Der Contergan-Skandal in den 1950er und 1960er Jahren: Ein angeblich harmloses, rezeptfrei erhältliches Schlafmittel führt bei Neugeborene zu Fehlbildungen an Armen und Beinen, und die Herstellerfirma braucht viel zu lang, um den Stoff vom Markt zu nehmen.
Der gefährliche Wirkstoff nennt sich Thalidomid, wurde in Deutschland als Contergan, in Großbritannien als Distaval vertrieben, und in den USA als … nanu, in den USA war er nicht zugelassen?
Darf ich vorstellen: Frances Oldham Kelsey, Mitarbeiterin der Food and Drug Administration (der US-amerikanischen Behörde für Lebens- und Arzneimittelüberwachung).
Geboren 1914 im kanadischen British Columbia, später auch US-Bürgerin. Pharmakologin. Promoviert hat sie an der University of Chicago (auf ihre Bewerbung kam ein Schreiben an „Dear Mr. Oldham“ zurück – der Professor dachte wohl, Frances sein ein Männername), und schon dort entwickelte sie Interesse für Medikamente, die zu sogenannten Geburtsfehlern führen.
Sie arbeitete als Dozentin, bis sie 1960 von der FDA angestellt und dort mit der Prüfung eines Antrags zur Zulassung eines Beruhigungs- und Schmerzmittels beauftragt wurde, das laut Antragsteller Richardson-Merrell gleichzeitig helfen sollte, Morgenübelkeit bei Schwangerschaften zu bekämpfen. Thalidomid.
Im Podcast This Podcast Will Kill You berichten die zwei Erins (Erin Walsh und Erin Allmann Updyke), wie der Antragsteller immer wieder versuchte, die Genehmigung durchzudrücken. Irgendwie waren sie sogar an Kelseys Namen und ihre Telefonnummer gekommen, doch wenn es darum ging, konkrete Fragen zu beantworten, konnten sie – und dahinter die deutsche Ursprungsfirma Grünenthal – keine zufriedenstellenden Antworten liefern: Wie wurden die Nebenwirkungen getestet? Gibt es einen Zusammenhang zwischen gehäuft beobachteten Nervenschäden bei Erwachsenen und Fehlbildungen bei Neugeborenen?
In Trump’scher Manier schien gelogen und geklüngelt zu werden. In England hätten sich bei Ratten Nebenwirkungen gezeigt? Nun, die englischen Ratten waren vermutlich anders als die deutschen Ratten, bei denen war nämlich alles in Ordnung. Wahrscheinlich hätten die werdenden Mütter einfach zu viel ferngesehen – die TV-Strahlen seien schließlich schädlich. Es könne an radioaktiver Strahlung liegen (wir befinden uns in der Zeit von Kernwaffentests, die Angst war groß), vielleicht auch daran, dass die Schwangeren versucht hätten, den Embryo selbst abzutreiben, und dabei sei er verletzt worden. Marilyn Monroe wäre übrigens vielleicht auch noch am Leben gewesen, hätte sie nur Thalidomid gegen ihre Depressionen gehabt. Außerdem sei der deutsche Whistleblower, ein Arzt namens Widukind Lenz, bekanntermaßen Sohn eines ehemaligen Nazis. Sagte das Unternehmen, das nach dem Zweiten Weltkrieg drei Ärzte eingestellt hatte, die vermutlich in Konzentrationslagern medizinische Versuche an Menschen durchgeführt haben.
Ich schweife ab. Luft holen. Durchatmen.
Was Frances Oldham Kelsey anging, so blieb sie hart. Nachdem sie noch einen belastenden Artikel im British Medical Journal gelesen hatte, forderte sie weitere Tests und Studien an. Es stellte sich heraus, dass Thalidomid durch die Plazentabarriere gelangte und so das ungeborene Kind in ganz bestimmten Entwicklungsphasen schädigte, während der Schwangeren nichts geschah. Die Washington Post feierte Kelsey als Heldin, und sie erhielt den President’s Distinguished Federal Civilian Service Award von Präsident Kennedy, die höchste Auszeichnung für zivile Regierungsangestellte (als zweite Frau überhaupt). Sie bestand jedoch darauf, dass ihre zwei Assistenten, Oyam Jiro und Lee Geismar, mindestens genauso viel Lob verdient hätten, denn solche Prüfungen wurden schließlich immer von drei Fachleuten aus den Bereichen Chemie, Pharmakologie und Medizin betreut.
In direkter Folge wurde das Medikament 1961 endlich, endlich vom Markt genommen (nach fast vier Jahren und in manchen Ländern erst Monate nach Bekanntgabe der Gefahren). In den USA wurden die Gesetze zur Genehmigung neuer Medikamente drastisch verschärft. Zuvor lautete eine Regel zum Beispiel, dass die FDA sechzig Tage Zeit für eine Prüfung hatte – wenn die verstrich, konnte das Medikament einfach so vermarktet werden. Jetzt wurden klinische Studien reguliert, wo vorher Erfahrungsberichte reichten.
Frances Kelsey blieb bei der FDA und ging erst 2005 mit 90 Jahren (!) in Rente. Seit 2010 gibt es den FDA-internen Dr. Frances O. Kelsey Drug Safety Excellence Award für Medikamentensicherheit, der jährlich an eine*n Mitarbeiter*in verliehen wird.
Frances Kelsey verbrachte ihren Lebensabend bei ihrer Tochter in Ontario und starb 2015 mit 101 Jahren.