Mathilde Franziska Anneke war eine bedeutende Revolutionärin und Sozialunternehmerin des 19. Jahrhunderts. In Deutschland stritt sie für Demokratie und Frauenrechte, gründete eine Frauenzeitung und wurde später in den USA zu einer bekannten und beliebten Rednerin, die die amerikanische Frauenrechtsbewegung inspirierte und beeinflusste. Ihre Schule für Mädchen verfolgte das Ziel, Mädchen und junge Frauen jenseits von Kinder, Küche und Kirche zur Selbstständigkeit zu erziehen.   

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Kindheit und Jugend

Mathilde ist das älteste von zwölf Geschwistern und wächst wohl behütet auf. Ihr Vater Karl Giesler ist wohlhabend und angesehen, ein Bergwerksbesitzer und Ratsherr, und ihr Pate ist der berühmte preußische Reformer Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, den die Familie häufig besucht. Mathilde erfährt die typische Mädchenbildung der damaligen Zeit, zeichnet, malt, spielt Klavier, lernt aber auch die Grundzüge der Naturwissenschaften. 1835 verliert ihr Vater durch eine Fehlspekulation in eine pferdebetriebene Eisenbahn sein Vermögen, woraufhin Mathilde einen wohlhabenden Weinhändler heiratet, Alfred von Tabouillot, der hilft, die Finanzen des Vaters zu sanieren.

Mathilde Franziska Anneke im Alter von etwa 23 Jahren (Der Märker, Heimatblatt, Mai 1860)

Unglückliche Ehe und Scheidung

Auf eine glückliche Kindheit folgt eine sehr unglückliche Ehe. Der Ehemann entpuppt sich als gewalttätiger Trinker. Ein Jahr nach der Hochzeit und kurz nach Geburt ihrer Tochter Johanna, genannt Fanny, verlässt sie ihren Mann im Jahr 1837 und reicht ein Scheidungsgesuch ein, wodurch sie ihr Ansehen und ihre soziale Stellung verliert. Der jahrelange Scheidungsprozess führt ihr deutlich vor Augen, wie ungerecht die Gesetzgebung Frauen gegenüber ist, so muss sie sich mühsam eine geringe Unterhaltssumme erkämpfen. 1843 wird sie schuldig geschieden, darf aber die Tochter behalten. Sie nennt sich fortan: „Verheiratet gewesene von Tabouillot, geborene Giesler“.

Berufstätigkeit als Autorin

Als alleinstehende Frau ernährt Mathilde Franziska sich und ihre Tochter mit Schreiben. Sie publiziert beispielsweise in Frauenalmanachen oder in Zeitschriften wie der Gartenlaube, schreibt aber auch für die Kölnische Zeitung, die Augsburger Allgemeine, die Düsseldorfer Zeitung und die Mannheimer Abendzeitung. Außerdem schreibt sie Novellen und übersetzt englische Texte ins Deutsche. Ihre frühen Texte sind typisch Biedermeier. Zur Religion hat sie ein ambivalentes Verhältnis, der Glaube an Gott spendet ihr Trost, sie ist aber auch der Meinung, dass der katholische Glaube Frauen zu sehr zur Unterordnung zwingt. 

1846 schreibt sie ein Werk, dass erstmals ihren leidenschaftlichen Einsatz für Frauenrechte zum Ausdruck bringt, „Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen“. Es handelt sich um eine Verteidigungsrede für ihre Mitstreiterin Louise Aston, die genau wie sie selbst gezwungen war, einen reichen Mann zu heiraten und nach der Scheidung ihren Ruf verlor. Vor allem aber ist es eine Abrechnung mit Staat, Kirche und Gesellschaft. Mathilde Franziska Anneke bringt zum Ausdruck, dass es der kirchliche Dogmatismus ist, der das männliche Machtmonopol verewigt und polemisiert gegen die Unterdrückungsmechanismen der christlichen Religion in Verbindung mit den staatlichen Gesetzen. Die Publikation, 1847 in einer kleinen Auflage erschienen, macht sie national bekannt. 

Die Neue Kölnische Zeitung und die Frauen-Zeitung

1837 war sie mit ihrer Tochter nach Wesel gezogen und 1839 nach Münster. Sie diskutiert mit im Demokratischen Verein und lernt dort neben Karl Marx oder Ferdinand Freiligrath auch ihren zweiten Ehemann kennen, Captain Friedrich Anneke, einen ehemaligen preußischen Offizier, der wegen seiner sozialistischen Gesinnung aus dem Dienst entlassen worden war. 

Das Ehepaar heiratet 1847. Sie siedeln nach Köln über und gründen dort einen Club, aus dem später der Kölner Arbeiterverein hervorgeht, die bis dahin größte deutsche Arbeiterorganisation. Die Annekes wollten nun selbst eine Zeitung herausgeben, die Neue Kölnische Zeitung unter dem Motto „Wohlstand, Bildung und Freiheit für alle“.  

Im Juli 1848 gibt Fritz Anneke eine Rede vor tausenden Zuhörern und wird ins Gefängnis geworfen, sodass die Redaktion jetzt allein in Mathildes Händen ruht. Obwohl sie im selben Monat, in dem Fritz ins Gefängnis kommt, ihren Sohn Fritz zur Welt bringt, schafft Mathilde es, die erste Ausgabe auf einer eigens angeschafften Druckerpresse fertigzustellen und herauszubringen. Die Behörden schreiten sofort ein, die Zeitung wird verboten und Mathilde gründet daraufhin die Frauen-Zeitung, die erste deutsche Zeitung mit politischen und gesellschaftlichen Nachrichten speziell für Frauen. Es geht darin beispielsweise um Themen wie Erziehung oder den Einfluss von Schulen. Nach zwei Ausgaben muss sie auch diese Zeitung wieder einstellen. 

Mathilde Franziska Anneke im badisch-pfälzischen Krieg

Im Dezember 1848 wird ihr Mann aus der Haft entlassen. Als es im Frühjahr in der Pfalz zur letzten revolutionären Erhebung kommt, schließen sich die Annekes der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee an, das heißt Fritz als Offizier und Mathilde, die eine sehr gute Reiterin ist, assistiert ihrem Mann als eine Art Ordonnanzoffizierin. In der Armee befinden sich Bildungsbürger wie die Annekes aber auch Arbeiter. Carl Schurz, der später in den USA Innenminister wurde, ist Annekes Adjudant. 

Im Juli 1849 wird der Aufstand endgültig niedergeschlagen, die Annekes fliehen zunächst mit den beiden Kindern nach Frankreich, dann in die Schweiz und von dort in die USA nach Milwaukee, wo Fritz Anneke sich als Autor und Publizist durchzuschlagen versucht. 

Die ersten Jahre im Exil in den USA

Mathilde Franziska Anneke wiederum besinnt sich ebenfalls auf etwas, das sie gut kann, nämlich Reden und Vorträge halten. Sie spricht auf Deutsch und auf Englisch über Themen wie Revolution in Deutschland, Frauenrechte aber auch Literatur und übersetzt die Schriften der amerikanischen Frauenrechtlerinnen Susan B. Anthony und Elizabeth Cady Stenton ins Deutsche. 70 Prozent der Bevölkerung in Milwaukee spricht deutsch, die Stadt gilt als das kulturelle Zentrum alles Deutschen. Es gibt deutsche Vereine, Chöre, Theater, Kirchen, Brauereien, Bäckereien und eben auch Zeitungen und Vorträge. Im August 1850 wird ihr drittes Kind geboren, Percy Shelley, benannt nach dem Ehemann von Mary Shelly, Autorin des berühmten Romans Frankenstein.

Deutsche Frauen-Zeitung in den USA

1852 gründet sie die feministische Zeitung „Deutsche Frauen-Zeitung“, wobei ihr ein befreundeter Verleger hilft, denn sie hat kein Geld für Investitionen. Sie darf erste Ausgabe und die nächsten in den Räumlichkeiten der führenden Zeitung von Wisconsin, dem Wisconsin Banner, drucken, wo Frauen Seite an Seite mit Männern arbeiten. Auch die älteste Tochter Fanny, mittlerweile verheiratete Fanny Stoerger, ist mit dabei. In der Zeitung wird die Gleichstellung von Frauen gefordert, es geht beispielsweise um gleiche Berufschancen oder Bildung von Männern und Frauen. 

Deutsche Frauen-Zeitung. Central-Organ der Vereine zur Verbesserung der Lage der Frauen. Redigiert von Mathilde Franziska Anneke, geb. Gießler. New York, 18. Oktober 1852

Doch den Druckern sind die in der Zeitung geäußerten Meinungen und Forderungen der Frauen zu progressiv. Sie fürchten um ihre Arbeitsplätze und reichen eine Petition ein, die zum Ziel hat, das Beschäftigen von Frauen zu verbieten. Die Petition hat Erfolg. Mathilde will daraufhin eine eigene Druckerei gründen und versucht das Geld dafür mit Vortragsreisen zu verdienen. Sie besucht Städte mit einer großen deutschen Bevölkerung, wie Detroit, Cleveland, Buffalo, New York, Philadelphia oder Pittsburgh. Ihre Vorträge werden häufig von Vereinen gesponsort, etwa Arbeitervereinen, Turnervereinen oder von Freien Gemeinden. 

Übersiedelung nach Newark, New York

Die Annekes verlegen nun ihren Wohnsitz nach New York. Dort gibt Mathilde Franziska Anneke die Zeitung ab Oktober 1852 heraus. Sie erscheint zweimal im Monat und hat etwa 2000 Abonnentinnen und Abonnenten unter anderem in Texas und Brasilien. Ihr Mann Fritz gründet in die Newarker Zeitung, die sich ebenfalls gut verkauft. Von 1852 bis 1858 kann die Familie sich finanzieren, obwohl Mathilde ihre Publikation schon 1855 wieder aufgeben muss. Gründe dafür sind gesundheitliche Probleme, außerdem muss sie sich um die wachsende Familie kümmern. Sie bekommt Zwillinge, Rosa und Irla, die beide sterben, und dann noch einmal Zwillinge, Hertha und Irla. 

Sie hält auch nach der Gründung der Zeitung weiter Vorträge, beispielsweise im September 1853 anlässlich der Suffrage Convention. Suffragetten sind typischerweise weiße Mittelklasse-Frauen, viele sind Abolitionistinnen und Sozialreformerinnen. Während draußen auf der Straße Menschen gegen die Versammlung protestieren, hält Mathilde Franziska Anneke drinnen die letzte Rede der Versammlung. Sie spricht auf Deutsch, wird aber simultan auf Englisch übersetzt. Sie spricht über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Frauen in der alten und der neuen Welt und über das universelle Bedürfnis nach Frauenrechten. 

1858 ereilt die Annekes ein Schicksalsschlag, von dem sich die Ehe nie mehr richtig erholt. Die Kinder Irla und Fritz sterben an den Pocken, obwohl es bereits Impfungen gibt – die freilich riskant sind. Jedenfalls hat Fritz sich dagegen ausgesprochen, die Kinder impfen zu lassen. Sie ziehen zurück nach Milwaukee, wo Mathildes Mutter lebt, zu der sie ein enges Verhältnis hat. Fritz hingegen geht zurück nach Europa. Von da an leben die Annekes nicht mehr zusammen, wenn sie einander auch verbunden bleiben und sich nicht scheiden lassen.  

Mathilde Franziska Anneke in der Schweiz

Die wichtigste Person in Mathildes Leben für die nächsten Jahre wird nun ihre gute Freundin aus Milwaukee Mary H. C. Booth, eine aktive Abolitionistin. 1860 gehen Mathilde und Mary gemeinsam mit ihren Kindern in die Schweiz. Fritz Anneke hält sich ebenfalls dort auf. Zuvor versuchen sie erfolglos, Marys Mann, ebenfalls ein bekannter Abolitionist, aus dem Gefängnis zu befreien, wo er wegen der Vergewaltigung einer Vierzehnjährigen einsitzt. 

Mathilde Franziska Anneke mit Mary Booth
M. F. Anneke (stehend) mit ihrer Freundin Mary Booth

Fritz kehrt in die USA zurück, um im amerikanischen Bürgerkrieg journalistisch tätig zu werden. Mathilde bleibt in der Schweiz und für sie sind diese Jahre sehr fruchtbar. Sie schreibt mehrere Novellen und den Roman „Das Geisterhaus in New York“, publiziert in Zeitschriften wie der Didaskalia. Mathildes Themen sind weiterhin die Rechte der Frauen und mehr und mehr geht es ihr auch um die Befreiung der Sklaven. Die rechtliche Situation von Sklaven und Frauen weist Parallelen auf, weshalb viele Abolitionistinnen auch gleichzeitig Frauenrechtlerinnen sind. Doch Marys Gesundheitszustand verschlechtert sich und die Frauen gehen zurück in die USA, wo die Freundin 1865 stirbt. Mathilde Franziska Anneke kehrt nach Milwaukee zurück. 

Gründung des Milwaukee Töchter Instituts

1865 gründet sie zusammen mit einer anderen Freundin, Caecilie Kapp, in Milwaukee eine Schule, das Milwaukee Töchter Institut, das sehr schnell einen sehr guten Ruf hat. Öffentliche amerikanische Schulen gelten als eher überfüllt, u0nd0 es geht vor allem ums Auswendiglernen. Private Schulen sind wiederum wenig liberal und meistens kirchlich.

Mathilde Annekes Ideal sieht so aus: Eine liberale säkulare Schule, in der bilingual auf Deutsch und Englisch unterrichtet wird und in der die Mädchen zur Selbständigkeit erzogen werden. Die Erziehung ist, so heißt es, ist streng aber liebevoll. Das Schulgeld beträgt 350 Dollar im Jahr. Es gibt 50 Schülerinnen im Alter von 5 bis 17 Jahren. Nach einigen Jahren werden in den untersten Klassen auch Jungs zugelassen und 1865 wird sogar ein Physiklehrer eingestellt. Musik, Zeichnen und Französisch kosten interessanterweise extra und es gibt weder Haushaltsunterricht noch Religion. Auch gibt es keine Reihenbeschulung in den Klassen, sondern man sitzt an großen Tischen im Kreis. Häufig gibt es Exkursionen und man legt Wert auf die praktische Anwendung des Gelernten. 

Second building used by Mathilde Franziska Anneke’s Töchter Institut. Website: Immigrant Entrepreneurship, Courtesy of the Milwaukee County Historical Society, published by German Historical Institute

Eine moderne Mädchenschule

Obwohl die Schule eine gute Reputation genießt, ist es finanziell immer knapp. Man kann davon ausgehen, dass Mathilde Anneke zwar über viel Idealismus, jedoch nicht unbedingt über ein großes finanzielles Geschick verfügt. 1868 wird ein Unterstützungsverein gegründet, Aufführungen wie Musicals oder Theaterstücke bringen zusätzlich etwas Geld in die Kasse. 

1872 stirbt Fritz Anneke, der weiterhin als Journalist tätig gewesen war, nach einem Sturz in Chicago. 1878 hat Mathilde Anneke einen weiteren großen Verlust zu beklagen, als ihre Tochter Fanny stirbt. Mathilde Anneke schreibt weiter für verschiedene Zeitungen und ist nach wie vor eine gefragte Rednerin. Sie verstirbt nach längerer Krankheit im November 1884 und wird unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beerdigt. Ihr Tod wird in mehreren Zeitungen gewürdigt.

Nachruf

In den USA gilt Mathilde Anneke noch in den 1930er Jahren als eine der einflussreichsten Frauen der vereinigten Staaten. Nach dem 2. Weltkrieg gerät sie in Vergessenheit und wird Jahrzehnte später wiederentdeckt. 1988 gibt es in Deutschland eine Briefmarke mit ihrem Konterfei in der Reihe „Frauen der deutschen Geschichte“. An der Ostseite des Kölner Doms gibt es eine Statue von ihr. 

Briefmarke mit dem Porträt von Mathilde Franziska Anneke mit Mary Booth

Der Mathilde Anneke-Preis der Städte Hattingen und Sprockhövel wird alle zwei Jahre verliehen und würdigt außergewöhnliche Leistungen von Einzelpersonen oder Vereinen, die sich in besonderem Maße für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzen und eine besondere Würdigung verdient haben.

Quellen:

Stephani Richard-Wilson: Mathilde Franziska Anneke (1817-1884) Social Entrepreneur and Sufragette in Immigrant Entrepreneurship: The German American Experience since 1700, Seite 141 – 165

Maria Wagner, Mathilde Franziska Anneke in Selbstzeugnissen und Dokumenten. Fischer Taschenbuch Verlag 1980

Links

https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/mathilde-franziska-anneke

https://www.hattingen.de/stadt_hattingen/Rathaus/Verwaltung/News/Nachrichten%202024/April%202024/Mathilde%20Anneke-Preis%20wird%20zum%207.%20Mal%20ausgeschrieben

Hier noch weitere Frauenleben-Podcast-Folgen über zwei weitere Frauenrechtlerinnen aus dem 19. und aus dem 20. Jahrhundert: Helene Stöcker und Iris von Roten

Und ergänzend zu dieser Folge das erwähnte Zeitzeichen des WDR:

https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/zeitzeichen/anneke102.html

Artwork und Musik: Uwe Sittig 

Frauenleben-Hosts: Susanne Popp und Petra Hucke 

Frauenleben-Podcast 

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