Bettine von Arnim war eine Schriftstellerin der Romantik und eine schillernde Persönlichkeit, die sich nicht den Konventionen ihrer Zeit fügte. Als Witwe begann sie zu schreiben. Sie setzte sich für arme und benachteiligte Menschen ein, wollte den preußischen König belehren und die Welt verbessern, eckte dadurch jedoch auch innerhalb der eigenen Familie an.
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Catharina Ludovica Elisabetha Magdalena Brentano, wie sie mit vollem Mädchennamen hieß, wird am 4. April 1785 in Frankfurt geboren. Den Namen Bettine gibt sie sich selbst, so signiert sie ihre Briefe. Sie ist das dreizehnte Kind ihres Vaters Peter Anton Brentano (1735 – 1797), der aus einer alten italienischen Kaufmannsfamilie stammte, die ursprünglich aus Tremezzo am Comer See nach Frankfurt eingewandert war. Nach dem Tod seiner ersten Ehefrau ging Peter Anton – oder auch Pietro Antonio – mit 38 Jahren eine zweite Ehe ein. Er heiratete die 18jährige Maximiliane (1756–1793), Tochter von Sophie von La Roche (1730–1807) und Georg Michael Frank von La Roche (1720–1788).
Die Mutter Maximiliane, der man heutzutage womöglich eine Depression bescheinigen würde, stirbt, als Bettine acht Jahre alt war. Vier Jahre später stirbt der Vater, zu dem Bettine trotz seiner häufigen Abwesenheiten ein enges Verhältnis gehabt haben soll. Neuer Vormund wird ihr Halbbruder Franz Brentano.
In der großen Familie mit der unübersichtlichen Geschwisterschar – zwanzig Kinder von drei Ehefrauen hatte der Vater insgesamt – fehlt es oft an Bezugspersonen für die junge Bettine, was ihr hohes Maß an Resilienz umso bemerkenswerter macht. Später blickt sie in ihrem literarischen Werk mit einer gewissen inszenierten Leichtigkeit auf ihre Kinder- und Jugendjahre zurück. Doch die Ehebriefe an Achim von Arnim oder die Briefe an ihre Söhne verraten – mehr als ihr literarisches Werk es könnte – etwas über die wahre Bettine, offenbaren auch Verunsicherung, Frustration und Zweifel.
Erziehung in der Kindheit – die Schwebereligion
Schon vor dem Tod der Mutter wird Bettine mit zwei ihrer Schwestern in ein Kloster der Ursulinen nach Fritzlar geschickt, wo sie insgesamt vier Jahre bleibt. Bemerkenswert sind Bettines Ansichten zur Religion. Im Kloster in Fritzlar gefallen ihr vor allem der Garten und die Natur. Die Gottesdienste verschläft sie hingegen, mit dem Katholizismus kann sie nicht viel anfangen, insbesondere nicht mit der Vorstellung, dass die Menschen Sünder seien. Bettine kennt zwar die Bibel, entwickelt jedoch ihren eigenen Glauben, da sie mit der Drohbotschaft des Christentums nichts anfangen kann. Sie bezeichnet Jesus als „Seelenschmetterling“ und die Kirchgänger als „ängstliches Raupengeschlecht.“ Bettines Religion ist der zu sich selbst kommende Mensch.
„Ich soll doch mein eigen werden, denn sonst wäre ich umsonst.“ Vertrauen auf Gott bedeutet für sie Selbstvertrauen, fromm sein heißt, die eigene Schönheit zu lieben. „Sei mit dir selbst wie mit einer Geliebten. Wer sich nicht liebt, ist sich verloren.“ Sie spielt sogar mit dem Gedanken, eine eigene Religion gründen, die sie die „Schwebereligion“ nennt. Bettines Credo: „Jeder soll neugierig sein auf sich selber und soll sich selbst zutage fördern wie aus der Tiefe ein Stück Erz oder einen Quell.“
„Mir deucht, mit den fünf Sinnen, die Gott uns gegeben hat, könnten wir alles erreichen.“
Bettine von Arnim
Bei der Großmutter Sophie von La Roche
Mit elf Jahren kommt Bettine – wiederum mit zwei Schwestern – zu ihrer als Schriftstellerin berühmten und sehr erfolgreichen Großmutter Sophie von La Roche. Sowohl im Kloster als auch bei der Großmutter wird ihr die typische eher mangelhafte und unsystematische Mädchenbildung der damaligen Zeit in Musik, Zeichnen und Malen zuteil. Bettine besitzt jedoch einen unerschütterlichen Glauben an die Selbstbildungsfähigkeiten des Menschen und noch dazu relativ große Freiheiten, sich lesend zu bilden. Bettine erweist sich als sehr begabte Schülerin, stilisiert sich jedoch im Nachhinein als bildungsunwillig. Sie mag keine Geschichte, denn männliche Heldentaten sind ihr zuwider, und sie mag keine Philosophie, durch die sie sich eingeengt fühlt. Dafür philosophiert sie selbst, ist beständig auf der Suche nach Wahrheit.
Die Großmutter Sophie von La Roche, geborene Gutermann, hatte 1770 den überaus erfolgreichen Briefroman Das Fräulein von Sternheim veröffentlicht, den ersten deutschsprachigen Roman, der von einer Frau verfasst wurde. Sie unterhielt in ein Ehrenbreitstein einen literarischen Salon und galt als „Erzieherin der weiblichen Jugend zu Sitte und Anstand“. Sie fördert zwar die Bildung von Mädchen, ist jedoch gleichzeitig der Meinung, dass zu viel Bildung die Chancen auf dem Heiratsmarkt einschränkte.
Mit 12 Jahren lernt Bettine ihren sieben Jahre älteren Bruder Clemens Brentano (1778 – 1842) kennen. Ab 1801 beginnt der regelmäßige Briefwechsel zwischen den beiden, der ihr neue Impulse gibt.
Auf dem Heiratsmarkt
Als Bettine siebzehn ist, zieht sie zu ihrem Halbbruder Franz nach Frankfurt, um bei seiner Frau Antonie die Tugenden einer Hausfrau zu erlernen. Mit dem Umzug nach Frankfurt ist das schöne freie Leben für Bettine erst einmal vorbei. Sie ist unglücklich, denn sie würde gerne reisen, was ihr aber nicht gestattet wird. Auf die Entfaltung ihrer Begabung besteht keine Aussicht, nur die Ehe gilt für eine Frau als erstrebenswert.
1803 gibt es einen ersten reichen Heiratskandidaten, den Bettine entsetzt ablehnt, obwohl er sehr reich ist. Sie findet, „er ist ein Esel“. Ihr Bruder Clemens schlägt ihr seinen Freund Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861) vor, doch der „fürchtet sich vor ihr“. 1804 heiratet Savigny die Schwester Gunda. Clemens stellt ihr Achim von Arnim vor (1781 – 1831). Die beiden freunden sich an und schreiben sich, haben jedoch zunächst ein rein freundschaftliches Interesse aneinander.
In den folgenden Jahren lebt Bettine in Marburg bei Savignys, dann in Kassel bei der Schwester Lulu, die einen Bankier geheiratet hat, dann wieder bei den Savignys in Landshut. Sie hilft im Haushalt und mit den Kindern. Bettine ist jetzt 23 Jahre alt. Obwohl sie gemeinsam mit den Schwestern endlich reisen kann und viele Bekanntschaften macht, gefällt es ihr nicht, auf ihre Verwandten angewiesen zu sein. Sie bezeichnet sich selbst als traurig und unruhig, empfindet Isolation und Einsamkeit, fühlt eine gewisse Fremdheit zwischen sich und der Familie.
Bettine von Arnim und Clemens Brentano
Clemens Brentano ist, genau wie seine Halbschwester Bettine, innerhalb der großen verzweigten Familie Brentano ein Außenseiter. Kaufmännisch weder interessiert noch begabt, widmete er sich vor allem der Schriftstellerei. Gemeinsam mit Achim von Arnim bringt er von 1805 bis 1808 die Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn heraus. Bettine gegenüber wirkt er zwar gutwillig, aber auch übergriffig. Er glaubte immer zu wissen, was für Bettine gut ist, sagt ihr, was sie lesen, wie sie sich bilden soll. Auch gibt er ihr Handarbeiten auf, um sie beschäftigt zu halten, und er rät ihr, sich nie allein mit Männern abzugeben sondern stets nur in Gesellschaft von Franz und Toni. Sie schreiben sich nun regelmäßig – und Bettine beginnt, sich herrlich spitzzüngig gegen die Erziehungsversuche des Bruders zu wehren:
„Dein Rat ist: Scheine in der Gesellschaft stets lieber dumm als vorlaut“, empört sie sich. Oder sie verbietet dem Bruder den Mund mit den Worten: „Mit meinem Mund gebe ich einen Kuss auf deinen. In welcher Sprache kann ich gebieterischer ausrufen: Halt’s Maul Bruder.“ Sie verlangt: „Fordere nun nicht mehr, ich soll dir treu bleiben. Ich bleibe dir in allem treu, Was meine Natur nicht verleugnet.“ Einmal lautet ihr Fazit auch:
„Dein Brief ist so voll sorgender Liebe zu mir und doch so ohne Zutrauen, dass ich eigentlich nicht weiß, ob ich mich freuen soll oder nicht.“
Bettine von Arnim an ihren Bruder Clemens
1844 bringt Bettine den Briefwechsel mit ihrem Bruder stark überarbeitet unter dem Titel Frühlingskranz heraus.
Bettine von Arnim und Karoline von Günderode
1804 beginnt für Bettine eine intensive Freundschaft mit der fünf Jahre älteren Karoline von Günderrode (1780 – 1806). Die Freundin stammt aus verarmtem Adel. Der Vater starb früh, und Karoline lebte in einem evangelischen Damenstift in Frankfurt, wo sie Philosophie, Geschichte, Literatur und Mythologie studiert. Ab 1804 publizierte sie unter dem Namen Tian. Literatur von Frauen gilt vielen männlichen Zeitgenossen als etwas vollkommen Unnatürliches und gegen die „Bestimmung des Weibes“ gerichtet. Außer Begabung, Können und Fleiß ist zu diesen Zeiten von einer Dichterin vor allem auch Robustheit gefragt, was Karoline jedoch fehlt.
Karoline verliebt sich in den Altertumswissenschaftler Friedrich Creuzer (1771 bis 1858), der aus Pflichtgefühl mit der 13 Jahre älteren Witwe seines einstigen Professors verheiratet ist. Das leidenschaftliche Liebesverhältnis mit Karoline dauert von 1804 bis 1806. Creuzer spricht von Scheidung. Doch dann wird er krank und seine Frau pflegt ihn, woraufhin er mit der Günderode bricht und ihr die Nachricht von einer dritten Person überbringen lässt. Karoline bringt sich daraufhin in Winkel am Rhein um, indem sie sich einen Dolch ins Herz stößt. Die Freundschaft ist deshalb so bedeutend, weil Bettine ihrer Freundin 1840 mit dem Briefroman Die Günderrode ein literarisches Denkmal setzt. Es ist ihr zweites Werk nach Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, das 1835 erscheint.
Bettine von Arnim und Frau Rath
Ab 1806 pflegt Bettine einen engen Kontakt zu Goethes Mutter, in Frankfurt unter dem Namen „Frau Rat“ bekannt. Katharina Elisabeth Goethe (1731-1808) war die Mutter von Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832). Bettine geht täglich zu der 75 jährigen. Die fühlte sich zuvor etwas einsam und bittet Bettine, sie solle sie Mutter nennen. Die Verbindung ist tief – beide sprechen von Seelenverwandtschaft – und nicht auf Goethe beschränkt, auch wenn sie viel über ihn reden. Bettine schreibt auch auf Goethes ausdrücklichen Wunsch hin alles auf, was die Mutter über Goethes Kindheit erzählt. Bettine setzt auch Frau Rat ein schriftstellerisches Denkmal. In ihrem Buch von 1843 – Dies Buch gehört dem König – führt Frau Rath fiktive Gespräche mit Königin Luise, der Gattin von Wilhelm III. und repräsentiert somit das stolze freie Frankfurter Bürgertum. Goethe wiederum verwendet Bettines Mitschriften in seinem Buch „Dichtung und Wahrheit“.
Bettines Ehe mit Achim von Arnim
Ihren späteren Ehemann lernt Bettine bereits 1802 kennen. In Briefen nähern sie sich einander an, dennoch ist nicht abzusehen, dass daraus einmal ein Liebesverhältnis entstehen könnte, vielmehr verlieben sie sich in jeweils andere und tauschen sich über ihren Kummer aus. Doch 1810 stirbt Achim von Arnims Großmutter, die ihn auch erzogen hat, und sie setzt nicht Arnim, sondern dessen Kinder (d. h. Söhne) als Erben und Achim als deren Vermögensverwalter ein. Nun braucht er eine Braut. 1810 macht er Bettine einen Heiratsantrag. Bettine ist 25 Jahre alt und willigt ein. Es handelt sich weder um eine Vernunftehe noch um eine Liebesheirat, sondern um eine Heirat aus gegenseitiger Wertschätzung, aus der mit der Zeit Liebe wird.
Auch in der Liebe bleibt Bettine sich treu. Sie ist der Meinung:
Die Liebe soll helfen, sich zu finden.
In rascher Folge werden die Kinder geboren: Freimund (1812), Siegmund (1813), Friedemund (1815), Kühnemund (1817), Maximiliane (1818), Armgart (1821) sowie Nachzüglerin Gisela (1827). Bettines Schwangerschaften sind schwer, den Entbindungen sehen sie und ihr Mann jeweils mit großer Sorge entgegen. Kein Wundern, denn am Ende des 18. Jahrhunderts stirbt jede zwölfte Frau im Kindbett.
Streit um den Wohnort
Ständiger Streitpunkt des Ehepaars ist der Wohnort. Achim von Arnim hätte gerne eine Stelle als preußischer Beamter oder als Offizier angenommen, doch das gelingt ihm nicht. Darum ist er gezwungen, auf das geerbte Gut Wiepersdorf zu ziehen. Er findet Gefallen an der Landwirtschaft. Bettine jedoch fehlt Berlin und der kulturelle Austausch. Ab 1817 wohnt sie mit den Kindern hauptsächlich in Berlin, was zu neuen, anderen Konflikten mit Achim führt, die nun vor allem per Brief ausgetragen werden. Vor allem über die Finanzen und die Erziehung der Kinder streiten sie sich. Achim ist viel konservativer als seine Frau. Der Ton wird rauer, Bettine klagt über die „Verbauerung ihres Mannes“ und vermisst den Dichter. Sie beschwört Achim, seine geistigen Freiräume zu nutzen.
Doch da zeigt sich die Verschiedenartigkeit der beiden. Achim braucht die Abgeschiedenheit des Landlebens, Bettine das Kommunikative der Stadt. Bettine hat etwas eigenes Geld von der Familie, was ihr Unabhängigkeit verschafft. 1831 stirbt Arnim überraschend mit 49 Jahren – die jüngste Tochter Gisela ist erst 4 Jahre alt. Sie trauert sehr um ihn, trägt ihn jedoch weiterhin in ihrem Herzen, sagt, er bliebe ihr „als Gesprächspartner erhalten“. Vormund der Kinder wird ihr Schwager Carl von Savigny. 1835 ereilt Bettine ein weiterer schwerer familiärer Schicksalsschlag, als ihr Sohn Kühnemund nach einem Badeunfall mit 18 Jahren an einer Kopfverletzung verstirbt.
Bettine von Arnim und Johann Wolfgang von Goethe
Nach dem Tod ihres Mannes beginnt Bettines Leben als Schriftstellerin. Ihr erstes publiziertes Werk wird ihr größter Erfolg, nämlich Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Bettine hat schon als Kind viel von Goethe gehört und begegnete ihm 1807, mit 22 Jahren, endlich persönlich. Bettine ist von ihm begeistert, Goethe ist ihr gegenüber reserviert, und das bleibt auch so.
Von 1807 bis 1811 schreibt sie ihm 41 Briefe, Goethe schreibt ihr 17, sie teilweise von seinem Sekretär verfasst werden. Sie bittet ihn, seine Mutter in Frankfurt zu besuchen, die mittlerweile todkrank ist. Goethe erkennt seine Chance und bittet sie, Märchen, Anekdoten und Geschichten aus seiner Kindheit für ihn mitzuschreiben. Er verwendet die Notizen, teilweise wortwörtlich für Dichtung und Wahrheit.
Bettine die Goethe-Verehrerin
1810 begegnet sie ihm wieder. Ihre Schilderungen dieses Ereignisses geraten von Mal zu Mal erotischer. So schreibt sie beispielsweise, dass er ihr „viele Küsse auf den Hals drückt“. 1811 besucht sie Goethe zusammen mit ihrem Mann – und da kommt es zum Eklat mit Goethes Frau Christiane. Doch Bettine lässt sich auch dadurch nicht aufhalten. Sie plant ein Goethe-Monument und zeichnet es selbst. Sie zeigt es ihm 1824, woraufhin er kurzzeitig etwas gnädiger gestimmt ist. 1832 stirbt Goethe in Weimar und sie beginnt, ihre Veröffentlichung vorzubereiten. In Goethes Briefwechsel mit einem Kinde kombiniert sie collageartig Kindheitserinnerungen, philosophische Betrachtungen und die Behandlung politischer Themen und thematisiert in keiner Weise die reale problematische Beziehung zu Goethe. Vielmehr betreibt sie eine Form von Geniekult, bei dem das Individuum sich durch Kontakt mit dem Genius weiterentwickelt und zu sich selbst findet.
Viele sehen die Publikation höchst kritisch. Clemens Brentano merkt an, dass weder Arnim und Goethe die Veröffentlichung gutgeheißen hätten. Sie trifft auf massiven Widerstand der Familie, alle sind dagegen, auch ihre Schwester Gunda von Savigny, ihr Sohn Siegmund, der jetzt 22 Jahre und preußischer Beamter ist. Doch Bettine lässt sich nicht abbringen. Der Erstdruck erfolgt 1835 und die erste Auflage von 5000 Exemplaren. ist rasch verkauft. Bettine ist auf einen Schlag berühmt und wird zur Hoffnungsträgerin der aufbegehrenden deutschen Jugend. Die Schriftsteller des Jungen Deutschland sehen zu ihr auf.
Die politische Bettine – Dies Buch gehört dem König
Bettine war von jeher eine Person mit einem sozialen Gewissen und eine, die angesichts von Armut und Elend nicht wegschaut. Als im Jahr 1831 eine Cholera Epidemie in Berlin wütet, versucht, sie die ärgste Not zu lindern. Sie bleibt in Berlin, auch wenn sie die Kinder zu Verwandten schickt, sammelt Geld, organisiert Kleidung, Schuhe und Decken und organisiert Arbeit für die Erwerbslosen. Als Anhängerin der homöopathischen Medizin Samuel Hahnemanns verteilt sie Belladonna.
Karitativ waren alle damals Damen tätig, Bettine aber erkennt die Ursachen.
Man soll Mitleid mit niemand haben, man soll sich schämen, dass es so werden konnte.
„Tugendgekitzel“ nennt sie derlei Wohltäterei, die den Gebern schmeichelt, die Nehmenden demütigt und ansonsten die Welt belässt wie sie ist. Sie interveniert für sogenannte Kleine Leute, steht beispielsweise der Mutter eines Schneidergesellen bei, der von Gendarmen krankenhausreif geschlagen wird und verstirbt. Und sie engagiert sich für arme Studenten. Angesichts der Not um sie herum wird sie politisch. Sie hofft auf eine Lösung „von oben“, fürchtet aber die revolutionären Wirren. Ihr schwebt ein „soziales Königtum“ vor.
Im Jahr 1843 mündet ihr politisches Engagement in einer Publikation, die die Widmung im Titel trägt. „Dies Buch gehört dem König“. Darin stellt sie die Forderung auf, der König solle revolutionär werden“. Sie fordert die Einheit von König und Demagogen, glaubt noch an einen „guten König“.
Im Buch behandelt sie brisante Themen der Zeit. Sie erklärt das Konzept des Volkskönigs, ergeht sich in Ausführungen zu Justiz und zum Gefängniswesen, kritisiert eine Religion die Menschen klein hält und behandelt Fragen des Pauperismus, denn Löhne unter dem Existenzminimum sind ein großes Problem.
Das Buch beinhaltet auch eine Sozialreportage, Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtland, die Bettine ihrem ›Königsbuch‹ hinzufügt. Der Text geht auf die Aufzeichnungen des Schweizer Studenten Heinrich Grunholzer zurück, der anhand einer Auflistung von Einzelschicksalen die Lebensbedingungen der Bewohner des Vogtlandes, das war damals eine Armenkolonie in der Berliner Vorstadt, schildert. Bettine hält den Bericht für so bedeutend, dass sie ihn Grunholzer abkauft.
Auszug aus der Reportage
«Im Dachstübchen Nr. 76 wohnt ein Schuster, Schadow. Ich sah lange Zeit durch die gespaltene Türe ins Zimmer. Er arbeitete fleißig; die Frau saß am Boden und nähte einige Lumpen zusammen; zwei kleine, halbnackte Kinder saßen am Boden und spielten mit einer alten Tabakspfeife. Als ich eintrat, war Schadow ganz. erschrocken; er hatte mich für den Inspektor gehalten, dem er Miete schuldig ist, und sah sich gern enttäuscht. Das Zutrauen der Unglücklichen hat man sich bald erworben: es dauerte nicht lange, so erzählte mir der Mann seine ganze Lebensgeschichte; dass er dabei nicht viel von seinen Fehlern sprach, schien mir sehr verzeihlich und zum Teil überflüssig, da ich an ihm ja leicht merken konnte, dass er den Branntwein liebt und seine Frau sehr unordentlich ist. (…) 1836 zog er ins Familienhaus. Fünf seiner Kinder starben an den Pocken, und während sie krank waren, fehlte es ihm an Arbeit. Von niemandem unterstützt, geriet er dadurch so in Schulden, dass er mehrmals aus dem Hause geworfen werden sollte.
Er verkaufte Hausgeräte und Kleider und ist jetzt so entblößt von allem, dass er nicht einmal ein Hemd besitzt. Durch Arbeit kann er sich nicht wieder auf-schwingen, weil es ihm an Leder fehlt und die Flickarbeit, die er den Leuten im Familienhause macht, schlecht bezahlt wird. Zudem hat er mit zwölf andern Schustern, die am gleichen Orte wohnen, zu konkurrieren. Ich sah es selbst, wie seine Frau um Arbeit ausging und er unterdessen die Kinder hütete. Es war drei Uhr abends, und er hatte an demselben Tag erst zwei Silbergroschen verdient; den einen gab er wieder aus für Zwirn, für den andern kaufte er Brot. Das Kleine fing an, vor Hunger zu weinen. Sch. hatte soeben einen Schuh geflickt und gab ihn der Frau mit den Worten: ›Trage ihn fort, laß dir einen Sechser dafür geben und bring dem Kind ein Semmelbrot; es hungert.‹ Die Frau kam mit leerer Hand zurück; das Mädchen, dem der Schuh gehörte, konnte nicht bezahlen. Das Kind weinte noch immer, und Vater und Mutter weinten.«
zitiert nach der Bettine-Biographie von Michaela Diers, Seite 164.
Reaktionen auf das Buch
Die Reaktionen auf das Buch sind gespalten. Fortschrittliche sind begeistert, aber in Bayern und Österreich wird das Buch verboten. Die Preußen reagieren hingegen gelassen, weil sie annehmen, dass Form und Sprache des Werks sich nicht für eine größere Verbreitung eignen.
König Wilhelm IV wurde im Jahr 1840 König. Sie korrespondierte schon vor dessen Amtsantritt mit ihm und setzte sich unter anderem für die Gebrüder Grimm ein, die nach ihrer Entlassung aus der Universität Göttingen in Berlin Aufnahme fanden. Doch sie täuscht sich im König. Wilhelm IV. hängt vorabsolutistischen Vorstellungen an. Er begreift sich als ein König von Gottes Gnaden zum Wohle eines nach Ständen geordneten Volks. Zwar mag er hier und da milde erscheinen, im Kern bleibt er jedoch hart.
Bettine wird Hetze vorgeworfen
In einer weiteren Broschüre veröffentlicht Bettine von Arnim eine Analyse zur entfremdenden Industriearbeit, die den Menschen zum „Automat“ herabwürdigt. Sie lässt 750 Exemplare auf eigene Kosten drucken. Als es im Jahr 1844 zum Weberaufstand in Schlesien kommt, dem sogenannten Armenhaus Preußens, wird Bettine von Arnim vorgeworfen, sie aufgehetzt zu haben. Auch ihre Verwandten wollen sich Bettines Argumentation nicht anschließen. Ihr Schwager Savigny ist beispielsweise der Meinung, die Schlesier seien niederträchtig und verdienten kein Erbarmen.
Bettine ist empört. Sie wehrt sich mit den Worten: „Allein den Hungrigen helfen wollen heißt jetzt Aufruhr predigen“. Bereits seit ihrem Goethebuch schart sie in ihrem Salon junge Leute um sich. Nun findet sie sich im Lager der Staatsfeinde wieder. Man befürchtet gefährliche Umtriebe
in ihrem Salon. 1848 bricht die Revolution aus und der Riss geht auch durch die Familie von Arnim. Im Hause von Arnim gibt es fortan zwei Salons, einen demokratischen und einen aristokratischen.
Wilhelm IV. versucht, die Revolution mit Zugeständnissen zu zerschlagen. Als ihm das nicht gelingt, greift er beispielsweise in Baden und in der Pfalz militärisch hart durch. In Berlin gibt es am 18. März 1848 230 Todesopfer zu beklagen. Die angebotene Kaiserkrone lehnt Wilhelm IV. ab.
Die letzten Jahre
In ihren letzten Lebensjahren lässt Bettine in ihrem Engagement kaum nach. Sie setzt sich beispielsweise, wenn auch vergeblich, beim König für Gottfried Kinkel ein, der ein Mitglied der pfälzischen Revolutionsregierung gewesen war. Außerdem arbeitet sie weiter an der Umsetzung ihre Goethe-Monuments. 1852 erscheint Des Königsbuchs zweiter Band, Gespräche mit Dämonen, das kaum mehr Beachtung findet. 1853 werden ihre sämtlichen Werke in 11 Bänden herausgegeben. Die Politik wird währenddessen immer reaktionärer. Im Bundestag werden 1854 alle Arbeitervereine verboten, Streiks werden fortan mit Gefängnis bestraft.
Ende Oktober 1854 erleidet Bettine einen schweren Schlaganfall, 1856 folgt ein zweiter. Sie wird von ihren Töchtern Armgart und Gisela umsorgt. Sie stirbt am 20. Januar 1859 73jährig im Kreise ihrer Familie in Berlin und wird auf dem kleinen Friedhof von Schloss Wieperdorf neben ihrem Mann Achim von Arnim beigesetzt.
Die konservativen Familienmitglieder sorgen dafür, dass Bettines Nachlass zunächst unter Verschluss bleibt. Aus finanziellen Gründen wird er 1929 versteigert und ist nun verstreut oder verloren. Das politische Engagement von Bettine von Arnim geriet in Vergessenheit. In der DDR begann seit den 1950er Jahren die Aufarbeitung, in der BRD entdeckten sie die 68er. Bettine von Arnim war die Einzige, die das freiheitlich-individualistische Denken der Frühromantik in den Kampf um politische Freiheit und gesellschaftliche Gerechtigkeit überführt hat. Die einst scheinbar rebellischen Herren (ihr Bruder Clemens Brentano, die Brüder Schlegel, von Görres oder Eichendorff) verabschiedeten sich nämlich sämtlich in Richtung Katholizismus.
Quelle und Leseempfehlung: Michaela Diers: Bettine von Arnim. Deutscher Taschenbuch Verlag. 2010
Hörempfehlungen:
Mit jedem Druck der Feder drück ich Dich an mein Herz. Aus dem Briefwechsel von Bettine von Arnim und Achim von Arnim. Lesung mit Corinna Kirchhoff und Max Volker Martens. Hörbuch
MDR Kultur, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, Hörspiel
Sie lebte etwa zur selben Zeit wie Bettine von Arnim: Die Mathematikerin Mary Somerville
Artwork und Musik: Uwe Sittig
Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke
Instagram: https://www.instagram.com/frauenleben.podcast/
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