„Haltet sie vom Bergsteigen ab, sie schockiert ganz London“ – so äußerte sich eine Tante über Elizabeth Alice Frances Hawkins-Whitshed Burnaby Main Le Blond, die auf die höchsten Alpengipfel kletterte, Wintersportler:innen fotografierte, das alternative Leben in St. Moritz genoss und Bücher darüber schrieb.

***

Im Jahr 1861 kommt Elizabeth Alice Frances Hawkins-Whitshed in London zur Welt. Sie ist das einzige Kind ihres Vaters, Sir St. Vincent Bentinck Hawkins-Whitshed, 3rd Baron of Killimcarrick. Dessen Familie gehört zur guten englischen Gesellschaft – er ist verwandt mit den Cavendish Bentincks und dem Duke of Portland und kann seine Wurzeln bis zu Katharina der Großen zurückverfolgen.

Das Schwarzweißfoto zeigt eine junge Frau aus dem 19. Jahrhundert mit einem Blumenstrauß im Gürtel des hellen, hochgeschlossenen Kleides und einem schwarzen Hut auf dem Kopf. Ihr Pony ist zu Löckchen gedreht.

Ein unterfordertes Kind

Elizabeth verbringt den Großteil ihrer Kindheit und Jugend in Killimcarrick House, einem Herrenhaus im irischen County Wicklow, etwa 18 Meilen südlich von Dublin. Dort spielt sie mit den Hunden und tobt im Wald herum. Erzogen wird sie von ihrer Mutter Anne Alicia (1837–1908), Tochter des Reverend Sir J. Handcock, und einem Kindermädchen, aber als Erwachsene beklagt sie mehrfach, dass sie so gut wie keine Bildung erhalten habe. Für junge Mädchen in adligen Kreisen war das nicht vorgesehen.

Ihr Vater ist mit der Verwaltung des Hauses und der großen Ländereien überfordert. Er überarbeitet sich, isst nicht mehr und stirbt 1871 an sogenannter Nervenerschöpfung. Seine Tochter erbt zwar seinen Besitz, darf ihn als Frau jedoch nicht verwalten oder anderweitig über ihn bestimmen. Außerdem ist sie ja noch minderjährig und kommt deshalb unter Amtsvormundschaft.

Nun wird von ihr erwartet, dass sie bald heiratet und einen männlichen Erben produziert, der Haus und Land übernimmt.

Die erste Hochzeit

Als sie 18 Jahre ist, wird die zierliche junge Frau in London in die Gesellschaft eingeführt und heiratet ein Jahr später Captain Frederick Gustavus Burnaby (1842–1885). Er ist mit 37 Jahren deutlich älter als sie, groß und stark, hat sich als Soldat und Offizier einen Namen gemacht, aber auch als Abenteurer, der im Winter durch Zentralasien reitet und sieben Sprachen spricht. Durch die Heirat bekommt er 1000 GBP im Jahr von Elizabeths Eigentum zugesprochen, der Rest wird für den ersten Sohn aufbewahrt.

Das Gemälde zeigt einen Mann in Militäruniform, der sich entspannt auf einem Sofa zurückgelehnt hat, die Beine übergeschlagen hat, eine Zigarette raucht und den Mund leicht geöffnet hat. Neben ihm liegen Bücher und seine Mütze.

In Irland lebt es sich um diese Zeit als Landadlige nicht besonders ruhig – von 1879 bis 1882 herrscht der sogenannte Land War, der zwar kein richtiger Krieg ist, aber dennoch mit Unruhen und manchmal auch Gewalt daherkommt: Bauern und Pächter kämpfen gegen Hunger und Verarmung und wünschen sich Landreformen und mehr Rechte. Meist versuchen sie es mit Arbeitsverweigerung, bis ihnen bessere Behandlung und Bezahlung zugesichert wird. (Aus dieser Zeit stammt übrigens der Begriff des Boykotts.)

Fred entscheidet sich für ein Leben in London. Während Elizabeth sich noch über die große Hochzeitsfeier mit 400 Gästen in Kensington und die extravaganten Geschenke freut, wird ihr danach auf Hochzeitsreise in der Kurstadt Bad Homburg schon ein wenig langweilig. Auch ihre Wohnung in Kensington und Freds Überlegungen, Politiker zu werden, überzeugen sie nicht. Sie hatte gehofft, mit dem großen Abenteurer ein spannendes Leben zu führen.

Ein erstes Abenteuer

Zum Glück geht es doch bald auf Reisen. Bereits schwanger, begleitet sie ihren Mann nach Frankreich und über das Mittelmeer nach Algerien, wo sich um diese Zeit viele reiche englische Tourist:innen aufhalten. Ob die beiden sich dort nur erholen, ist unklar. Möglicherweise sind sie spionierend Spionin unterwegs und erkunden zum Beispiel die Eisenbahnstrecken, die das französische Militär durch Nordafrika baut. Für eine solche Art des unauffälligen Auskundschaftens werden oft Reisende, Landvermesser, Wissenschaftler und Fotografen genutzt.

Am 10. Mai 1880 kommt Elizabeths erster und einziger Sohn Harry Arthur Gustavus St. Vincent Burnaby zur Welt. Den gibt sie bald in die Obhut ihrer eigenen Mutter, weil ihr Arzt ihr verkündet, es bestehe Verdacht auf Tuberkulose und sie solle in die Schweiz reisen.

Der erste Blick auf die Alpen

Im Sommer 1881 sieht sie zum ersten Mal die Alpen. Anfänglich ist sie wenig begeistert. Mit einer Freundin hält sie sich in Interlaken und Montreux auf, und auf die hohen Berge in der Ferne will sie keinesfalls einen Fuß setzen – Bergsteiger:innen riskierten ihr Leben für nichts.

Doch dann wird sie ermutigt, aus dem Ort und in die Berge zu gehen. Und so wandert sie mit ihrer Freundin ganze 90 Kilometer und 1400 Höhenmeter von Montreux nach Chamonix. Ein Erweckungserlebnis: Sofort fühlt sie sich körperlich besser.

Das Schwarzweißfoto aus dem 19. Jahrhundert zeigt einen tief verschneiten Berg und zwei Bergsteiger in schwarzen Anzügen und Hüten mit Wanderstöcken, die mit einem Seil aneinander befestigt sind.

Sie schafft sich einen Alpenstock an, in den sie sich jede Begehung bzw. Besteigung gravieren lässt, und bittet die Bergführer, ihr Routen zu zeigen und Techniken beizubringen.

Im Rock auf den Gipfel

Meist ist sie dabei in Reitkleidern unterwegs, mit Absatzschuhen und Hütchen. Im Rock zu klettern, scheint uns heute lächerlich und absurd gefährlich. Und gefährlich war es tatsächlich: Röcke werden nass und schwer im Schnee, oder der Wind fährt darunter und bringt die Trägerin aus dem Gleichgewicht. Aber sie hatten auch Vorteile: Die Frauen konnten sie als Decke benutzen, um sich zu wärmen, hatten großen Taschen für ihre Ausrüstung und konnten ungesehen urinieren. Manche Bergsteigerinnen trugen Pluderhosen, wie auch schon Henriette d’Angeville, die als erste (oder zweite) Frau auf dem Gipfel des Mont Blanc stand.

Auch Elizabeth besteigt von Chamonix aus zweimal den Mont Blanc. Das Bergfieber hat sie gepackt, und das bleibt nicht unbemerkt. Die britische Presse berichtet über ihre Expeditionen, und um diese Zeit muss auch der schockierte Ausruf ihrer Tante erfolgt sein,

Das Schwarzweißfoto zeigt einen schwarz gekleideten Mann mit Gehstock steht auf einem Gletscher.

Schon 1882 trennt Elizabeth sich wieder von ihrem Mann Fred Burnaby.

Kurzer Überblick über die Geschichte des Alpinismus

Der Alpinismus lässt sich in drei Phasen einteilen:

  • 1780er–1850er: Noch sind es wenige Menschen, die etwas Erholsames in der harschen Bergwelt finden. Nur unkonventionelle Einzelpersonen, die es sich leisten können, reisen in die Schweiz, um die urtümliche Natur zu erleben.
  • 1850er–1860er: Diese zwei Jahrzehnte sind das „Goldene Zeitalter“ des Alpinismus. Vor allem bürgerliche Engländer:innen reisen in die Alpen, setzen sich ehrgeizige Ziele in Form von Erstbesteigungen und professionalisieren sich. Sie rühmen sich weiterhin ihrer Individualität, denn noch ist die Schweiz nicht überlaufen. Die Infrastruktur, die sich in den langen Jahren zuvor langsam gebildet hat, wird weiter ausgebaut. Als Ende dieser Zeit kann man eventuell den Absturz am Matterhorn sehen, bei dem 1865 drei englische Bergsteiger und ein Bergführer ums Leben kamen. Queen Victoria soll überlegt haben, das Bergsteigen für Engländer:innen zu verbieten.
Das Gemälde von Doré zeigt sieben Personen an einem Berg, die durch ein Seil verbunden sind. Die unteren vier stürzen den Hang hinunter.
  • Ab 1870er: Der Massentourismus beginnt. Thomas Cook organisiert Gruppenreisen, an denen sich nun auch weniger wohlhabende Tourist:innen beteiligten. Sie möchten dem Stress des modernen, industriellen Lebens in der Stadt entkommen. In der Schweiz werden Wege und Hütten gebaut. Hotels werden errichtet, der Kurtourismus entsteht. Es erscheinen Reiseführer wie der uns heute noch bekannte Baedeker. Dass es Spaß macht zu wandern, entdecken die Menschen erst, als sie im Alltag nicht mehr gezwungen sind, alles zu Fuß zu erledigen, weil es mehr öffentliche Transportmittel und Fahrräder gibt. Die „alten“ Bergsteiger – reich, weiß, aus der Oberschicht – sind entsetzt und fühlen sich überrannt. Elizabeth sagt: „I have an aversion to tourists“.

Als Frau auf den Bergen – aber nicht allein

Mit jeder neuen Besteigung erkennt Elizabeth, dass sie Kontrolle über ihren Körper hat, dass sie besonnen handeln und die richtigen Entscheidungen treffen kann. Vielleicht ist sie gar nicht so krank, wie die Ärzte sagen? Vielleicht hat sie in Irland und England einfach nie Gelegenheit gehabt, sich auszuprobieren?

Bewegung, das merkt sie jetzt, heilt nicht nur ihren Körper, sondern auch ihren unterforderten Geist. Sie lernt viel, zum Beispiel, wie man Temperatur und Luftdruck misst, wie man Blumen und Steine sammelt und klassifiziert und wie man beim Aufstieg Probleme löst und Routen findet.

So geht es vielen Frauen um diese Zeit: Ihr Leben lang fühlen sie sich überflüssig und dürfen nichts lernen. In den Alpen fühlen sie sich frei.

Im englischsprachigen Wikipedia-Artikel steht, Elizabeth sei Pionierin des Bergsteigens gewesen zu einer Zeit, in der es kaum Frauen gab, die auf Berge stiegen. Aber wenn man sich Elizabeths Fotos ansieht (und von denen gibt es zahlreiche), sieht man dort jede Menge Frauen, die am Seil die Hänge hoch klettern oder im Engadin Wintersport betreiben!

Das Schwarzweißfoto zeigt eine verschneite Berglandschaft. Im Vordergrund sieht man vier Figuren mit Alpenstöcken, die durch ein Seil miteinander verbunden sind.

Es scheint eine gute Zeit gewesen zu sein, in der Frauen zwar immer noch Angst haben mussten, auf einsamen Wegen von Männer bedroht zu werden – oder auch in Hotels und Berghütten solchen Exemplaren zu begegnen, die ihren Raum nicht mit Frauen teilen wollten. Bestimmt wurden sie beim Bandyspielen und am Berg oft genug beobachtet und verspottet.

Doch die Tourismusbranche erkennt, dass sie eine eigene Zielgruppe sind. Die Reiseführer weisen auf für Frauen geeignete Touren hin. Bei der Verteilung der Bergführer wird darauf geachtet, dass sie Begleiter wählen können, mit denen sie sich wohlfühlen. Es werden mehr Damensattel angeschafft, damit die Frauen auf Pferden oder Maultieren zum Ausgangspunkt ihrer Besteigungen kommen.

Pointe Burnaby

Ab 1883 unternimmt Elizabeth auch Winterbesteigungen und kann sich verschiedener Erstbesteigungen rühmen. Nachdem sie den Ostgipfel des Bishorns erreicht hat, wird er ihr zu Ehren Pointe Burnaby genannt. Auch dass ihr einmal fast die Nase abfriert, hält sie nicht von weiteren Eroberungen ab.

Das Schwarzweißfoto zeigt eine Frau im 19. Jahrhundert, die sich Stoff vor das Gesicht gelegt hat, der durch ihre Brille und einen um den Kopf gewickelten Schal festgehalten wird. Es gibt ein Loch für den Mund und zwei für die Augen. Sie trägt darüber eine Sonnenbrille.

Im selben Jahr erscheint ihr erstes Buch mit dem Titel The High Alps in Winter; or Mountaineering in Search of Health (Die Hochalpen im Winter oder Bergsteigen für die Gesundheit). Im Alpine Journal des englischen Alpine Club wird es jedoch verrissen als wohl das schwächste und trivialste Buch, das einem alpinistisch interessierten Publikum je vorgesetzt wurde.

Ab 1884 hält sie sich regelmäßig in St. Moritz im Hotel Kulm auf.

Sie besteht als erste Frau die Prüfung für Eislauf der Männer.

Sie erhält die Goldspange der Schlittschuh-Vereinigung in St. Moritz.

Winter- und Sommertourismus

Die Begeisterung für die Wintersaison in den Bergen wird immer größer. Denn während Engländer:innen nur düstere, nasse Winter kennen, kann man in den Bergen auch bei Schnee auf der Sonnenterrasse sitzen und sich bräunen. Das Hotel Kulm installiert elektrisches Licht und eine neue Heizung. Es werden Curling-, Bandy- und Eislaufringe sowie Tennisplätze/-hallen und Rodelbahnen gebaut. (Das Skifahren wird erst in den 1890ern beliebt.)

Das Schwarzweißfoto zeigt eine verschneite Berglandschaft. Im Vordergrund klafft eine Gletscherspalte. Ein Mann steht direkt davor, stützt sich auf seinem Stock ab und blickt hinein. Hinter ihm stehen eine Frau und ein Mann, mit denen er über ein Seil zusammengebunden ist.

In St. Moritz ist aber nicht die beste Gesellschaft versammelt. Elizabeths schockierte Tante würde wohl niemals ins Engadin reisen. Denn dort urlauben Autor:innen, Musiker:innen, Künstler:innen, Journalist:innen, Schauspieler:innen – all jene, die den gesellschaftlichen Konventionen eine Weile entfliehen möchten oder nach einer skandalösen Scheidung oder Affäre Abstand brauchen.

Hier probieren sie sich aus, stellen Beziehungen und Geschlechterbilder infrage. Leslie Stephen (der Vater von Virginia Woolf und begeisterter Bergsteiger) bezeichnet die Alpen als „playground of Europe“.

Elizabeth als Fotografin

Elizabeth fotografiert all das. Sie hat sich in ihrem Hotelzimmer eine Dunkelkammer eingerichtet. Fotografieren, das dürfen Frauen, weil man dafür schließlich auch „weibliche“ Eigenschaften wie Sorgfalt braucht, statt männlicher Kraft.

Sie macht dokumentarische Naturaufnahmen, aber auch Sportaufnahmen mit modernen Kameras mit kürzeren Belichtungszeiten, was für die Sportfotografie natürlich ideal ist.

Die Aufnahmen verschenkt sie oft als Preise für Sportwettbewerbe oder verkauft sie für den von ihr gegründeten St. Moritzer Hilfsfonds. Vom Alpine Club werden ihre Bilder nur anonym ausgestellt. Sie wird Mitglied in der Royal Photographic Society und erhält später deren Ehrenmedaille.

Die zweite Hochzeit

Im Jahr 1884 lernt sie in Davos einen gewissen Dr. John Main (1854–1892) kennen, einen Doktor und Universitätsdozenten für Ingenieurwissenschaften. Er ist 31 Jahre alt und begeistert sich sowohl wissenschaftlich als auch ästhetisch für die Berge. Klettern geht er nicht. John hat Elizabeth möglicherweise an ihren Vater erinnert, denn auch John war von seinen beruflichen Aufgaben überfordert und überarbeitet. Er war langfristig krankgeschrieben.

Nachdem Elizabeths erster Mann, Fred Burnaby, 1885 in einer Schlacht im Sudan fällt, heiratet sie 1886 John Main. Auch er erhält 1000 GBP pro Jahr aus ihrem Vermögen. Daheim in England regt sich die englische Presse weiterhin über ihr Gebaren auf, aber Elizabeth ist weit genug entfernt, um daran keinen Gedanken zu verschwenden.

Für ihren Sohn findet sich nun eine offizielle Regelung: Elizabeths Mutter behält die Vormundschaft und heiratet einen deutlich jüngeren Mann (den ehemaligen Privatsekretär von Fred Burnaby), sodass der Sohn zwei Vormünder hat und jemand sich um die irischen Ländereien kümmern kann.

Sie hilft bei der Gründung einer englischen Zeitung für Tourist:innen vor Ort und schreibt über das Bergsteigen und den Wintersport für britische und amerikanische Magazine. Ihr Mann hält wissenschaftliche Vorträge über Mathematik, Astronomie und Eis.

Es hält nicht lang

Wenig später trennt Elizabeth sich schon wieder von ihm. Woran es liegt, weiß niemand. Sie erwähnt ihn in ihrer Autobiografie kein einziges Mal, und sie wird in seinem Nachruf nicht beachtet. Er zieht mit einer Schwester oder Cousine in die USA und arbeitet in Denver als Investmentbanker. Als er 1891 stirbt, will Elizabeth den ihr zustehenden Erbanteil nicht annehmen.

1890 ist Elizabeth als Expertin für die Abnahme einer Bergführerprüfung dabei.

1895 ist sie im Finale der Schweizer Rasentennis-Meisterschaft. (Tennis galt damals als Sport für Außenseiter:innen und Sonderlinge.)

1897 trifft sie auf Giovanni Segantini, um mit ihm im Auftrag des Verkehrsvereins über die Weltausstellung 1900 zu sprechen. Segantini möchte gern einen Pavillon gestalten, in dem die gesamte Bergwelt des Engadins als Panorama dargestellt wird. Aus finanziellen Gründen wird daraus leider nichts. Elizabeth fotografiert ihn am Silsersee.

Das Schwarzweißbild zeigt den Maler Giovanni Segantini, der am Rand eines zugefrorenen Sees steht und in die Kamera blickt.
Das sepiafarbene Schwarzweißbild zeigt eine große Eisfläche und im Hintergrund einen schneebedeckten Berg. Auf dem Eis steht eine Frau in schwarzem Kleid und Hut mit Schlittschuhen an den Füßen.

Sie begeistert sich auch fürs Radfahren und legt über 90 km von Chur bis St. Moritz auf dem Sattel zurück, fährt nach Italien und Frankreich. Die Frauenrechtlerin Susan B. Anthony sagte einmal, das Fahrrad habe mehr für die Emanzipation der Frauen getan als alles andere, weil die Frauen dadurch viel mobiler und freier wurden. Elizabeth hätte wohl zugestimmt.

Ärzte warnen, Männer winseln

Währenddessen warnt die Ärzteschaft, dass sportliche Überanstrengung den Frauen das Kinderkriegen erschwere und Bobfahren ihren Brüsten schaden können. Immer wieder werden biologische Gründe angeführt, um Frauen im Haus zu halten.

Und mit Ende des 19. Jahrhunderts ändert sich langsam die Einstellung den Frauen gegenüber wieder.

„Ich bin sonst absolut kein Weiberfeind“, schreibt ein freundlicher Herr, aber: „Offen gestanden, bedaure ich es, dass ein weiblicher Fuss den stolzen Nacken dieses männlichsten aller Berge betreten hat“.

Der männlichste aller Berge. Egal, welchen er gemeint hat: Alle Berge sind für diese Männer männlich. Sie sind dafür da, bestiegen und besiegt zu werden und zu zeigen, was Naturburschen erreichen können. Um diese Zeit lief es nicht gut für die Männer. So viele lebten inzwischen in der Stadt und arbeiteten als Anwalt oder im Büro. Sie verweichlichten, waren körperlich nicht mehr fit. Deshalb verlor England auch Kriege.

Gleichzeitig erzielten die Frauen erste Siege für ihre Gleichberechtigung: Sie bekamen mehr Rechte in der Ehe, sie arbeiteten häufiger, studierten häufiger.

Die Natur sollte den Männern also helfen, wieder stärker, leistungsfähiger, männlicher zu werden, nicht nur, was ihre Körperkraft anging, sondern auch ihren Entdeckungsgeist.

Der Nationalgedanke spielt dabei natürlich auch immer eine Rolle. Wenn die Engländer auf schweizerische Berge steigen, stärken sie die „imperiale Macht“ Englands.

Frauen hatten in dieser Welt nichts zu suchen. Die Männer wollten doch endlich wieder Männer sein und sich nicht gleich wieder bedroht fühlen vom schwachen, aber so manipulativen Geschlecht.

Alpenvereine und andere Clubs

Um einen geschützten Raum zu haben, gründen Männer wohl schon immer Clubs und erlauben Frauen den Zutritt nicht. So war es auch in den Alpenvereinen. 1907 wurden Frauen aus dem Schweizer Alpenclub ausgeschlossen und erst 1980 wieder zugelassen. Im DAV nahmen die letzten Sektionen erst ab 1997 wieder Frauen auf.

Der berühmte Golfclub im schottischen St. Andrews hat noch später Frauen zugelassen: 2014.

Auf Long Island wird Lehrerinnen das Fahrradfahren verboten, es sei unsittlich.

1907 wird in Wimbledon das Frauen-Doppel abgeschafft.

Einer der Gründer der modernen Olympischen Spiele und Präsident des Komitees, Pierre de Coubertin, sagt, Frauen haben im Sport generell nichts zu suchen.

(Aber nicht nur Frauen betrifft die Ausschlusswut der weißen Männer: Schwarze Männer werden vom Baseball ausgeschlossen, sobald der Sport professioneller und lukrativer wird. Über Schwarze Frauen muss man wohl gar nicht erst reden, genauso wenig wie über Homosexuelle und später natürlich jüdische Menschen.)

Nur was dokumentiert wird, hat stattgefunden

Um nachweisen zu können, dass man (Mann) wirklich auf dem Gipfel eines Berges gestanden hatte, musste man dies dem Alpine Club oder seinem jeweiligen Verein melden, der es dann durch Dokumentation offiziell machte. Die Bergsteiger konnten auch selbst Artikel über ihre Taten veröffentlichen. Frauen war das zwar anfangs noch erlaubt, aber nur anonym. Je mehr sich die Männer organisierten, desto weniger Platz bekamen die Frauen.

All das mag neben ihrem Privatleben auch ein Grund für Elizabeth gewesen sein, den Alpen den Rücken zu kehren.

1898 ist sie zwar noch bei der ersten Überschreitung des Piz Palü durch eine reine Frauenseilschaft (cordée féminine) dabei, gemeinsam mit Evelyn McDonell.

Von 1899 bis 1902 versucht sie sich an Filmaufnahmen, die in 1 bis 2 Minuten Länge Sportereignisse im Engadin zeigen. Heute sind diese Filme leider verschollen.

Nach Norwegen mit dem liebsten Bergführer

Aber dann wendet sie sich nach Norden und ist zwischen 1897 und 1899 mehrfach in Nordnorwegen unterwegs, wo sie 38 Erstbegehungen und 29 Erstbesteigungen verzeichnen kann. Immer dabei ist ihr zwanzig Jahre älterer Bergführer Josef Imboden (1840–1925).

Das Schwarzweißporträt zeigt den Bergführer Josef Imboden in Anzug und Hut. Er hat einen großen Schnauzbart und eine strenge Falte zwischen den Augen.

Die Beziehung zu einem Bergführer muss gezwungenermaßen vertrauensvoll und eng sein, Oft ist körperlicher Kontakt erforderlich, den viktorianische Frauen niemals mit Männern aus derselben Gesellschaftsschicht erlauben würden: Sie müssen sich an der Hand nehmen, sich ein Seil um die Taille knüpfen lassen. Elizabeth steht einmal auf Imbodens Schultern.

Welche Eigenschaften ein guter Bergführer haben sollte? Elizabeth sagt: zuallererst Vorsicht, dann einen starken Wille, Forschheit und Mut. Er muss den Schnee gut kennen, in Gefahrenmomenten ruhig bleiben, in Notfällen schnell handeln und einfallsreich sein. Er muss stark und gesund sein, ein ausgeglichenes Temperament haben und selbstlos, ehrlich und erfahren sein,

All diese Eigenschaften brachten Josef Imboden und sein Sohn Roman wohl mit. Roman starb früh, 1896, was Elizabeth sehr mitgenommen hat.

Das Schwarzweißfoto zeigt Elizabeth Main neben einer Steinpyramide auf einem Berggipfel. Sie stützt sich auf einem Stock oder einem Eispickel ab. An ihren Hut hat sie eine Feder geklemmt.

Die dritte Hochzeit

Im Jahr 1900 lernt sie ihren dritten Mann kennen. Francis Bernard Aubrey Le Blond (1869–1951) heißt er, ist fast zehn Jahre jünger als sie, ältester Sohn eines Kaufmanns und begeisterter Porzellansammler. Er hat in Cambridge Sprachen studiert und spielt gern Tennis. Nun reist er seit drei Jahren durch Europa, sie lernen sich in St. Moritz kennen. Doch nach einer Weile gerät das Unternehmen seiner Familie in Gefahr, und er muss zurück nach England.

Elizabeth folgt ihm, heiratet ihn und lebt dann mit ihm in Kensington. Sie wird krank und leidet unter einer Phlebitis, die sie wochenlang ans Bett fesselt. Wenn es ihr besser geht, hält sie Vorträge und schreibt journalistische Artikel.

Der Ladies’ Alpine Club

1907 wird Elizabeth von der Bergsteigerin Adeline Edwards gefragt, ob sie Präsidentin des neu zu gründenden britischen Frauenbergsteigervereins werden will. Sie sagt zu und übernimmt diese Rolle von 1907 bis 1912 und dann noch einmal von 1931 bis 1934.

Die Frauen in diesem Verein – weiße Frauen in ihren Vierzigern aus der Oberschicht, wohlhabend, aus London und Südengland – wollen sich nicht damit zufriedengeben, dass sie im Sport von den Männern verdrängt werden. Sie veröffentlichen eigene Fachliteratur (zu Routen, Kleidung, Bergführern) und dokumentieren ihre eigenen Errungenschaften, wenn auch nicht so auf Siege fokussiert wie die Männer. Sie leisten soziale und politische Arbeit, halten Vorträge und organisieren Netzwerktreffen.

Viele der Mitglieder sind Suffragistinnen. Elizabeth setzt sich nicht selbst für das Frauenwahlrecht ein, sagt aber, sie würde sich natürlich freuen, wenn es soweit käme. Einige Bergsteigerinnen lassen sich auf den Gipfeln mit „Votes for Women“-Plakaten fotografieren oder schreiben diesen Slogan in die Gipfelbücher.

Das Schwarzweißfoto zeigt einen Mann und eine Frau mit Bergsteigerausrüstung. Der Mann blickt in die Ferne. Die Frau hat sich einen Schal um ihren Kopf und Hut geschlungen und hält Schneeschuhe in der Hand.

Andere Ziele

In den Jahren 1912 und 1913 reisen Elizabeth und ihr Mann nach Ägypten, Ceylon, Russland und den Fernen Osten. Dort erwirbt Le Blond koreanisches Porzellan, das teilweise aus Raubgrabungen stammt und später in Teilen an das Victoria and Albert Museum übergeben wird.

Danach hält Le Blond sich vor allem im ländlichen England auf und bewirtschaftet einen Hof. Seine Frau sieht er kaum. Stattdessen nimmt er sich eine Bedienstete zur Geliebten und nach Elizabeths Tod zur Frau. Angeblich soll diese viele Erinnerungsstücke und möglicherweise auch die Kurzfilme von Elizabeth verschenkt oder weggeworfen haben.

Im Ersten Weltkrieg

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs arbeitet Elizabeth als Freiwillige im Sanitätsdienst des Militärs. Und zwar im französischen Dieppe, da sie dort auch Ungelernte nehmen. Sie macht die Betten und wäscht die Patienten.

Später kehrt sie nach London zurück und arbeitet beim Roten Kreuz im Büro. Sie sammelt Spenden für das British Ambulance Committee, hält Diavorträge vor Soldaten und erhält eine Victory Medal für ihren Einsatz.

Spionage?

Im Jahr 1920 reist sie als Anhängerin der französischen Kolonialpolitik nach Marokko und trifft mit Hubert Lyauty zusammen, dem Maréchal de France. Auch hier stellt sich die Frage, ob sie inoffiziell diplomatisch oder möglicherweise als Spionin unterwegs war.

Sie unterstützt den British Empire Fund beim Beschaffen von Geldern für die Reparatur der Kathedrale von Reims.

Sie kämpft gegen ein Verbot des Frauenfußballs in England.

Im Jahr 1922 (oder 1929) heiratet ihr Sohn und zieht nach Kalifornien (oder Washington), und sie nimmt das zum Anlass, ihn zu besuchen und ausgedehnte Eisenbahnreisen durch die USA zu unternehmen. Auch dabei lässt es sich theoretisch gut spionieren.

Ihre letzten Jahre

1928 veröffentlicht sie ihre Autobiografie Day In, Day Out.

1933 wird sie für ihr Engagement für ihr „internationales Ideal“ zum Chevalier de la Légion d’Honneur ernannt.

Ihre letzten Jahre verbringt sie in London in einem Hotel, wie sie ja auch schon die ganzen Jahre im Hotel Kulm in St. Moritz gelebt hat. Dort trifft sie auf andere Reisende, aber genau dieses Hotel gilt wohl auch als inoffizieller Treffpunkt für Spione aus aller Welt.

1934 stirbt sie im Alter von 73 Jahren nach einem schweren medizinischen Eingriff. Sie wird in Kensington beerdigt, wo auch ihre Mutter liegt.

Elizabeths Nachlass

Zwar hat die zweite Frau ihres dritten Ehemanns möglicherweise einiges vernichtet, doch Elizabeth hatte viele ihrer Fotografien im Hotel Kulm hinterlassen. Von dort aus sind sie später ins Kulturarchiv Oberengadin gelangt. Viele dieser Bilder zeigen Sport treibende Frauen zu viktorianischen Zeiten – es gab sie, und man hätte sie niemals aus der Öffentlichkeit verdrängen sollen.

Elizabeths Bücher sind heute meist nur antiquarisch erhältlich. Der Großteil handelt vom Bergsteigen. Neben ihrer Autobiografie hat sie außerdem einen humorvollen Roman zum winterlichen Hotelleben in St. Moritz (The Story of an Alpine Winter) geschrieben sowie einen Reiseführer zu Spanien, einen Gartenführer zu Italien und eines über Fotografieren im Schnee.

Wie es mit dem Bergsteigen weitergeht

Die Alpen bergen irgendwann keine großen Herausforderungen mehr. 1938 wird die Eigernordwand bestiegen, die als eines der „letzten Probleme“ in den Alpen galt. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg blicken die Bergsteiger:innen auf den Himalaja.

Viele ehemaligen Soldaten aus Europa bewerben sich als Träger, Dolmetscher, Köche. Auch Marie Marvingt will ihre Dienste anbieten, aber sie wird ausgelacht.

Die Frauen aus der Region dürfen bis in die 1970er wenn überhaupt nur als Trägerinnen dabei sein. Wichtigere Rollen müssen sie sich erst erkämpfen. Die erste weibliche Sherpa steht erst 1993 auf dem Gipfel des Mount Everest. Heute wird in Pakistan und Afghanistan versucht, Mädchen und Frauen früh ans Bergsteigen heranzuführen und zu unterstützen, was natürlich gerade in Afghanistan so gut wie unmöglich ist.

***

Quellen:

Aubrey Mrs. Le Blond: Adventures on the Roof of the World.
Aubrey Mrs. Le Blond: My Home in the Alps.
Daniel Anker, Ursula Bauer, Markus Britschgi, Cordula Seger: Elizabeth Main. Alpinistin – Fotografin – Schriftstellerin. Diopter Verlag 2003.
Rachel Hewitt: In Her Nature. How Women Break Boundaries in the Great Outdoors. Vintage 2024.
Tanja Wirz: Gipfelstürmerinnen. Eine Geschlechtergeschichte des Alpinismus in der Schweiz 1840-1940. hier+jetzt 2013.
Elizabeth Alice Hawkins-Whitshed, Wikipedia, abgerufen am 26.7.2024
Die Bergkönigin. Ein Leben als Pionierin: Elizabeth Main (1861–1934). Schweizer Alpen-Club SAC, abgerufen am 26.7.2024

Hörtipp von Susanne: Eine kleine Kulturgeschichte des Urlaubs

Lesetipp zum Thema Radfahren von Petra: Cycling’s Silent Epidemic

Eine Wittelsbacher Prinzessin auf der Flucht vor den höfischen Zwängen und einer unerfüllten Liebe. Als Naturwissenschaftlerin und begeisterte Sammlerin reiste Therese von Bayern durch Europa und Amerika und verfasste darüber ausführliche Reiseberichte.

***

Diese Folge beruht auf der Therese-Biografie Ich habe mich vor nichts gefürchtet von Hadumod Bußmann. Sämtliche Zitate sind daraus entnommen, mit Ausnahme der Speidel-Zitate, die aus Die Prinzessin und ihr „Kavalier“ derselben Autorin stammen.

***

Therese Charlotte Marianne Auguste Prinzessin von Bayern hat wichtige Zeiten in der bayrischen Geschichte miterlebt: vom Deutsch-Französischen Krieg über die Absetzung und Entmündigung sowie den Tod Ludwigs II., über die Regierungszeit ihres Vaters als Prinzregent bis hin zum Ende der Monarchie kurz nach dem Ersten Weltkrieg.

Die bayrischen Könige im Schnelldurchlauf

  1. Napoleon ernennt im Jahr 1806 den ersten bayrischen König: Maximilian I. Joseph macht aus Bayern einen „modernen“, aufgeklärten, säkularisierten Staat und bringt ihn auf den Weg zu einem Verfassungsstaat. Der „gute Vater Max“ stirbt 1825.
  2. Sein Sohn Ludwig I. übernimmt den Thron. Den kennen treue Hörer:innen schon aus unserer Folge über Lola Montez. Er regiert in ruhigen, kriegsfreien Zeiten und hat viel Zeit für Architektur: Sein Lieblingsarchitekt Leo von Klenze erbaut zum Beispiel die Pinakotheken, die Staatsbibliothek, die Siegeshalle, die Theatinerkirche und schafft das München, das wir heute (architektonisch) noch kennen. 1848 stolpert er über seine vielen Liebesaffären und tritt zurück, kurz bevor die Revolution ausgerufen wird.
  3. Maximilian II. muss nun die Reformversprechen seines Vaters einlösen: den Rechtsstaat stärken, die Freiheits- und Mitbestimmungsrechte verbessern, die jüdische Bevölkerung emanzipieren, die Bauernbefreiung beenden. Er war nicht besonders beliebt beim Volk und wohl auch nicht bei seinen Söhnen, die er streng bis brutal erzog.
  4. Nach dem Tod seines Vaters wurde 1864 Ludwig II. mit nur 19 Jahren zum König ernannt. Den „Märchenkönig“ von Schloss Neuschwanstein kennen wir alle. Für seine Baubegeisterung nimmt er immer mehr Schulden auf und zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück. Seine psychischen Probleme sind kein Geheimnis, und 1886 wird er entmündigt. Sein Onkel Luitpold übernimmt als Prinzregent die Regierungsverantwortung. Luitpold ist Thereses Vater.
  5. Durch den Selbstmord von Ludwig II. wird dessen jüngerer Bruder Otto zum König. Der ist ebenfalls psychisch krank und nicht regierungsfähig. Von ihm erfahrt ihr später in dieser Folge mehr, denn für Therese spielt er eine wichtige Rolle. Luitpold bleibt Prinzregent.
  6. Als Luitpold 1912 stirbt, übernimmt sein ältester Sohn Ludwig III. Der will allerdings nicht Prinzregent bleiben, sondern setzt Otto ab und krönt sich selbst zum König. Das bleibt er bis 1918, als nach dem Ersten Weltkrieg die Monarchie abgeschafft und Bayern zum Freistaat wird.

Man freut sich über ein Thereschen

Therese wird am 12. November 1850 in der Münchner Residenz geboren, und da es schon zwei Jungen gibt, freut man sich über das Mädchen.

Nicht selbstverständlich für diese Zeit und royale Familien: Die Heirat ihrer Eltern war eine Liebesheirat.

Mutter Auguste (1825–1864) war Kaiserliche Prinzessin und Erzherzogin von Österreich, Königliche Prinzessin von Ungarn und Böhmen sowie Großherzogliche Prinzessin von Toscana. Ihre Mutter starb früh an einem Lungenleiden, und auch Auguste hat mit Asthma und Tuberkulose zu kämpfen. Ihr Schwiegervater Ludwig I. ist zuerst zögerlich, seinen dritten Sohn eine solch schwächliche Frau heiraten zu lassen, doch letztendlich mag er Auguste gern und lässt sie für seine Schönheitengalerie malen. Auch sie findet ihren Schwiegervater sympathisch und vermittelt, als er wegen der Lola-Montez-Affäre in Schwierigkeiten gerät.

Prinzessin Auguste Ferdinande von Bayern, Erzherzogin von Österreich-Toskana, gemalt von Joseph Stieler

Thereses Vater Prinz Luitpold Karl Joseph Wilhelm von Bayern (1821–1912) ist der dritte in der Thronfolge und froh um seine relative Freiheit. Er lernt Auguste auf einer Kavaliersreise kennen und bringt sie mit nach München. Der Prinz ist tief katholisch, wie die ganze Familie, und stark vom Militär geprägt, interessiert sich für Naturwissenschaften und Sprachen sowie körperliche Ertüchtigung jeder Art.

Liebevolle, aber strenge Erziehung

Seine vier Kinder Ludwig, Leopold, Therese und Arnulf erzieht er entsprechend streng. Pflichterfüllung und Disziplin sind die höchsten Tugenden. Der absolute Gehorsam den Eltern gegenüber ein Muss. Gleichzeitig sind ihm Selbstständigkeit und Willenskraft der Kinder wichtig.

Mutter Auguste überwacht persönlich (auch das nicht selbstverständlich in adligen Kreisen) ihre Erziehung und achtet darauf, dass sie auch Spaß haben: Sie führen kleine Theaterstücke auf, gehen schwimmen und segeln. Die Sommermonate verbringen sie in Lindau am Bodensee, wo Auguste die Villa Am See erworben hat. Die kleine Therese liebt die Freiheit dort und möchte die ganze Zeit draußen sein.

Auch Reisen erlebt sie bereits früh: nach Berchtesgaden, Bad Ischl und Tegernsee, aber auch nach Italien.

Neben ihrer Familie nehmen ihre Haustiere eine wichtige Stelle in ihrem jungen Leben ein.

Thiere thuen in ihrer selbstlosen Treue einem wehen Menschengemüth oft wohler als Menschen.

Und Therese hat oft ein wehes Gemüt. Also helfen ihr ihre Tauben, ein Spanferkel, ein Kanarienvogel und eine Fledermaus. Schon im jungen Alter beobachtet sie sie aufmerksam und führt erste Verhaltensforschung durch: Welches Tier lässt sich zähmen? Welches ist besonders intelligent?

Was auf dem Lehrplan steht

Sie ist wissbegierig und darf bis zu einem bestimmten Grad gemeinsam mit ihren Brüdern lernen. Dabei wird der Fokus stets auf Fakten gelegt, damit sie für ein praktisches, aktives Leben gerüstet sind. Dementsprechend lernen sie zum Beispiel, wie man Zinsen berechnet oder wie Staatsobligationen funktionieren.

Foto aus Hadumod Bußmann: Prinzessin Dr. h.c. Therese von Bayern. Ihr Leben zwischen München und Bodensee – zwischen Standespflichten und Selbstbestimmung. Allitera Verlag 2015

Die höhere Mathematik erlaubt ihr Vater ihr allerdings erst, als sie bereits 27 Jahre alt ist – und auch nur unter der Bedingung, dass sie niemandem davon etwas sagt. Sie darf am Polytechnikum einige „Damenkurse“ in Mineralogie, Experimentalphysik und Chemie belegen, bringt sich das meiste aber im Selbststudium bei.

Sie spricht elf europäische Sprachen: Italienisch, Französisch, Englisch, Spanisch, Dänisch, Neugriechisch, Russisch, Portugiesisch, Schwedisch, Holländisch und Tschechisch. Vor allem wählt sie die Sprachen danach aus, wo sie Verwandte oder Freundinnen hat, oder lernt sie, bevor sie dorthin reist. Die einzige Sprache, die ihr Vater ihr verbietet, ist das Lateinische. Sie wartet, bis sie volljährig ist, und holt es dann nach, um für ihre wissenschaftliche Tätigkeit gerüstet zu sein.

Sie bekommt Klavierunterricht, ist aber nur mäßig talentiert. Den Mal- und Zeichenunterricht mag sie lieber und kann diese Fähigkeiten später gut für ihre Reisen gebrauchen. Gleichzeitig schult er ihren Sinn für die Orientierung auf Landkarten. Sportunterricht steht ebenfalls auf dem Plan, zum Beispiel Gymnastik, Schlittschuhlaufen, Reiten oder Schwimmen. Auch das liegt ihr, denn sie mag es, stark zu sein und den eigenen Kräften vertrauen zu können.

Der frühe Tod der Mutter – „In meinem Herzen ging etwas entzwei“

Das Lungenleiden von Mutter Auguste wird schlimmer, ab 1857 verbringt sie die Winter im Haus, dem Palais Leuchtenberg. Therese genießt ihre Nähe und Gesellschaft und liest ihr gern vor. Das ruhige Mädchen wird noch ernster. 1864 stirbt die Mutter und lässt sich am Sterbebett von der 13-jährigen Therese versprechen, sich um Vater und Brüder zu kümmern wie eine Mutter.

„Die Hoheit will die Kinder haben.“ [Diese Worte] waren für mich wie ein Donnerschlag, denn ich begriff ihre Bedeutung sofort. Aus tiefstem Schlaf heraus stürzte ich an allen Gliedern zitternd in die nothwendigen Kleider u. flog die Treppe hinab zu meiner Mutter. Ich fand meinen Vater an ihrem Sterbebette sitzend: sie hatten sich das letzte Lebewohl gesagt. Ich kniete mich zu meiner Mutter auf die linke Bettseite an der mein Vater saß; nach u. nach fanden sich die Brüder ein. Arnulf schloß sich an mich, die großen standen am Fußende des Schmerzenslagers. Und nun begann die Mutter von uns Abschied zu nehmen, von Jedem einzeln u. für Jeden die passenden Ermahnungen klar u. deutlich wenn auch mit fliegendem Athem uns an’s Herz legend. Ich sollte sie bei Vater und Brüdern ersetzen, ich sollte an ihrer Stelle den Jüngsten zur ersten Heiligen Kommunion vorbereiten. Tief u. maßgebend für das ganze Leben gruben sich diese letzten Worte der sterbenden Mutter tief in die Seele ein. Wir vier Kinder schluchzten laut u. als man uns mahnen wollte, um die Sterbende nicht zu beunruhigen, sagte sie klar u. vernehmlich: „Laßt sie nur weinen, es ist ja ganz natürlich“ … In meinem Herzen ging etwas entzwei, das nie mehr ganz wurde.

Mit dreizehn steht sie einer Lebensaufgabe gegenüber, die sie „zu erdrücken drohte“ – aber ganze achtundvierzig Jahre lang bis zum Tod ihres Vaters hält sie sich an das Versprechen, das sie ihrer Mutter gegeben hat.

Eingezwängt in Rituale

Therese hasst die höfischen Rituale und fühlt sich eingezwängt und unverstanden. Selbst wenn sie nur einmal über den Odeonsplatz will, um ihre Tante Marie in der Residenz zu besuchen, wird sie von uniformierten Lakaien begleitet. Auch ein Ausritt im Englischen Garten ist nur mit Begleitung möglich.

Von klein auf wird ihr jegliche Impulsivität und Spontaneität abtrainiert, weil sich solches Verhalten für eine Prinzessin nicht gehört. Ihre Verletzlichkeit und Schüchternheit verbirgt sie hinter einem beherrschten Äußeren.

Ich wünsche mir ein bescheidenes, verstecktes Loos, unabhängig von gesellschaftlichen Einflüssen.

Sie leidet lange Jahre unter Depressionen, aber ihre tiefe Religiosität hindert sie daran, sich selbst das Leben zu nehmen. Sie vertieft sich in Bücher und die Naturwissenschaften, um sich zu betäuben und vor ihrer Welt zu fliehen. Erst viel später wird ihr das Lernen (und auch das Reisen) zu einer wirklichen Erfüllung.

Es dauert auch lang, bis sie ihre Schüchternheit ablegt. Ihr Vater hält als Prinz und später als Prinzregent jedoch regelmäßig Tischgesellschaften, bei denen Therese zugegen sein muss. Doch oft findet sie dort interessante Gesprächspartner und merkt: Es ist Übungssache, ihre Zurückhaltung abzulegen.

Gute Freundinnen

Bis Therese fünfzehn Jahre alt ist, kümmert sich Henriette Freiin von und zu Palaus als Erzieherin um sie. Die beiden haben ein vertrautes Verhältnis, und Therese kümmert sich später um sie, als sie im Sterben liegt.

Zudem hat sie weitere wichtige Freundinnen, die sie ihr Leben lang begleiten.

  • Ihre (entfernte) Cousine Olga Konstantinowna Romanowa (1851–1926) lernt Therese im jungen Teenageralter kennen, und die beiden Mädchen fühlen sich seelenverwandt: „Eine solche Freundschaft gibt es nur einmal im Leben … Selig, wem sie Gott verliehen, es ist ein Glück über alle Maßen“. Sie bleiben auch im Erwachsenenalter stets brieflich in Kontakt, Olga heiratet nach Griechenland, aber Therese fährt sie öfters besuchen.
  • Charlotte Lady Blennerhassett (1843–1917), geb. Freiin von Leyden, wird 1880 als begleitende Dame für Thereses erste Italienreise engagiert. Sie ist sieben Jahre älter, ebenfalls zutiefst katholisch, gebildet und weitgereist. Sie wirbt um Thereses Freundschaft, die sie ihr schließlich auch gewährt. Obwohl Therese von ihr nicht als Hochadelige verehrt werden will, bleiben die beiden ihr Leben lang beim „Sie“. Charlotte ist ebenfalls schriftstellerisch tätig und schreibt eine wichtige Biografie über Madame de Staël.
  • Gräfin Gabriella Deym ist die Hofdame von Thereses Tante Adelgunde. Als diese stirbt, übernimmt Therese sie, und aus den Frauen werden bald enge Freundinnen. Auch um die Gräfin kümmert Therese sich, als sie stirbt.
  • Im Jahr 1900 wird Baronin Johanna von Malsen zu Thereses Hofdame und kümmert sich um den geschäftlichen Alltag der Prinzessin, also zum Beispiel um die Finanzen und die Korrespondenz.

Otto oder: Eine tragische Liebe

Schon seit ihrer Kindheit ist Therese in ihren zwei Jahre älteren Vetter Otto verliebt: den jüngeren Sohn von König Maximilian II. und Marie von Preußen. Lieb und aufmerksam sei er, nicht so militärbegeistert wie viele andere, Bescheiden und religiös.

Sie dichtet:

Hast Du einen Freund gefunden,
laß nicht von ihm ab,
Hast Dein Herz an ihn gebunden,
Treu bleib‘ bis an’s Grab,
’s ist ein Schatz für’s ganze Leben,
den dir unser Gott gegeben.

Ob er mehr als verwandtschaftliche, freundschaftliche Gefühle für seine Cousine hat, erfährt Therese nicht. Eine Weile scheint es, als ob er in ihre Freundin Olga verliebt sei, und Therese gibt sich Mühe, sich für beide zu freuen, ist dann aber doch froh, dass nichts daraus wird.

Leider zeigen sich bei dem als schwächliches Frühchen geborenen Otto schon im frühen Jugendalter Symptome einer psychischen Krankheit, und seine Erfahrungen im Deutsch-Französischen Krieg verstärken sie um ein Vielfaches. Als er dann einmal in aller Öffentlichkeit zeigt, wie schlecht es ihm geht, wird er nach Schloss Nymphenburg und später nach Fürstenried verfrachtet. 1878 wird er entmündigt.

Therese fragt ihren Vater, ob sie sich als Krankenschwester ausbilden lassen dürfe, um sich um Otto zu kümmern, aber der lehnt ab. Die Königinmutter Marie ist Therese seit dem Tod ihrer eigenen Mutter eine Art Ersatzmutter geworden, und irgendwann öffnet Therese sich ihr gegenüber. Marie gesteht ihr, dass sie sich Therese gut als Schwiegertochter hätte vorstellen können, wenn Otto nur gesund wäre. Erst nach Maries Tod erhält Therese die Erlaubnis, sich offiziell um Otto zu kümmern, was bedeutet, dass sie ihn zweimal im Jahr besuchen darf und regelmäßige Arztberichte zu seinem Zustand bekommt.

Sieben Kandidaten und ein Damenstift

Der Vater und die Brüder drängen: Sie soll heiraten. Sie soll sich opfern (so formuliert es Therese), damit sie ihrer Familie nicht mehr zur Last fällt (so formuliert sie es auch). Aber wer will sie schon, denkt sie, „da ich häßlich bin“. Sie will niemanden, und vor allem keinen Dummkopf: „Warum ich gerade denen Leuten gefalle, wo es mir unangenehm ist“.

Sieben Kandidaten aus gutem Hause fallen alle durch. Zum Glück heiraten in der Zwischenzeit zwei ihrer Brüder und sichern die Wittelsbach-Habsburg-Allianz, die ihrem Vater so wichtig ist. Nach und nach wird der Druck weniger.

Mit dreißig Jahren wird Therese Oberste Vorsteherin und Äbtissin des Münchner Damenstiftes zur Heiligen Anne, das der Tradition nach von unverheiratet gebliebenen Wittelsbacher Prinzessinnen geleitet wird. Was genau sie da gemacht hat, ist seltsam unbekannt, schreibt ihre Biografin.

Reisen, um zu fliehen

Therese neidet ihren Brüdern (und überhaupt allen adligen Männern) ihre Kavaliersreisen und wünscht sich: „Könnte ich nur als Koffer mitgehen“.

Im Jahr 1875 ist sie fünfundzwanzig und darf endlich ihren Bruder und ihre Schwägerin begleiten: Fünf Monate reisen sie durch Portugal, Spanien und Nordafrika. Gerade letzteres überwältig sie. Fünf Jahre später veröffentlicht sie einen Reisebericht über ihre Erlebnisse, der gut aufgenommen wird. Sie spendet ihr Honorar und freut sich über die Ermutigung der bekannten Jugendschriftstellerin Isabella Braun, sie solle unbedingt weiterschreiben.

Therese liebt Abenteuer. Es gibt nichts Schöneres als einen Sturm auf dem Meer:

Je wilder die Wellen heranrollen u. das Boot herumwerfen, umso gehobener ist meine Stimmung.

Ihrem Lieblingsbruder Arnulf schreibt sie:

Es freut mich, daß Du doch ein wenig mit Papa von München fortkömst; Abwechslung ist im Leben unbedingt nothwendig, will man nicht versauern u. einen furchtbar engen Gesichtskreis bekommen. Ich möchte immer alle Leute, die nur Kirchthurmsinteressen u. -ideen verfolgen, in die weite Welt hinaus auf Reisen schicken.

Einmal darf sie an einer Ballonfahrt teilnehmen:

Es war überwältigend – überwältigend wie ein Sturm auf dem Meer, wie ein Gewitter im tropischen Urwald.

Bis über den Polarkreis und 7447 Kilometer durch Russland

Im Jahr 1881 fährt sie für zweieinhalb Monate nach Skandinavien. Vorher beliest sie sich ausführlich und stellt eine wissenschaftliche Ausrüstung zusammen, um ihrer Sammelleidenschaft nachzugehen. Beginnend mit dieser Reise ist in Zukunft immer ihr treuer Diener Max Auer dabei. Sie reist inkognito als Gräfin Elpen, was in adligen Kreisen nicht unüblich ist. Sie sieht Kopenhagen, Göteborg, Christiania (das heutige Oslo) und das Nordkap. Oft herrschen Nebel und Regen, und Therese ist begeistert.

Foto aus Hadumod Bußmann: Prinzessin Dr. h.c. Therese von Bayern. Ihr Leben zwischen München und Bodensee – zwischen Standespflichten und Selbstbestimmung. Allitera Verlag 2015

Ihr Bericht – voller „Szenen persönlicher Begegnungen, bezwingender Landschaftsbilder und eingestreuter ausführlicher Belehrungen über historische und landeskundliche Details“ – erscheint erst acht Jahre später, weil sie zwischendurch andere Reisen macht. (Der Norden ist um diese Zeit übrigens generell von Interesse; auch Kaiser Wilhelm II macht ja 1893 seine berühmte Nordlandreise.)

Im Jahr 1882 geht es nach Russland, für das Therese sich wegen ihrer Freundin Olga schon immer interessiert hat. Sie will zeigen, dass Russland wirtschaftlich und gesellschaftlich nicht so hintendran ist wie alle sagen. Wobei Therese selbst eher fortschrittsskeptisch und gegen die Industrialisierung ist, wie sie sie in Bayern erlebt.

In vier Wochen legen sie 7447 Kilometer zurück. Ihre Unterkünfte und Reisemittel sind alles andere als luxuriös, und oft haben sie mit Ungeziefer zu kämpfen. Als ihr Reisebericht in Buchform erscheint, wird ihr geschlechtsneutrales Pseudonym Th. von Bayer aufgedeckt. Therese ärgert sich, weil sie weder als Frau noch als Prinzessin beurteilt werden will. Doch die Kritiken sind gut, selbst ihr Vetter Ludwig II. schreibt ihr aus Schloss Neuschwanstein, wie sehr er die Lektüre genossen habe. Sie wird um mehrere Zeitschriftenbeiträge gebeten.

Therese hält es nicht lange in München: In den Jahren 1883 und 1886 reist sie nach Griechenland zu ihrer Freundin Olga und macht Abstecher in diverse osteuropäische Länder. 1885 geht es für drei Monate nach Holland und England.

Der Vater wird Prinzregent: „Das Staatswohl heischte es“

Im Jahr 1886 stirbt Ludwig II. Die streng katholische Therese kann nicht an einen Suizid glauben. Ihre erste Aufgabe ist es, zu ihrer urlaubenden Tante Marie, der Königinmutter, ins Lechtal zu fahren, um ihr die Nachricht vom Tode ihres ältesten Sohnes mitzuteilen. Keine leichte Fahrt, die zudem nicht ungefährlich ist, weil die Menschen aufgebracht sind. Sie fragen sich, was mit ihrem „Märchenkönig“ passiert ist, den sie immer gern gemocht haben: Seine Bauvorhaben brachten Arbeit, und er war auf Ausfahrten über Land immer sehr spendabel. Thereses Diener Max Auer beschützt sie jedoch vor allen Gefahren.

Für sie verändert der Tod von Ludwig II. viel: Ihr Vater Luitpold, der sein ruhiges, zurückgezogenes Leben liebt, wird mit 65 Jahren Prinzregent.

Das kostete seine Freiheit, das Glück seiner alten Tage. Doch das Staatswohl heischte es u. der Staat fragt nicht nach dem Wohl des Einzelnen.

Warum ihr Vater überhaupt ernannt wird? Eigentlich müsste auf Ludwig dessen jüngerer Bruder Otto folgen, aber wie wir bereits wissen, ist der ebenfalls entmündigt und deshalb nicht regierungsfähig. Einige plädieren dafür, ihn formal abzusetzen, sodass Luitpold offiziell König werden kann, doch der sperrt sich. Therese sieht es genauso: Otto müsste freiwillig auf den Thron verzichten, aber da er so krank ist, kann er das nicht. Also bleibt nur eine Prinzregentschaft. Luitpold wird durch diese Maßnahme zu Ottos Vormund.

Kaum noch Familienleben

Therese ist nicht begeistert von den neuen Umständen. Sie möchte den Leuchtenbergpalais nicht verlassen und sie findet es schrecklich zu sehen, wie viele Menschen versuchen, dem Prinzregenten zu schmeicheln und vor ihm zu kriechen, um Vorteile für sich selbst herauszuschlagen. Das verursacht ihr „eine große Verachtung, ja Ekel vor den Menschen“.

Ihr Leben wird noch öffentlicher als zuvor. Ein Familienleben gibt es kaum noch – die einzige Zeit, die ihr mit ihrem Vater bleibt, ist das tägliche Frühstück.

Was ihr jedoch ganz gut gefällt: dass sie in der Residenz mehr Zeit mit ihrer Ersatzmutter Marie verbringen kann, ohne erst von Lakaien begleitet den Odeonsplatz überqueren zu müssen. Außerdem lernt sie, wie bereits erwähnt, ihre Schüchternheit abzulegen, weil sie bei den Tischgesellschaften ihres Vaters mit so vielen interessanten Menschen in Kontakt kommt.

Wunderland Brasilien

Im Jahr 1888 reist Therese zum ersten Mal nach Brasilien – und hier wird aus ihrem Gefühl, fliehen zu müssen, endgültig das Gefühl, fliegen zu können. Aus Bücherwissen wird echtes Wissen und echte Begeisterung. Innerhalb von zehn Jahren reist sie dreimal dorthin.

Sie versucht in ihrer Art zu reisen und zu forschen noch, die ganze Naturwissenschaft als eine Einheit zu sehen, obwohl die Wissenschaften um diese Zeit sich eigentlich schon voneinander getrennt und spezialisiert haben.

Sie legt die Reise auf den Herbst und Sommer, weil ihr Vater sie in dieser Zeit nicht allzu sehr braucht. Ihre Vorbereitungen werden immer ausführlicher und perfektionistischer, und zu guter Letzt hat sie 28 Frachtstücke dabei.

Finanziert wird die bislang größte ihrer Reisen aus unterschiedlichen Quellen: Sie hat Geld von ihrer Mutter und von Ludwig I. geerbt, sie hat ihr Abatialeinkommen (von ihrem rätselhaften Äbtissinnenjob), und seltsamerweise gibt es auch einen Zuschuss von der Damenstiftung.

Als Begleitung wählt sie sich die Baronin Franziska von Lerchenfeld aus, die offenbar fit genug ist, um Thereses Ansprüchen gerecht zu werden. Es gibt viele von der Baronin angefertigte Fotos, die mit Plattenkamera fotografiert wurden, Therese hat bereits eine Rollfilmkamera dabei, die erst ein Jahr zuvor erfunden wurde. (Über diese Baronin findet man leider genauso wenig wie über Therese Hofdame Baronin von Malsen, dabei klingen beide Lebensläufe sehr interessant!)

Max Auer kommt ebenfalls mit und lernt vorher noch die Grundlagen der Taxidermie.

Ihr Vater stellt ihr zudem den Sohn eines guten Freundes an die Seite: den Kammerjunker und General der Kavallerie Freiherr Maximilian von Speidel.

Sie dichtet:

Auf weitem Meere fahren wir
Kein Land, kein Schiff zu spähen.
Die Fluthen düster, schwärzlich schier
So weit das Aug’ kann sehen.

Streit und Strapazen

Nach zwölf Tagen erreichen sie die heutige Stadt Belém in Brasilien und beginnen ihre dreizehntägige Fahrt auf dem Rio Negro und dem Amazonas, kehren zurück nach Belém und reisen danach mit Abstechern in die verschiedenen Provinzen bis nach Rio de Janeiro.

Zehnstündige Ritte sind an der Tagesordnung. Sie werden fast von einer Pflanzenlawine verschüttet, und jemand bricht sich eine Rippe. Von Krankheiten wie der Ruhr und vor allem der Malaria werden sie jedoch verschont, weil sie in diesem Hinblick vernünftig vorgehen und zum Beispiel immer das Trinkwasser filtern – „wenn ich nun sterbe“, erklärt sie ihre Vorsicht, „so kann ich nichts mehr für [Otto] werken“.

Mit Speidel streitet sie sich öfter. Was sie als gut geplante, organisierte Reise bezeichnet, sieht er ganz anders. Er schreibt in seinen Tagebüchern, dass Therese oft mit Asthma und Katarrhen zu kämpfen habe, aber zu ungeduldig sei, um sich zu erholen. Sie hetze durch die Gegend, auch wenn er meint, es könne interessant sein, länger an einem Ort zu bleiben, und man könne nun einmal nicht seine in Bayern anhand von Landkarten gemachten Pläne einhalten, wenn die Eisenbahnen und Schiffe unzuverlässig fahren.

Dabei natürlich hat sie gar kein Verständnis dafür, die Stellung des Herrn den Leuten gegenüber zu wahren, sondern verfügt einfach, auch vor den anderen Leuten, so daß der begleitende Herr vor den Augen der übrigen zum unfähigen Simpel gestempelt wird.

Therese bemerkt wie auf jeder Reise, wie wenig man eigentlich zum Leben braucht. Kleiderkonventionen sind ihr bald ganz egal, auch wenn sie in Bayern wohl so verlottert von der Polizei aufgehalten werden würde.

Wie schmeckt eigentlich Papagei?

Sie ist neugierig auf das fremdartige Essen und probiert Paka (eine Nagetierart), Gürteltier, Papagei und Schildkröte. Oft untersucht sie die Tiere erst noch wissenschaftlich, bevor sie sie isst. Sogar ein Affe ist darunter.

Sie besucht soziale Einrichtungen wie pädagogische Institutionen und eine Bergbauschule. Sie besucht Unternehmen wie eine Baumwollwarenfabrik, eine Käserei und Kaffee-, Tee- und Zuckerrohrplantagen.

Ihr Pseudonym gibt sie auf, als sie die Gelegenheit bekommt, den brasilianischen Kaiser Dom Pedro und seine Frau Teresa zu besuchen, die ehemals beste Freundin ihrer Mutter Auguste. In Speidels Tagebuch steht:

Vormittags Botanischer Garten und nach demselben in die Irrenanstalt. Dann um 5 Uhr Empfang bei S. M. dem Kaiser und der Kaiserin. Sehr liebenswürdig.

Therese schildert den Aufenthalt und die ungezwungene Atmosphäre am Hof ausführlicher. Sie mag den belesenen, gastfreundlichen Kaiser, der, als sie ihren Reisebericht ganze neun Jahre später veröffentlicht, leider schon längst hat abdanken müssen. Sie bemitleidet den Mann, der viel Gutes für sein Volk getan hat. (Hier lohnt es sich, den Wikipedia-Eintrag und auch den seines Vaters Dom Pedro I. zu lesen!)

Weitere Länder warten

In den Jahren 1890, 1892 und 1896 reist sie erneut nach Griechenland zu ihrer Freundin Olga.

Im Jahr 1893 geht es zur Weltausstellung nach Chicago und danach zu verschiedenen „Indianerstämmen“, aber ihre romantischen Vorstellungen von diesen Gesellschaften werden nicht erfüllt. Immerhin findet sie interessante Gegenstände für ihre Sammlung und geht dabei nach heutigen Maßstäben ziemlich rücksichtslos vor: Sie nimmt sogar diverse Totenschädel und eine Mumie eines etwa zwanzigjährigen Mannes mit. (Falls euch das an Amalie Dietrich erinnert: Mich auch.)

Sie fährt nach Mexiko-Stadt und versucht dann, den Popocatépetl mit seinen 5462 Metern zu erklimmen, muss aber wegen einer Bronchitis aufgeben. Auch hier bleibt sie vernünftig, um weiter für Otto da sein zu können.

Im Jahr 1898 ist sie wieder in Südamerika auf den Spuren Humboldts. Vor allem will sie die Münchner Sammlungen, zum Beispiel die Botanische Staatssammlung, auffüllen. Sie sammelt immer noch eher zufällig und spontan, aber das ist in ihrer Zeit noch üblich, um eine möglichst vollständige Sammlung zu erhalten. Sie bringt von dieser Reise „429 Pflanzenarten, 929 Tierarten u. drei Arten von Versteinerungen“ mit. Sechs Pflanzen davon werden als neue Arten anerkannt und tragen ihren Namen als „Theresiae“ in der wissenschaftlichen Bezeichnung. Leider sind große Teile dieser Sammlung 1944 bei Bombenangriffen verlorengegangen.

Sie bringt auch lebende Tiere mit, die bei ihr leben dürfen. So wohnt ein erwachsener männlicher Rüsselbär in ihrem Vorzimmer, der sich nicht immer freundlich den Besucher:innen gegenüber verhält. Ihr Liebling ist die Hündin Tschupi.

Endlich wird sie gewürdigt

Im Jahr 1892 wird sie als Ehrenmitglied in die Königlich Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Regulär sind Frauen noch nicht zugelassen, wofür es gute Gründe gibt: das männliche Schamgefühl. Denn in Gegenwart von Damen kann man über gewisse Dinge einfach nicht offen sprechen.

Aber der Akademiepräsident und Hygieniker Max von Pettenkofer, dem München seine Kanalisation und zentrale Trinkwasserversorgung verdient, schlägt sie als Ehrenmitglied vor. Auch eine öffentliche Abstimmung wäre offenbar zu beschämend, und so wird Therese schließlich per „Kugelung“ (mit schwarzen und weißen Kugeln für Nein und Ja) aufgenommen.

Ihr Vater ist so stolz auf sie, dass er eine Marmorbüste stiftet, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bibliothek der Akademie steht und heute in Hohenschwangau zu sehen ist.

Nur fünf Jahre später, also 1897, wird ihr die Ehrendoktorwürde der Münchner Universität verliehen. Einige ehrenwerte Professoren kommen sie besuchen und schlagen es ihr vor. Und auch wenn ihr die Aufmerksamkeit wieder einmal furchtbar peinlich ist, nimmt sie die Ehrung an.

Foto aus Hadumod Bußmann: Prinzessin Dr. h.c. Therese von Bayern. Ihr Leben zwischen München und Bodensee – zwischen Standespflichten und Selbstbestimmung. Allitera Verlag 2015

Erst 1903 wird es übrigens den Frauen allgemein erlaubt, die Universität besuchen zu dürfen. Die Erklärung hat Thereses Vater unterschrieben.

Therese fährt nun immer häufiger zu Kongressen im In- und Ausland, lauscht Vorträgen an der Uni, spricht mit Gelehrten und dankt in ihren Schriften, die jetzt bei größeren, wichtigeren Verlagen wie Cotta und Reimer erscheinen, anderen Wissenschaftlern, um zu zeigen, dass sie nun Teil dieses Kreises ist. Außerdem ändert sie ihnen Autorinnennamen zu Therese Prinzessin zu Bayern, Dr. ph. h. c. – vorbei ist es mit dem geschlechtsneutralen Pseudonym.

Auch international erfährt sie Anerkennung, zum Beispiel 1908 durch die französische Rosette d’officier de l’instruction publique für wertvolle geografische und naturwissenschaftliche Arbeiten.

Der Vater stirbt

Am 12. Dezember 1912 stirbt der Prinzregent. Therese hat das Versprechen, das sie ihrer Mutter gegeben hat, immer gehalten. Sie ist inzwischen selbst 63 Jahre alt.

Unerwartet kommt der Tod Luitpolds nicht – er war alt und hatte keine Lebensfreude mehr, was er seiner Tochter gegenüber öfter ausgedrückt hat. Sie ist bei ihm und kann sich verabschieden. Trotz der Trauer weiß sie, dass er immer stolz auf sie und ihre wissenschaftlichen Leistungen war.

Nun ist ihr Bruder, Prinz Ludwig, an der Reihe, Prinzregent zu werden. Doch der erklärt stattdessen, König werden zu wollen. Er macht das, wogegen sein Vater sich immer gesperrt hat: Er erklärt Otto als geisteskrank und setzt ihn formell als König ab. Otto versteht gar nicht mehr, was passiert.

Therese ist wütend auf Ludwig: „Gratulieren kann ich Dir nicht“, schreibt sie. „Du weißt, wie ich denke“. Während der Proklamation bleibt sie in Lindau in der Villa Am See (wo sie sich oft lange aufhält), aber später zur Landeshuldigung fährt sie doch nach München, um nicht offen zu zeigen, dass es Unstimmigkeiten in der Königsfamilie gibt.

Sie muss sich nun um den Nachlass ihres Vaters kümmern und einen eigenen Hausstand gründen. Sie freut sich, dass sie zurück ins Leuchtenbergpalais ziehen kann, an den sie so viele schöne Erinnerungen an ihre Kindheit und ihre Mutter hat. Ihre wissenschaftlichen Sammlungen, für die ihr Vater ihr in der Residenz einige Räume zur Verfügung gestellt hatte, nimmt sie mit.

Auch die Villa Am See gestaltet sie neu und dekoriert die Zimmer nach ihren Reisen, sodass es ein Griechenlandzimmer, ein Russlandzimmer usw. gibt. Sie wird Gastgeberin einer Art Salon und schart einen Kreis aus gebildeten Aristokratinnen um sich.

Gemalt von Friedrich August von Kaulbach

Doch das schöne Leben hält nicht lang

Schon zwei Jahre später bricht der Erste Weltkrieg aus.

Ihre geplante Weltumseglung muss sie aufgeben – sie glaubt nicht, dass sie die noch wird nachholen können, weil sie doch inzwischen schon alt und immer wieder krank ist.

Anders als die meisten bleibt sie dem Krieg gegenüber skeptisch und meidet das aufgeregte München. Während ihre militärbegeisterten Brüder aktiv mitkämpfen und Regimenter führen, hält sie nichts von der ganzen Propaganda. Sie meint, die Feindesländer gut und persönlich zu kennen, und versteht nicht, wie man sich ihnen gegenüber verhält und glaubt, damit Erfolg haben zu können.

Wir brandmarkten an den Feinden, was wir geradeso thaten, aber wir gestanden letzteres nicht ein, oder wenn wir es nicht läugnen konnten, so fanden wir bei uns erlaubt, was wir bei den Gegnern zu Verbrechen stempelten, mit welcher Logik war mir unverständlich.

Sie hasst es besonders, dass sich die Lügen und Vertuschungen auch auf die Wissenschaft ausbreiten, die politisch missbraucht wird. Aber Kritik wird nicht gern gehört:

Im übrigen schwieg ich u. schluckte, schluckte bis zum Ersticken.

Sie vermisst den Kontakt zu Olga und Lady Blennerhasset und weiß viele Monate lang gar nicht, wie es ihren Freundinnen geht.

Um sich abzulenken, hilft sie in Lindau beim Roten Kreuz aus, sammelt Geld und gründet in einem Nebengebäude ihrer Villa ein Lazarett.

Ihr Lieblingsneffe stirbt, der einzige Sohn ihres bereits verstorbenen Lieblingsbruders Arnulf, dessen Linie damit ausgelöscht ist. Und dann kommt es noch schlimmer.

„Und kann nicht fassen, was mich traf“

Ihr geliebter Otto liegt im Sterben. Als Therese die Nachricht bekommt, fährt sie sofort nach Fürstenried und kommt auch noch rechtzeitig, um sich von ihm zu verabschieden, auch wenn er sie schon lange nicht mehr erkennt. Es ist Oktober 1916.

Sie dichtet:

Nun hat der Todesengel dich geküßt, mein Lieb
Und schlafest Du den ew’gen Schlaf.
Ich knie still bei dir in wehem Schmerz gelöst
Und kann nicht fassen, was mich traf.

Trotz allem, so vertraut sie ihrem Tagebuch an, ist sie froh, dass sie ihn hatte und ihre Gefühle für ihn:

Ich dünkte mich reich u. glücklich zu nennen – denn Wenige wohl gibt es, die das gehabt, was mir geworden, so rein, so himmlisch schön, so ideal. Dieses Glück, trotz allem Leidens, ließ keine Bitterkeit in mir aufkommen; es erzeugte mir eine unsagbare Dankbarkeit.

Otto hinterlässt 30 Millionen Mark, aber kein Testament. Therese hat somit keinen Anspruch auf nichts, auch wenn sie die einzige ist, die ihn regelmäßig besucht hat. Sie darf oder muss aus seinem Besitz ein paar Gegenstände auswählen, die für sie und die Familie wichtig sein könnten.

Das Ende des Kriegs – und der Monarchie

Als in München 1918 die Revolution ausbricht, flieht König Ludwig III. mit seiner kranken Frau und seinen drei unverheirateten Töchtern aus München. Therese hört davon in Lindau und bangt viele Tage, wo ihre Verwandten wohl sind.

In dieser Zeit erklären die Revolutionäre das Haus Wittelsbach für abgesetzt und „alle Vorrechte ehemals privilegierter Personen und Stände“ für aufgehoben.

Therese bleibt in Lindau und meidet erst einmal die Öffentlichkeit, weil sie nicht weiß, was passieren wird. Aber sie wird positiv überrascht:

Wurde man erkannt, so wurde man still, mit Achtung, fast möchte ich sagen mit stummem Mitleid begrüßt.

Die Menschen in Lindau bringen ihr weiterhin Wertschätzung entgegen und wollen ihr sogar helfen, dass sie in den kommenden Jahren ihre Villa behalten kann.

Sie selbst freut sich über die neue Freiheit, die ja ohnehin immer ihr Lebensziel war. Und wenn jetzt jemand zu ihr kommt, dann weiß sie, dass sie nur ihretwegen kommen und nicht wegen ihres Standes.

Außerdem findet sie eigentlich eine Republik auch eine gute Regierungsform. Theoretisch.

Aber da die Menschen nicht vollkommen sind, stellt sich die Sache in der Praxis ganz anders. Nicht der Beste u. Fähigste kömt meist an die Spitze, sondern oft Irgendeiner, der Parteiinteressen oder nichtssagende Combinationen oder gar der pure Zufall aus der Menge herausheben.

Und so sehr sie die neue Freiheit auch genießt – für ihre Familie ist sie furchtbar gekränkt:

Daß wir zum Volke gehörten u. das Volk zu uns, war ganz selbstverständlich; daß wir für unser Vaterland leben u. wirken sollten, daß es unsere Pflicht war, unsere Kräfte dem Lande zu widmen, dies pflanzte uns vier Geschwistern die Mutter schon in zartester Jugend in’s Herz, u. der Vater lehrte es uns durch seine selbstlose, pflichttreue Lebensführung. Und dann erlebten wir den Rückschlag – eine mindestens 800, ja tausendjährige Zusammengehörigkeit wurde zertrümmert u. unsere Bestrebungen zum Besten um schnöden Undank vergolten.

Der abgesetzte, alte König Ludwig III. muss noch öfter fliehen. Seine geliebte Frau stirbt, und er selbst bleibt bis zu seinem eigenen Tod 1921 in Ungarn. Therese klingt in ihren Aufzeichnungen versöhnlich und bedauert das traurige Ende ihres ältesten Bruders, dem sie nie nahe gestanden hat.

Die Prinzessin streicht ihre Gartenmöbel

In der Nachkriegszeit leidet Therese genau wie alle anderen unter den Teuerungen. Alltägliche Arbeit muss sie selbst erledigen, streicht ihre Gartenmöbel und entstaubt ihre Buchsammlung. Eigentlich hat sie nichts gegen solche Tätigkeiten, schreibt sie, aber sie vermisst die wissenschaftliche Arbeit, für die ihr der Kopf fehlt.

Im Jahr 1920 wird sie zum Ehrenmitglied der Anthropologischen Gesellschaft in München ernannt und feiert ihren siebzigsten Geburtstag.

Im Jahr 1923 wird der Wittelsbacher Ausgleichsfonds bestimmt, der das kulturelle Erbe der ehemaligen Königsfamilie schützt, während sich die Wittelsbacher freiwillig verpflichten, ihr Privatvermögen (vor allem Kunstschätze) in den Fonds einzubringen und damit der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So sind auch Thereses Finanzen wieder gesichert.

Ebenfalls 1923 wird die goldene Hochzeit ihres Bruders Leopold mit Pomp und Pracht gefeiert:

Es war plötzlich wie in alter Zeit … Dann noch ein glänzender Abend-Empfang in Leopolds eigenem Heim u. dann – sank wieder Alles zurück in seinen Märchenschlummer, u. das Erlebte erschien wie ein Traum.

… „der schwarze Samt des Kleides, ein weisses Blumenkreuz“

Therese geht es schon eine Weile gesundheitlich nicht mehr gut. Jeden Sommer fährt sie auf Kur, um sich zu erholen.

Da verlangt das neue Familienoberhaupt, Kronprinz Rupprecht, auch noch von ihr, dass sie ihre Sammlung aus dem Ausstellungssaal im Leuchtenbergpalais entfernt soll, weil er den Platz selbst brauche. Sie weiß nicht, wohin mit ihrem großen Schatz – es gibt auch keinen Katalog, sodass sie sich Hilfe holen könnte: Nur sie kennt sich aus.

Der Stress macht sie krank, sie wird tuberkulös und bettlägerig. Und sie weiß genau, dass sie sterben wird.

Ihre Freundin Olga kommt aus Griechenland nach Lindau, um bei ihr zu sein. Ihre Hofdamen kümmern sich um sie. Auch Max Auer kommt mit seinen 78 Jahren noch einmal zu Besuch.

Sie hat bereits alle Details festgelegt: Sie will im Äbtissinnengewand beerdigt werden, Gloxinien soll es geben und viel Grün „vom Sarg herunter der Hermelin bis auf den Boden, der schwarze Samt des Kleides, ein weisses Blumenkreuz“.

Nach ihrem Tod strömen die Menschen aus ganz Lindau herbei und schluchzen laut. Dann wird sie nach München überführt und in der Theatinerkirche in der unter dem Hochaltar gelegenen Fürstengruft zur Ruhe gelegt. Auch hier wird sie von vielen Menschen begleitet, ihre Hofdame schreibt, man könne fast glauben, die Monarchie sei gar nicht abgeschafft worden.

Therese und der Feminismus

Programmatische Aussagen zur Stellung der Frau in der Gesellschaft gibt es von Therese nicht.

Für sie selbst ist die Sache eigentlich klar – als sie das Reisen anfangs noch als Flucht vor dem Münchner Alltag ansieht, schreibt sie in ihrem Tagebuch:

Wäre ich [Ottos] Weib, wäre ich das geworden, was einzig ich mein ganzes Leben gewünscht … So kalt u. Tod ist die Wissenschaft, so warm der wahre Beruf einer Frau.

Dass sie dann nicht etwa einen anderen Mann heiratet, sondern ihr Leben ganz anders gestaltet, ist da doch besonders interessant.

In ihrem Russland-Reisebericht geht sie einmal auf die Situation der Frauen ein und berichtet von Mädchengymnasien und Ausbildungsmöglichkeiten für Lehrerinnen und Medizinerinnen.

Dann gibt es da noch einen Brief an ihren Vater von ca. 1899, in dem sie all die Wissenschaftler aufzählt, samt vollem Namen, Titel und Funktion, die bei ihr zu einem Tischgesellschaft zu Gast waren. Auf „Baron Andrian-Warburg, österr. Ministerialrath, Anthropologe u. Ethnograph“ und „Geheimrat Rudolf Virchow, Professor an der Universität Berlin“ folgt „Frl. Professor Mestorf, ein altes Frauchen u. (weiblicher) Direktor des Kieler prähistorischen Museums“. Dieses 1828 geborene Fräulein, das sie so abschätzig beschreibt, führte damals als erste Frau in Preußen den Titel „Professor“!

Und 1920 erhält Therese zu ihrem 70. jede Menge Geburtstagspost. Ihr Kommentar:

Bezeichnend war, daß bei den unzähligen Briefen, die ich erhielt, diejenigen, welche aus Herrenhand kamen, ein weitaus tieferes Verständniß meines Wesens, meiner Bestrebungen, meiner Lebensziele verriethen als diejenigen, welche aus Damenkreisen stammten.

Gleichzeitig engagiert sie sich aber auch im Katholischen Frauenbund und setzte sich für die Verbesserung der Mädchen- und Frauenbildung ein.

Thereses Erbe

Es gibt ausführliche Quellen von Therese selbst:

  • Ihre veröffentlichten Reiseberichte
  • Ihre offiziellen biografischen Notizen
  • Ihre Tagebücher, die ein ganz anderes Bild liefern als die offiziellen Aufzeichnungen: Hier schreibt sie sich all ihre Gefühle von der Seele, ihre depressiven Episoden und ihr Liebe zu Otto. „Man könnte meinen“, so Bußmann, „es handele sich um zwei voneinander getrennt schreibende Ichs ein und derselben Person.“
  • Die „Geschichte meines Herzens“, in der sie über ihre Gefühle für Otto schreibt – die Nachwelt sollte also doch davon wissen, was sie ihr Leben lang geheim gehalten hat
  • Zahlreiche Briefe
  • Ihre Gedichte: „In einer schwarzen, leicht ramponierten, verschließbaren Schatulle, die mit einer kleinen goldenen Krone und mit Thereses Initiale ‚T‘ verziert und mit tiefblauem Samt ausgefüttert ist, lagern elf in Lackpapier gebundene Schulhefte, angefüllt mit zweihundertdreißig zwischen 1869 und 1917 entstandenen Gedichten … in absichtsvoll kalligraphischer Schönschrift mit wechselnder blauer Tinte von einzelnen, schier unlesbaren Entwurfszetteln abgeschrieben und die Hefte sorgfältig mit Seitenzahlen und Inhaltsverzeichnissen versehen“

All das liegt im Geheimen Hausarchiv. Sie wollte es in staatlichen Händen sehen, weil sie in ihren letzten Jahren mitbekommen hat, dass die alten Traditionen nach dem revolutionären Umbruch viel zu schnell in Vergessen geraten, und so hatte sie wohl Angst, dass ihre Aufzeichnungen verloren gehen. Hadumod Bußmann hat den Nachlass durchgearbeitet und in verschiedenen Veröffentlichungen zusammengestellt.

Thereses Spuren an der LMU

Die Lindauer Villa Am See hat Therese ihren Nachfahren vererbt, doch sie ist mit der Zeit verfallen und wurde 1985 abgerissen. Jetzt stehen dort Eigentumswohnungen.

Die an der LMU angesiedelte Prinzessin-Therese-von-Bayern-Stiftung setzt sich für die Förderung von Frauen in der Wissenschaft ein und vergibt einen Preis an Frauen, die sich um ihr Fachgebiet verdient gemacht haben und Vorbild für junge Wissenschaftlerinnen sein können. Seit 2021 gibt es an der LMU außerdem den Prinzessin-Therese-von-Bayern-Lehrstuhl für Systematik, Biodiversität und Evolution an der LMU München.

Seit April 2009 steht ihre Büste in der Ruhmeshalle in München.

Es gibt diverse Schulen, die ihren Namen tragen, sowie die Therese-von-Bayern-Straße in München und den Therese-von-Bayern-Platz in Lindau neben der Inselhalle und dem Kreisverband des Roten Kreuzes.

***

Quellen:
Hadumod Bußmann: „Ich habe mich vor nichts im Leben gefürchtet“. Die ungewöhnliche Geschichte der Therese Prinzessin von Bayern. Insel Verlag Berlin 2014,
Hadumod Bußmann (Hrsg.): Die Prinzessin und ihr „Kavalier“. Therese von Bayern und Maximilian Freiherr von Speidel auf Brasilien-Expedition im Jahr 1888. Allitera Verlag 2015.
Hadumod Bußmann: Prinzessin Dr. h.c. Therese von Bayern. Ihr Leben zwischen München und Bodensee – zwischen Standespflichten und Selbstbestimmung. Allitera Verlag 2015.

„Das Weltall – unendliche Weiten“ – so könnte unsere Folge über Astronominnen auch beginnen, mit einem Zitat aus Star Trek. So altmodisch die Serie aus den 60er Jahre heute auch erscheinen mag, muss man ihr doch zugute halten, dass sich die Crew aus verschiedenen Nationalitäten zusammensetzte – und das mitten im Kalten Krieg! Die einzige Frau auf der Brücke war dann die Kommunikationsoffizierin Uhura. Frauen in Führungspositionen waren offensichtlich noch schwerer vorstellbar als ein Russe oder ein Vulkanier.

Beinahe 60 Jahre sind seitdem vergangen. Heutzutage erobern sich Frauen nicht nur in der Welt der Serien und Kinofilme sondern auch in der sehr realen Welt der Wissenschaft Anerkennung und relevante Positionen. Unsere heutige Gästin, die studierte Astrophysikerin Jana Steuer, erzählt uns in dieser Folge von ihrem persönlichen Werdegang, und sie stellt uns vier Frauen vor, die Grundlegendes in der Astronomie geleistet haben. Eine tolle Folge, bei der wir viel gelernt haben! Ein ganz großes Dankeschön an Jana, du hast das Wort.

***

Ein Gastbeitrag von Jana Steuer

Stolpersteine statt Sternenstaub – Frauen in der Astronomie

Das Feld der Astrophysik ist einer der ältesten Forschungsbereiche der Menschheit. Wir haben schon immer zu den Sternen gesehen und uns gefragt, was sie uns zu sagen haben, was sie wirklich sind und was vielleicht hinter ihnen liegen mag. Es ist das Forschungsgebiet unserer eigenen Herkunft, eng verknüpft mit der Entstehung der Erde, unseres Heimatsterns, der Sonne, und tatsächlich des gesamten Kosmos an sich. Schon lange erforschen Menschen – ob Männer, Frauen oder andere – das Weltall. Trotzdem sind es von Kepler bis Hawking größtenteils die Männer in der Astronomie, und unter diesen meistens diejenigen aus der westlichen Sphäre, die nicht nur mit wichtigen Preisen geehrt wurden, sondern auch überhaupt in der kollektiven Erinnerung blieben. Doch zu jeder Zeit und an jedem Ort auf dieser Welt gab es Frauen, die den Himmel erforschten. Die Hürden für sie waren teilweise so drastisch, dass ich persönlich mich oft frage, ob ich genauso hartnäckig dieser Leidenschaft gefolgt wäre wie sie, hätte man mir solche Steine in den Weg gelegt. Der Wille und die Treue zum Ideal der Forschung dieser Frauen beeindrucken und inspirieren mich heute zutiefst.

Es ist nicht einfach, einige wenige Beispiele dieser Frauen herauszupicken. Sobald man beginnt, in dieses Thema einzusteigen, fliegen einem hunderte Namen entgegen, deren Geschichten es verdient haben, erzählt zu werden. Ich werde hier nur vier Beispiele anschneiden, verteilt über vier Jahrhunderte, die die Astrophysik durch ihre herausragende Arbeit, kreativen Geist und innovativen Ideen prägten. Ohne diese Frauen sähe die Wissenschaft des großen Ganzen, des gesamten Kosmos an sich, heute völlig anders aus.

Maria Cunitz (1610–1664)

Maria Cunitz wurde in Schlesien im selben Jahr geboren, in dem Galileo Galilei die Jupitermonde entdeckte. Sie verfasste im Jahr 1650 das Werk Urania Propitia, das als eines der bedeutendsten astronomischen Bücher des 17. Jahrhunderts gilt. Darin verbesserte sie die Rudolfinischen Tafeln von Johannes Kepler und vereinfachte komplexe Berechnungen zur Planetenkonstellation. So konnten auch Menschen ohne tiefere mathematische Kenntnisse an der Astronomie teilhaben. Sie war damit eine der Wegbereiterinnen der „Populären Astronomie“, eine Art frühe Wissenschaftskommunikatorin. Ihre Arbeit verschaffte ihr hohes Ansehen und sie wurde als die „weibliche Kopernikus“ oder auch “Athene von Schlesien” bezeichnet. Heute ist zumindest ein Krater auf der Venus, auf der alle landschaftlichen Merkmale Frauennamen tragen, nach Maria Cunitz benannt. 

Annie Jump Cannon (1863–1941)

Annie Jump-Cannon wurde schon als Kind von ihrer Mutter ermutigt, ihrem wissenschaftlichen Interesse nachzugehen. Sie brachte ihr die Sternkonstellationen bei, lehrte sie gleichzeitig aber auch Hauswirtschaft, was Annie später zu einem Talent in Ordnung und Organisation von Daten verhalf. Sie studierte Astronomie und Physik am Wesley College in Massachusetts, USA. Nach einer Scharlacherkrankung wurde Annie fast vollständig taub, was die Teilhabe am sozialen Geschehen für sie deutlich erschwerte. Stattdessen konzentrierte sie sich immer mehr auf ihre Arbeit. 

Um die Chance wahrzunehmen, mit einem damals hochmodernen Teleskop zu arbeiten, ging sie schließlich ans Radcliff College in Boston. Dort hielten Harvard-Professoren ihre Vorlesungen ein weiteres Mal vor einem Publikum von Frauen, die an der prestigereichen Uni nicht zugelassen waren.

Sie wurde kurz darauf Teil der „Harvard Computers“: ein Forschungsprojekt mit dem Ziel, jeden Stern, heller als eine bestimmte Grenze, am Himmel zu identifizieren und zu klassifizieren. Annie konnte 1913 etwa 200 Sterne pro Stunde hochgradig akkurat bearbeiten. Am Ende ihres Lebens hatte sie weit über 300.000 Sterne kategorisiert, mehr als jeder andere Mensch vorher oder nachher.

Im Zuge dieser Arbeit erfand Annie das bis heute gängige sogenannte Harvard Classification System, was Sterne anhand von Temperatur und Spektraltypen sortiert und sie in O, B, A, F, G, K oder M kategorisiert und ihnen Nummern von 0 bis 9 (je niedriger desto wärmer) gibt. Dass das System nicht nach ihr, sondern der Universität benannt wurde, ist symptomatisch für die Zeit. Jede:r Studierende der Astronomie kennt dieses System, es ist eine der Grundlagen im Feld der stellaren Physik.

Die Frauen in Harvard wurden oft kritisiert, da sie keine klassischen Hausfrauen waren und solche wie Annie sich auch noch für das Frauenwahlrecht einsetzten (was die USA erst 1920 ins Gesetz aufnahmen). Annie soll dazu gesagt haben: „Wenn Frauen den Himmel organisieren können, dann können sie wählen!“

Cecilia Payne-Gaposchkin (1900–1979)

Cecilia Payne wuchs in England auf und flog kurz vor ihrem Abschluss von der Schule, da sie ein Buch von Platon in einen Bibelumschlag eingewickelt hatte und vorgab, ihren Religionsstudien nachzugehen. 1923 emigrierte sie in die USA, da sie damals als Frau in England keine Hoffnung auf eine akademische Karriere hatte. In Harvard traf sie unter anderem auch auf Annie Jump-Cannon.

Sie war die erste Person, die am Radcliff College promovierte und ihre Dissertation stellte 1925 eine revolutionäre Theorie auf: Sterne bestehen überwiegend aus Wasserstoff und Helium. Unter äußerem Druck musste sie diese Erkenntnis mit der Notiz „höchstwahrscheinlich nicht richtig“ versehen. Doch Cecilia behielt Recht. Heute wissen wir, dass Sterne während der längsten Phase ihres Lebens heiße Bälle aus Gas sind, die Wasserstoff zu Helium in ihrem Kern fusionieren.

Die Doktorarbeit gilt bis heute als eine der genialsten Doktorarbeiten, die in der Astronomie jemals geschrieben wurden. Ein Preis für herausragende Dissertation trägt bis heute Cecilias Namen.

Später wurde sie die erste Frau, die den Titel einer Professorin und die Leitung einer Abteilung an der Harvard University erhielt.

Vera Rubin (1928–2016)

Nach ihrem abgeschlossenen Bachelor-Abschluss wollte Vera Rubin eigentlich an die Princeton University, wo man sie aber als Frau 1948 noch nicht zuließ. Es sollte noch weitere 27 Jahre dauern, bis Princeton Frauen im Master Astronomie aufnahm.

Sie ließ sich aber nicht entmutigen und erhielt ihren Master-Abschluss schließlich an der Cornell-Universität, wo sie bereits mit einigen Titanen der Physik, wie Richard Feynman und Hans Bethe, arbeiten konnte.

Sie beobachtete als erste Frau am Palomar-Observatorium in Kalifornien 1965 den Nachthimmel, obwohl es im Gebäude noch nicht einmal eine Damentoilette gab. 

Nachdem ihre Doktorarbeit heftige Kontroversen mit sich brachte (die sich später auflösten, als herauskam, dass ihre Resultate und Schlussfolgerungen absolut korrekt waren), suchte sie nach einem Fachgebiet, wo man sie in Ruhe ließ. Etwas Unaufgeregtes, am liebsten fast Langweiliges. Und so untersuchte sie in den 1970er Jahren die Rotationskurven von Galaxien. Dabei fand sie, völlig unverhofft, die ersten überzeugenden Hinweise auf die Existenz der Dunklen Materie. Ihre Forschungsergebnisse zeigten, dass die sichtbare Materie in Galaxien nicht ausreicht, um deren Rotationsgeschwindigkeit zu erklären.

Diese Erkenntnis ist eine der großen Revolutionen im Bereich der Astrophysik und legte den Grundstein für das heutige Verständnis des Universums, in dem Dunkle Materie eine entscheidende Rolle spielt. Bis heute jagen Forschende auf dem gesamten Planeten nach diesen mysteriösen Materie-Teilchen. Bislang ohne Erfolg. Doch wir erkennen immer und immer wieder, an der unterschiedlichsten Stellen, dass sie da sein muss: Diese „unsichtbare“ und schwach wechselwirkende Materie, ohne die es niemals Strukturen wie Galaxien – und damit auch uns – gegeben hätte.

Ein Vermächtnis, von dem junge Wissenschaftlerinnen heute noch zehren können

Weder Rubin noch eine der anderen genannten Frauen erhielten für ihre Arbeit den Nobelpreis. Der Physik-Nobelpreis ging seit seiner ersten Vergabe im Jahr 1901 an 219 Männer und fünf Frauen. Drei dieser fünf erhielten ihn in den letzten sechs Jahren.

Nichtsdestotrotz hinterlassen diese Frauen und ihre Kolleginnen über die Geschichte hinweg ein Vermächtnis, von dem junge Wissenschaftlerinnen heute noch zehren können. Sie bereiteten den Weg, bewiesen, dass es möglich ist, und zeigten immer wieder aufs Neue, dass die Wissenschaft im Allgemeinen und die Astronomie im Besonderen keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern macht, wenn es drauf ankommt: Menschen forschen. Menschen erkennen. Und Menschen sind fasziniert vom Kosmos, dem Nachthimmel über uns und den Geheimnissen, die dort auf uns warten.

Wenn ich an die großen Frauen dachte

Für mich sind die Geschichten dieser Frauen ein Grund, immer weiterzumachen. Ich studierte Physik im Bachelor an der LMU München und verzweifelte bestimmt hunderte Male am Stoff, der so unaussprechlich kompliziert war und mein Gehirn an seine Grenzen trieb. Wenn man sich durchbeißen soll, dann braucht man einen Grund, eine Motivation. Ich fand diese einerseits in den Astrophysik-Wahlpflicht-Vorlesungen und -Seminaren: wenn es um Sterne, Exoplaneten, Schwarze Löcher und Quasare ging, konnte ich die Energie finden, Tage in der Bibliothek zu verbringen und dort wie eine Verrückte zu lernen. Und andererseits erfüllte mich jedes Mal ein Gefühl von Stolz und Wille, wenn ich an die großen Frauen dachte, die vor mir kamen. Frauen, die für ihr Recht kämpften, an Universitäten zu studieren und zu lernen. Frauen, ohne die die Physik heute eine völlig andere gewesen wäre, wenn sie sich dem Druck gebeugt hätten. 

Später studierte ich Astrophysik im Master und erkannte, dass ich die richtige Wahl getroffen hatte. Es ist nicht einfach nur so, dass ich den Kosmos und sein Werden und Vergehen spannend finde. Natürlich treibt mich die Frage um, ob es wohl außerirdisches Leben gibt, was im Inneren eines Schwarzen Loches zu finden ist und wie das Universum wohl eines Tages enden wird. Aber es ist auch ein ganz besonderes Gefühl, das ich mit der Astronomie verbinde, was mir ganz klar zu verstehen gibt: Hier gehörst du hin. Es ist das Gefühl, wenn ich abends in den Sternenhimmel sehe. Wenn ich an die Sonne denke und ihre unfassbare Macht. Wenn ich über fremde Welten, irgendwo da draußen, Lichtjahre von uns entfernt, nachdenke und mir vorstelle, wie es dort wohl aussieht. Ich fühle mich dann frei, erfüllt von Sinn und auf eine eigenartige Art zuhause. Als Menschen sind wir ein Teil des Kosmos, die Möglichkeit des Universums über sich selbst nachzudenken. Und dieser Gedanke erfüllt mich. Vielleicht erfüllte er auch einst die großen Frauen in diesem Gebiet, deren Nachfolgerinnen heute die Universitäten auf der ganzen Welt besuchen.

Astronomie ist für alle da und zugänglich

Nach meinem Master-Abschluss machte ich die Wissenschaftskommunikation zu meinem Beruf. Heute versuche ich in anderen Menschen genau dieses Gefühl, was ich eben beschrieb, zu entfachen. Es geht nicht darum, ob man damals in der Schule gut in Mathematik oder Physik war. Astronomie ist für alle da und zugänglich, man braucht nur jemanden, der einem vielleicht die Richtung weist. Das ist meine Aufgabe und ich gehe sie jeden Tag mit Freude an. Das Universum ist voller atemberaubender Anblicke, sensationeller Ereignisse und es hält noch eine große Menge Überraschungen für uns parat. Es liegt an uns, hinzusehen. Egal wer wir sind, wann wir leben und wo wir herkommen. Das war schon immer so.

***

Links und Tipps:
Janas Podcast „Ein großer Schritt für die Menschheit“ und auf Instagram
Janas Podcast „Translunar“ (Volkssternwarte München)

***

Artwork und Musik: Uwe Sittig 
Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 
Frauenleben-Podcast 
Instagram: https://www.instagram.com/frauenleben.podcast/

Hierzulande kennt wohl kaum jemand Margaret Mead. In den USA war die Anthropologin allerdings ein Medienstar, die sich nicht nur über fremde Völker äußerte, sondern auch zu nahezu jeder Debatte der amerikanischen Gesellschaft.

Am häufigsten sprach sie über das Verhältnis von Mann und Frau sowie Jugend, Pubertät und Sexualität.

***

Der wunderbare Roman von Lily King heißt Euphoria. Erschienen bei dtv, übersetzt von Sabine Roth.

In der Einführung erwähnen wir den Substack-Blog von Kaye Jones, The Herstorian.

***

Quellen:
Mary Catherine Bateson: Mit den Augen einer Tochter. Meine Erinnerung an Margaret Mead und Gregory Bateson. Rowohlt 1986. Übersetzt von Rosemarie Lester.
Jane Howard: Margaret Mead. A Life. Simon and Schuster 1984.
Charles King: Schule der Rebellen. Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand. Carl Hanser Verlag 2020. Übersetzt von Nikolaus de Palézieux.
Hilary Lapsley: Margaret Mead and Ruth Benedict. The Kinship of Women. University of Massachusetts Press 1999.

***

Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

Frauenleben-Podcast 

Instagram: https://www.instagram.com/frauenleben.podcast/


Die Architektin Zaha Hadid erhielt als erste Frau die bedeutendste Ehrung im Bereich Architektur: den Pritzker-Preis. Das war 2004. Ihre Entwürfe sind markant und streben nach Schwerelosigkeit. Sie selbst war eine hartnäckige, selbstbewusste Frau, der es gelang, sich in einer männerdominierten Branche durchzusetzen.

***

Eine Biografie über diese beeindruckende Frau, die Forbes zeitweise unter den 100 mächtigsten Frauen der Welt führte, gibt es leider noch nicht. Dafür eine Reihe von Ausstellungskatalogen und Bildbänden mit ihren Werken, einen Gesprächsband mit Hans Ulrich Obrist, dazu verschiedene Kinderbücher und natürlich einen Wikipedia-Artikel und richtig gute Podcasts. Doch einer mehr kann definitiv nicht schaden!

Kindheit

Geboren wird Zaha Muhammad Hadid am 31. Oktober 1950 in Bagdad. Ihre Mutter Wajiha Sabunji (?–1983) und ihr Vater Muhammad Hussein Hadid (1907–1999) stammen aus Mossul; ihre wohlhabenden Familien sind in den Bereichen Handel, industrielle Investitionen und Immobilien aktiv. Ihr Vater studiert an der London School of Economics, ist 1946 Mitbegründer der Demokratischen Partei des Iraks, nach dem Staatsstreich 1958 zweimal Finanzminister in der neuen Republik. 1960 ist er Mitbegründer und Leiter einer progressiven Partei.

Sie pflegen einen westlichen Lebensstil. Zaha geht, obwohl ihre Familie dem sunnitischen Glauben anhängen, in eine von katholischen Nonnen geleitete Klosterschule, später wechselt sie auf ein Schweizer und dann ein englisches Internat, wie auch ihre beiden Brüder.

Mit ihren Eltern hat sie Glück: Ihr Vater beantwortet ihr geduldig all ihre Fragen, von denen sie viele hat. Die Mutter, selbst sehr kreativ, bringt ihr das Zeichnen bei, und als Zaha mit sieben oder acht Jahren zum ersten Mal Kleidung entwirft, lässt ihre Mutter sie tatsächlich nachschneidern. Zahas Freundinnen sind begeistert. Ein Freund der Familie ist jedoch Architekt, und so möchte sie dann mit elf lieber Architektin werden. Sie entwirft ihr eigenes Kinderzimmer neu – und ein Tischler setzt ihre Pläne um.

Studium

Um an der American University of Beirut Mathematik zu studieren, zieht Zaha Hadid von 1968 bis 1971 in den Libanon. Lieber hätte sie wohl gleich Ingenieurwesen studiert, ein Fach, was jedoch noch männlicher konnotiert war.

Doch so langsam beginnt die Zeit, in der Saddam Hussein an die Macht kommt, und die Familie entscheidet sich, nach London zu ziehen. Dort studiert Hadid schließlich von 1972 bis 1977 Architektur an der renommierten Architectural Association School (AA). Zu ihren Lehrern gehören so bekannte Architekten wie Oscar Niemeyer (Brasilien), Rem Kohlhaas (Niederlande), Bernard Tschumi (Schweiz) und Ilias Zengelis (Griechenland). Der Unterricht gilt als frei und modern; die Studierenden entwickeln eigene Projekte, die Professoren dienen ihnen als Mentoren. (Auf eine genderinklusive Formulierung muss hier kaum geachtet werden: Damals waren nur 6 % Frauen in der Architektur tätig, und vermutlich nicht als Professorinnen …)

Zenghelis (links oben), Meyer (rechts), Kohlhaas (links unten)

Erste Schritte ins Berufsleben

Von 1977 bis 1978 arbeitet Zaha Hadid im Office for Metropolitan Architecture (OMA) für Ilias Zengelis und Rem Kohlhaas. Schon 1980 gründet sie jedoch ihr eigenes Büro in London, mit vier Mitarbeitenden, die ihre Chefin als herzlich und witzig erleben. Hadid sagt selbst, ihr sei es nie darum gegangen, Ideen hinzuwerfen und die anderen herausfinden zu lassen, wie sich das bauen lässt. Ein Architekturstudio funktioniert nur mit Teamwork und Diskussionen, auch wenn sie als Chefin natürlich ein Veto hat.

Zaha Hadid Architects fangen früh mit Computeranimationen an. Allerdings bedauert Hadid in Interviews auch, dass das händische Zeichnen und die Kunstfertigkeit oder das Handwerk des Zeichnens so natürlich verloren gehe. Doch es heute wiederzubeleben, sei auch nicht sinnvoll und nichts als Nostalgie.

Aktuelle Website von Zaha Hadid Architects

1980 erhält Hadid die britische Staatsbürgerschaft.

1983 kommt als Praktikant der Deutsche Patrik Schumacher ins Unternehmen, 1988 wird er fester Mitarbeiter, 2002 auch Teilhaber/Partner. Auch wenn die Zusammenarbeit anfangs schwierig ist (Hadid feuert ihn mehrfach), entwickelt sie sich nach und nach zu einer sehr engen beruflichen Beziehung.

Passend zu Hadids Interesse an Theorie, lehrt sie bereits ab 1980 an ihrer Alma mater, der AA. 1987 bis 1994 ist sie Gastdozentin in Chicago, Hamburg und New York. 1994 übernimmt sie den Kenzo-Lange-Lehrstuhl in Harvard, 2000 den Städtebaulehrstuhl der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Was die Praxis angeht, so hat ihr Büro Startschwierigkeiten, man nennt Hadid bereits „Papierarchitektin“. Doch was sie auf Papier bringt, hat es in sich.

Zwischen Suprematismus und Star Wars

In der architektonischen Postmoderne ist, ähnlich wie in der Literatur, keine „große Erzählung“ mehr möglich. Harmonien und Proportionen werden dekonstruiert und neu zusammengesetzt. Das Jüdische Museum von Daniel Libeskind in Berlin ist ein Beispiel dafür, das Guggenheim Museum von Frank O. Gehry in Bilbao ein anderes: Ein Gebäude zeichnet sich nicht mehr durch klassische Fassaden und Rechtwinkligkeit aus, bleibt aber dennoch funktionsfähig.

Dieser Dekonstruktivismus besteht aus mehreren Strömungen, Hadid ist vom Suprematismus und dessen „Gründer“ Kasimir Malewitsch beeinflusst. Schon ihr Dozent und späterer Kollege Ilias Zengelis macht sie während des Studiums auf Malewitsch aufmerksam, und für eine Projektarbeit projiziert sie eine seiner Skulpturen auf die Londoner Hungerford Bridge.

Der Suprematismus ist mit dem Futurismus und Konstruktivismus verwandt und stammt, wie viele andere Kunstrichtungen der Zeit, aus Russland. Geltung hatte er von 1913 bis zu Beginn der 1930er Jahre.

Malewitsch verstand unter Suprematie die „Vorrangstellung der reinen Empfindung vor der gegenständlichen Natur“ – das unterscheidet sich von abstrakter Kunst „insofern, als die Formen dieser Kunstwerke keine Abstraktionen von sichtbaren Gegenständen sind, sondern völlig von Gegenstandsbezügen befreit. Diese Kunstrichtung stellt die Reduktion auf einfachste geometrische Formen in den Dienst der Veranschaulichung ‚höchster‘ menschlicher Erkenntnisprinzipien“ (Quelle).

Das Schwarze Quadrat. Weiß auf Weiß. Für diese einfachsten geometrischen Formen ist Malewitsch auch heute noch bekannt. Hadid erzählt von einer „fast religiösen“ Erfahrung, als sie 1992 in New York eine Ausstellung kuratierte und das Schwarze Quadrat aufhängen durfte.

Das Futuristische, Schwebende, Schwerelose dieser Strömung findet sich in Hadids eigenen Konzepten und Ausstellungsobjekten wieder: Star Wars ist wohl unsere heutige Assoziation, aber natürlich dachte ja auch Russland zur Zeit des Suprematismus an Raumfahrt und die Eroberung des Kosmos.

Von der Papierarchitektin zur einflussreichen Künstlerin

Ob ein Bürohaus am Kurfürstendamm in Berlin oder der Neue Zollhof in Düsseldorf: Hadid nimmt an Wettbewerben teil, gewinnt – und dennoch werden ihre Entwürfe nicht umgesetzt. Besonders schwer trifft sie das 1983 beim mit 100.000 US-Dollar Preisgeld dotierten Projekt „The Peak Leisure Club“ in Hongkong, das sie gegen 600 Konkurrent:innen gewinnt.

Hier eine Zeichnung und ein Rendering ihres Entwurfs:

Doch aufgrund politischer Entwicklungen wurde das Projekt nie gebaut. Ein großer Rückschlag für Zaha Hadid Architects.

Doch im Jahr 1993 wurde endlich ihr erstes wichtiges Projekt gebaut: Ein Feuerwehrhaus für die Firma Vitra, eine Schweizer Firma für Wohn- und Büromöbel in Weil am Rhein. Eigentlich sollte Hadid einen Stuhl entwerfen, doch der Auftraggeber war so begeistert, dass er ein ganzes Gebäude beauftragte. Es wurde eine Weile tatsächlich als Feuerwache genutzt, heute ist es für Veranstaltungen und Ausstellungen vorgesehen.

Sonia Ricon Baldessarini beschreibt es wie folgt:

Das Gebäude bohrt sich wie ein Keil mit seinen dreieckigen Spitzen horizontal in das Gelände und vertikal in die Luft hinein. … Jede Fassadenseite hat ein unterschiedlichen Erscheinungsbild … [es] ergibt sich ein dramatischer Effekt, der sich im Innenraum wiederholt. Schräge Trennwände intensivieren diesen Eindruck. … In den Decken sind Beleuchtungsschächte eingebaut, die längs durch den Raum ziehen und ein Gefühl von Tageslicht erzeugen. … Das Gebäude … wirkt durch seine Schlichtheit schwerelos und beruhigend.

Sonia Ricon Baldessarini: Wie Frauen bauen. Architektinnen von Julia Morgan bis Zaha Hadid, Aviva 2001.

Ablehnungen und Zusagen

Erneut enttäuscht wird sie Mitte der 1990er Jahre, als ihr Entwurf für ein neues Opernhaus im walisischen Cardiff dreimal die Ausschreibung gewinnt, aber dreimal von der Baukommission der Stadt abgelehnt wird. Mal vermutet man, die Statik könne nicht stimmen, mal hat man Angst vor einer Fatwa, weil der Entwurf Ähnlichkeiten mit der Kaaba in Mekka habe … Hadid ist sich sicher, dass es vor allem daran liegt, dass sie in London lebt und arbeitet (auf England ist man in Wales ja nicht immer gut zu sprechen), aber vor allem, dass sie eine Frau und Irakerin ist. Später sagt Hadid, diese Behandlung habe sie beruflich um sieben oder acht Jahre zurückgeworfen.

Aber andere Projekte werden umgesetzt:

  • 1999 der Info-Pavillon des Landes Baden-Württembergs für die Landesgartenschau in Weil am Rhein, genannt LF one oder Landscape Formation one, ein 140 Meter langes Gebäude aus drei Segmenten mit einem begehbaren Dach
  • 2003 das Contemporary Arts Center, ein Museum für zeitgenössische Kunst in Cincinnati, Ohio – das erste Museum in den USA, das von einer Frau gebaut wurde und die Frage beantwortet, wie man die typische, verlassene Innenstadt US-amerikanischer Städte „zurückholen “ und erneut zu einem kulturellen Zentrum machen kann
  • 2003 das BMW-Zentralgebäude in Leipzig, das die Grenzen zwischen öffentlichem Raum und öffentlichem Gebäude relativieren und zwischenmenschliche Interaktionen fördern soll – hier werden die gerade gefertigten Autos auf dem Band durch das Gebäude gefahren

Preise und Auszeichnungen

Im Jahr 2004 gewinnt sie dann den weltweit renommierten Pritzker-Architekturpreis, der auch „Nobelpreis für Architektur“ genannt, jährlich vergeben wird und mit 100.000 US-Dollar dotiert ist. Hadid ist 2004 die erste Frau. In den Jahren 2010, 2017, 2020 und 2021 gewinnen weitere Büros, die teilweise oder ganz von Frauen geleitet werden. Das Alter der Architekt:innen im Jahr der Preisverleihung liegt im Durchschnitt bei 65 Jahren (Hadid ist 54).

Nun wird sie auch endlich in der Fachpresse endlich ausreichend gewürdigt und steht bald in einer Reihe zum Beispiel mit Frank O. Gehry, Norman Foster und Daniel Libeskind. Sie wird zum Star, wie Architekt:innen in dieser Zeit überhaupt Stars sein konnten. Auf der Biennale in Venedig wirft sich ein junger Mann vor sie auf die Knie, reißt sein Hemd auf und fragt nach einem Autogramm auf seiner Brust. Andererseits muss sie sich als berühmte, ehrgeizige Frau natürlich auch manchmal solche Begriffe wie „Diva“ und „böse Hexe“ anhören.

Zaha Hadid Architects wächst und ist bald doppelt so groß. Weitere Projekte folgen:

  • 2005 das Wolfsburger Science Center / phaeno Wolfsburg als interaktives Museum für Wissenschaft und Technik, das die Tradition der expressionistischen Wolfsburger Kulturbauten weiterführt: es gibt geschwungene Rampen und Trichter, ein „schwebendes“ Obergeschoss, das die Abgrenzung zwischen Innen- und Außenraum aufhebt – als neuen nachhaltigen Baustoff nutzt Hadid hier selbstverdichtenden Beton
  • 2005 die Stationen für die Hungerburgbahn in Innsbruck
  • 2009 das mit dem Sterling Prize ausgezeichnete MAXXI (Museo nazionale delle arti del XXI secolo) in Rom, das die traditionelle Wand infrage stellt und eine „emanzipierte“ Wand dagegenstellt, als wandelbares Element. das mal zum Fußboden wird oder selbst aufgehängt wird, passend zur zeitgenössischen Kunst, die auch nicht mehr nur das macht, was man von Kunst gewöhnt ist – Hadid vergleicht das Gebäude mit einem Tanzstück von Martha Graham
  • 2011 das London Aquatics Center, das öffentliche Schwimmbad für die 2012 Olympics

Form oder Funktion

Sieht man sich die Entwürfe und Gebäude von Zaha Hadid an, kann es nicht überraschen, dass sie hin und wieder kritisiert wird, sie mache sich zu wenig Gedanken um Funktion und Raumoptimierung. Ihre Entgegnung: Früher sei es die Pflicht der Architekt:innen gewesen, die Idee dem Massengeschmack anzupassen und somit oft das geistige Niveau ihrer Entwürfe herunterzuschrauben. Architektur sei eine Dienstleistung gewesen. Doch das sei ihr nicht genug. Sie sei eben auch Künstlerin.

Auf die Frage, ob sie sich dem Kontext des Ortes anpassen würde, an dem ihre Gebäude entstehen, erklärt sie in einem Interview, dass sie den Kontext (also zum Beispiel die umstehenden Häuser oder die Struktur des Stadtviertels) berücksichtigt, ihn aber nicht unbedingt nachahmt.

Im Jahr 2010 sagt sie:

Es ist eine interessante Zeit, weil noch vor dreißig Jahren ein starkes Misstrauen gegenüber Architektur und Architekten herrschte. Das hat sich nicht unbedingt sehr geändert, aber ich finde, heute herrscht größerer Optimismus. Es gibt diesen unglaublichen Wohlstand und Aufschwung. Länder wie die Niederlande haben immer schon Projekte gebaut; jetzt sind es Asien und der Mittlere Osten. Aber niemand hat alle Themen in einem Projekt für ein Land zusammengefasst. Niemand hat einen Masterplan für eine Stadt entwickelt, der alle Ideen vereinigt, wie die ideale amerikanische Stadt oder Berlin oder was auch immer aussehen soll. Es gibt keinen idealen Ort. Sie haben noch keinen Nutzen aus der Chance gezogen, zum Beispiel Beirut neu aufzubauen. Ich denke, darum überwiegen in einem bestimmte Kontext auch immer noch die Ideen von Überlagerung und Nebeneinander, weil wir nicht davon sprechen, die ganze Gegend abzureißen. Man muss sich mit Konzepten der Schichtung auseinandersetzen, um in Beziehung zu bestehenden Gebäuden zu treten. Und ich finde, es sollten mehr Untersuchungen zur angemessenen Bebauung durchgeführt werden. Wie leben wir? Wie ist unser Arbeitsumfeld?

Galerie Gmurzynska (Hrsg.): Zaha Hadid und Suprematismus. Hatje Cantz 2012.

Innenarchitektur und Design

Hadid ist multidisziplinär auch im Bereich Design tätig und entwirft Möbel, Gebrauchsgegenstände und Innenräume. An solchen Projekten gefällt ihr, wie schnell man, im Gegensatz zur Architektur, Ergebnisse sieht. Aber es fehlt ihr meist schlicht die Zeit.

Ihre grafischen Darstellungen und Planzeichnungen werden zum Beispiel im Guggenheim Museum in New York, im Museum of Modern Art in New York und in der GA Gallery in Tokio ausgestellt. Eine Dauerausstellung gibt es heute im Deutschen Architektur Museum in Frankfurt am Main zu sehen.

Sie trägt gern ausgefallene Kleider, Pelze und Schmuck – Mode, die selbst an Architektur erinnert. Zusammen mit ihrer beeindruckenden Präsenz und ihrer tiefen Stimme zieht sie stets die Aufmerksamkeit auf sich.

Weitere Erfolge

Im Jahr 2009 gewinnt sie den renommierten internationalen Kunstpreis Praemium Imperiale der Japan Art Association in Höhe von 95.000 Euro.

Im Jahr 2011 gibt es zeitweilig eine Filiale ihres Büros in Hamburg. Ihr Londoner Büro hat 2012 ca. 250 Mitarbeiter:innen, 2015 schon 400, die an über 950 Projekten in 44 Ländern arbeiten.

Sie gewinnt einen zweiten Sterling Prize.

Im Jahr 2012 wird sie zur Dame Commander of the Order of the British Empire ernannt, eine Auszeichnung, die ihr als Frau mit arabischem Hintergrund sehr wichtig ist. Ihr Berufsleben sei ein langer Kampf gewesen, weil sie nie Zugang zu diesen Männerwelten in der Architekturbranche gehabt habe, in denen man gemeinsam Golf spielen oder etwas trinken gehe. Es habe gedauert, bis sie erkannt habe, dass sie das auch gar nicht wollte. Und gerade dieser Kampf habe sie nur stärker und präziser gemacht.

Probleme mit Projekten außerhalb Europas

Hadid baut auch in Baku, in Shanghai oder Guangzhou. Im Zusammenhang mit dem Al Janoub Stadium in Katar wird kritisiert, dass Migrantenarbeiter gestorben seien und Anwohner:innen vertrieben worden seien, um Platz für das Gebäude zu schaffen. Hadid gibt zu, dass es in „diesen Ländern“ immer wieder zu solchen Problemen käme, sie aber so gut wie möglich aufpasse, dass es bei ihren Projekten nicht passiere und die Bedingungen für die Arbeiter stimmten.

Tod und Erbe

Im Jahr 2016 wird ihr letztes Projekt fertiggestellt, das Port House oder Havenhuis in Antwerpen, das als Regierungsgebäude dient und interessanterweise eine ehemalige Feuerwache ist – so war ihr erstes wichtiges Projekt eine Feuerwache, und ihr letztes fertiggestelltes ebenfalls.

Als sie für ein Projekt in Miami ist, muss sie sich wegen einer Bronchitis ins Krankenhaus begeben und stirbt dort im März im Alter von 65 Jahren an einem Herzinfarkt.

Ihren großen Traum, ein neues Parlamentsgebäude in Irak bauen zu können, kann sie sich leider nicht mehr erfüllen.

Sie liegt zwischen ihrem Vater Muhammad und ihrem Bruder Foulath auf dem Brookwood Cemetery bei London begraben. Ihr Grab ist von einer rechtwinkligen Steinplatte bedeckt. Sie hinterließ einen Bruder und ihre Nichte Rana Hadid, die ebenfalls Architektin ist.

Um ihren Nachlass in Höhe von 215 Millionen US-Dollar gab es einen vier Jahre währenden Gerichtsstreit, doch 2020 wurde der Großteil des Geldes an die Zaha Hadid Foundation übergeben, die arabische bzw. arabischstämmige Architekturstudentinnen unterstützt.

Ihr Büro, Zaha Hadid Architects, gibt es immer noch. Es legt seinen Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit in der Baubranche, zum Beispiel was die eingesetzten Materialien und die Energieversorgung der Gebäude angeht.

Ihre Nichte Rana Hadid sagt:

Zaha hat uns beigebracht, dass es besser ist, Brücken zwischen Menschen zu bauen statt Mauern.

***

Quellen:
Sonia Ricon Baldessarini: Wie Frauen bauen. Architektinnen von Julia Morgan bis Zaha Hadid, Aviva 2001.
Galerie Gmurzynska (Hrsg.): Zaha Hadid und Suprematismus. Hatje Cantz 2012.
„Dead Ladies Show“, Folge 48: „Zaha Hadid“
„Who, When, Wow!“, Folge „Zaha Hadid: Architect“
„Moonshots“, Folge 50: „Zaha Hadid, Architect“
„She Builds“, Folge 18: „Zaha Hadid“
Wikipedia: Zaha Hadid
OxfordUnion: Dame Zaha Hadid Full Q&A Oxford Union

***

Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

Frauenleben-Podcast 

Instagram: https://www.instagram.com/frauenleben.podcast/

Liebe Susanne, Chemie war in der Schule wirklich nicht mein Lieblingsfach. Das habe ich schon im Nachwort meines Romans Die Entdeckerin des Lebens gestanden. Aber seit ich über Rosalind Franklin geschrieben habe, werde ich doch…

All unsere inspirierende Frauen und ihre Zeit – wer hat eigentlich dafür gesorgt, dass Ada Lovelace sich stundenlang mit Babbages Erfindung beschäftigen konnte? Wer hat Friederike Ronnefeldt ihren Morgentee aufgebrüht? Das waren vermutlich ihre Dienstmädchen. Junge Frauen, die oft aus ärmeren Verhältnissen kamen und in den Haushalt der bürgerlichen Frauen eingegliedert wurden.

Die österreichische Autorin Maria Wachter hat sich im Rahmen ihres Romans Café Buchwald mit diesen Mädchen und Frauen beschäftigt, insbesondere solchen, die um das Jahr 1900 in Großstädten wie Wien und Berlin tätig waren. In dieser Folge erzählt sie uns von ihrer Recherche und den anstrengenden Aufgaben und langen Arbeitszeiten des damaligen Dienstpersonals.

Fotograf: Patrick Schörg

Wir machen außerdem kurze Abstecher nach Korea und Schlesien und sprechen über die großartige Erfindung der modernen Waschmaschine.

***

Maria Wachter ist in Wien aufgewachsen. Nach vielen Jahren in Südkorea, den USA und Deutschland, wo sie in den Bereichen Werbung und Pressebetreuung arbeitete, kehrte sie in ihre Heimatstadt zurück, wo sie jetzt mit ihrer Familie lebt und historische Romane schreibt.

Website: https://www.maria-wachter.at
Instagram: mariawachter.stories

***

Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

Frauenleben-Podcast 

Instagram: https://www.instagram.com/frauenleben.podcast/

„Es drehte sich alles um Kunst und Liebe“, so Peggy Guggenheim (1898–1979) über ihr Leben. Von der schillernden Kunstsammlerin erzählt uns die Autorin Sophie Villard.

Sophie Villard mit ihrem Roman "Peggy Guggenheim"

Sie liebte die Kunst, und sie liebte die Künstler: Peggy Guggenheim rettete im Zweiten Weltkrieg hunderte Werke von Kandinsky, Miró, Dalí, Picasso, Klee, Chagall, Brancusi, Arp … Aber sie rettete auch zahlreiche Menschenleben. Wie sie das gemacht hat und warum sie bis heute unterschätzt wird, erzählt uns die Autorin Sophie Villard. Sie nimmt uns mit in das aufregende Jetset-Leben der Mäzenin zwischen Paris, London, New York bis in ihr Refugium, den Palazzo Venier dei Leoni am Canale Grande in Venedig, wo heute ihre Sammlung zu sehen ist.

***

Die Autorin Sophie Villard schreibt historische Romane beim Penguin Verlag. Ihre Romanbiografie über Peggy Guggenheim stand auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Neben Peggy Guggenheim und der Traum vom Glück sind bisher erschienen: Madame Exupéry und die Sterne des Himmels über Consuelo de Saint-Exupéry, die „Rose“ des Kleinen Prinzen und Ehefrau des Autors Antoine de Saint-Exupéry. Und Mademoiselle Eiffel und der Turm der Liebe über Claire Eiffel, Tochter von Gustave Eiffel und dessen Privatsekretärin beim stark umstrittenen Bau des berühmten Turms. Derzeit arbeitet Sophie Villard an einem Zweiteiler über eine berühmte Pariser Familie, dessen erster Band im Herbst 2024 erscheint.

Sophie Villard im Caféhaus
Foto: www.andreaartz.com

Die Peggy Guggenheim Collection in Venedig ist unbedingt einen Besuch wert!

Und Sophies Website auch 😉

***

Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

Frauenleben-Podcast 

Instagram: https://www.instagram.com/frauenleben.podcast/


Astrid Töpfner ist die erste von fünf Autorinnen, die wir euch in einer Reihe von Spezialfolgen vorstellen möchten. Sie schreibt historische und zeitgeschichtliche Romane, und wir fragen sie über ihre Spanien-Trilogie Wir sind für die Ewigkeit aus.

Astrid Töpfner ist in der Schweiz aufgewachsen, lebt aber seit vielen Jahren an der Costa Brava und hörte eines Tages davon, dass im Jahr 1939 viele Katalan:innen vor den Kämpfen des Spanischen Bürgerkriegs aus Barcelona fliehen mussten – und knapp hinter der französischen Grenze in Internierungslagern landeten. Das nahm sie als Ausgangspunkt für ihre Trilogie um drei Frauen aus einer Familie, die so einige Schicksalsschläge zu bewältigen haben.

Wir erfahren in dieser Podcastfolge interessante Hintergründe zur Geschichte Kataloniens, zum Spanischen Bürgerkrieg und zur Franco-Diktatur. Außerdem erzählt sie uns, wie sie ihre Ideen findet und Geschichten über solch emotional schwierige Themen schreibt. Und sie verrät uns bereits etwas über ihren neuen Roman, der im Oktober 2023 erscheint!

Astrids Website: https://astrid-topfner.com/
Astrids Newsletter: https://astrid-topfner.com/newsletter/
Astrids Instagram: https://www.instagram.com/astrid_topfner
Astrids Facebook: https://www.facebook.com/Astrid.Topfner/

Und hier findet ihr Astrids Bücher: https://www.amazon.de/stores/author/B07CTK6HQJ/allbooks

***

Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

Frauenleben-Podcast 

Instagram: https://www.instagram.com/frauenleben.podcast/