ich bezweifle.
Wie schafft man es, nicht nur die Lehrbücher zu ändern, sondern als Lehrperson über das Thema Gender und Gendergeschichte zu sprechen?
In meinen Augen ist das der Knackpunkt. Einige Lehrpersonen lehren so, wie sie den Stoff selbst übermittelt bekamen. So ändert sich nicht viel. In den Fachhochschulen werden deshalb oft auch Weiterbildungen für Lehrpersonen angeboten, doch diese werden von Interessierten besucht, die das Thema Gendergeschichte interessiert und wohl schon in den Unterricht einbezogen haben.
Wichtig ist, dass Frauen nicht extra im Unterricht behandelt werden müssen, sondern dauernd dabei sind.
Lässt sich im Geschichtsunterricht zum Beispiel auf überkommende Männlichkeitsbilder eingehen?
Gerade im Zusammenhang mit der Frauenemanzipation muss man darauf eingehen. Da gibt es hübsche Quellen (Heiratsanzeigen, Gesetzestexte), die aus heutiger Sicht sehr sexistisch sind und man gut mit den Schülerinnen und Schülern diskutieren kann.
Nicht nur Statuen, auch historische „Übermänner“ werden zurzeit gestürzt: Wenn wir beispielsweise an die neuste Napoleonverfilmung denken. Das kann Teil des Unterrichtsstoffes sein.
Fakt ist: Je mehr Frauen im Unterricht vorkommen, umso stärker wird über die Geschlechterverhältnisse in der Vergangenheit nachgedacht und somit auch über die aktuelle.
Welche Methoden gibt es, um Frauen zu „finden“, die bislang zu wenig beachtet wurden? Mit welchen neuen Quellen lässt sich arbeiten, die noch nicht erschlossen wurden?
Es geht nicht darum, dass Lehrpersonen die Frauen suchen müssen. Es geht darum, dass die Geschichtsforschung die Frauen sträflich vernachlässigte. Die aktuelle Geschichtsforschung ist sich dieses Mangels (weitgehend) bewusst. Es gibt brillante Historikerinnen, die sich die Geschlechtergeschichte zum Thema gemacht haben. Frau muss aber zugreifen. Daneben gibt es in der Forschung noch viel zu tun.
Es stimmt leider, dass beispielsweise im Mittelalter-Quellen, die von Frauen stammten, schlechter aufbewahrt wurden. Ein leidiges Thema! Doch die heutigen Historikerinnen haben Sensoren ausgebildet: Gibt es eine Lücke, eine Unklarheit? Finde die Frau!
Und wie gelingt es, den Blickwinkel zu verschieben, Frauen nicht immer nur als Opfer darzustellen?
Das ist von meiner Seite her gesehen eine Herausforderung. Wir sind nicht nur von der Geschichte her, sondern auch von Geschichten (Romanen, Serien, Filmen) sehr auf die Opferrolle der Frau fixiert: Jungfrau in Nöten – ein zu oft wiederkehrender Topos in Erzählungen.
Hier müssen die Lehrmittel-Autor:innen und die Lehrpersonen sehr achtsam sein.
Ich denke da an eine Filmserie, die in den Nullerjahren vom Schweizer Fernsehen herausgebracht wurde und sich „Die Schweizer“ nannte. Schon der Name! Dabei wurden wichtige historische Persönlichkeiten der Schweizer Geschichte vorgestellt und es waren NUR Männer! Es hagelte Kritik! Teilweise wurden die Drehbücher umgeschrieben. Das Thema „Frauen in der Geschichte“ wurde in der breiten Bevölkerung diskutiert und damit wurde auch sensibilisiert.
Jedoch sollten die Männer nicht nur als Täter hingestellt werden. In jeder Klasse haben wir beide Geschlechter und vielleicht noch einige „dazwischen und außerhalb“.
Gibt es Frauen, denen du weniger Aufmerksamkeit wünschst, weil sie vielleicht zu sehr als die „Ausnahme von der Regel“ gezeigt werden, dass eben eigentlich doch vor allem die Männer Geschichte schreiben?
Mir fällt keine ein. Jede einzelne Frau ist zurzeit wichtig.
Beispielsweise wird im Zusammenhang mit der Eroberung Amerikas Malinche portraitiert. Sie war eine Indigene, die Übersetzerin und Geliebte von Hernán Cortez, einem ziemlich gewissenlosen Konquistador. „Malinchissmo“ heißt heute in Mexico „Verrat an der eigenen Kultur“. Nun könnte man entgegnen, da wird endlich eine Frau portraitiert und dann eine negative. Doch Frauen sollen nicht nur die liebevollen, guten sein, Frauen dürfen alles sein. Zudem kann man diskutieren, warum Malinche die Seiten wechselte.
Und wen würdest du – neben deiner Agnes – mehr in den Mittelpunkt rücken?
So viele Frauen wie möglich. Im Mittelalter die adeligen, die politisch Einfluss nahmen und die Mystikerinnen. In der Neuzeit all die Frauenrechtlerinnen, Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen, deren Werke man erst heute entdeckt, weil sie als Frauen nicht ernst genommen wurden, und Sportlerinnen. Es gibt so viele, die einen Platz verdienen.
Wie stellst du dir den Geschichtsunterricht 2050 vor? Du darfst gern träumen 😀
Wir steigen in die Zeitkapsel und reisen in die Vergangenheit.
Vielen Dank für deine Zeit, liebe Dorothe Zürcher!