Bei meinen Recherchen zu Therese von Bayern wurde ein Brief erwähnt: Die begeisterte Naturforscherin und Prinzessin hatte Gäste eingeladen und schrieb an ihren geliebten Vater, darunter sei auch Frl. Professor Mestorf, ein altes Frauchen u. (weiblicher) Direktor des Kieler prähistorischen Museums.
Was für eine seltsame Beschreibung. Ein altes Frauchen ist Museumsdirektorin?
Und ja, tatsächlich, das war sie, genauso wie die erste Professorin Preußens und Archäologin, die sich ihr gesamtes Fachwissen autodidaktisch erworben hat, denn studieren durfte sie im 19. Jahrhundert natürlich noch nicht.

Kindheit und Ausbildung
Das Fräulein Professor Dr. med. h.c. Johanna Mestorf wird am 17. April 1828 in Bad Bramstedt geboren. Ihr Vater ist der Wundarzt und Chirurg Dr. med. Jacob Heinrich Mestorf (1796–1837), der in seiner Freizeit eifriger Privatsammler und Altertumsforscher ist. Dort muss Johannas Interesse ihren Anfang genommen haben. Ihre Mutter ist Sophia Katrina Georgina Mestorf geb. Körner (1794–?), die neun Kinder gebiert, von denen drei bei der Geburt sterben und zwei im ersten Lebensjahr.
Johanna ist das älteste der überlebenden Kinder. Auf sie folgen Harro, Sophos und Jacobine. Obwohl ihr Vater stirbt, als sie erst neun ist, und die Familie mit Armut zu kämpfen hat, bekommt Johanna eine gute Schulbildung an der Höheren Töchterschule des Fräulein Blöcker in Itzehoe. Studieren darf sie, wie gesagt, nicht.
Im Ausland
Stattdessen geht sie 1849 für mehrere Jahre in den Haushalt des Grafen Piper-Engsö in Schweden. Sie kümmert sich als Erzieherin um zwei Kinder und ist vielleicht auch Begleiterin der Gräfin. Sie wird wohl als Teil der Familie behandelt und bleibt ihr Leben lang mit ihnen in Kontakt. Offenbar verträgt sie aber das Klima nicht – oder nur die kalte, feuchte Luft in Schloss Engsö nicht.
Also zieht es sie gen Süden. Als Gesellschafterin der Gräfin Falletti di Villa Falletto reist sie nach Italien und Frankreich. Erst 1859 kehrt sie nach Deutschland zu ihrer Mutter und ihrem unverheirateten Bruder Harro zurück, der Müller und Mühlenzimmermann geworden ist.
Vom Schreiben leben
Im Jahr 1866 veröffentlicht Johanna einen Roman namens Wiebeke Kruse, eine holsteinischen Bauerntochter, in dem sie die Geschichte einer jungen Frau verarbeitet, die Mätresse des dänischen Königs Christian IV. wird. Angeblich basierend auf wahren Tatsachen.
Vor allem verdient sie ihr Geld aber mit Übersetzungen von Literatur, Sach- und Fachbüchern, von denen sich viele auch mit Archäologie beschäftigen. Mit ihren schwedischen Sprachkenntnissen ist sie gut dafür aufgestellt, denn die skandinavische Archäologie gilt um diese Zeit als führend. Auch Französisch spricht Johanna gut.
„Ich arbeite indessen meine 10–12 Stunden täglich. Darin kann man schon manches beschaffen“, sagt sie. Sie schreibt Artikel und Rezensionen für Zeitungen und hält Vorträge zur nordischen Mythologie. Ein Jahr später zieht es sie nach Hamburg, wo sie als „Secretär für die ausländische Korrespondenz und sonstige schriftliche Arbeiten am lithographischen Institut C. Adler“ arbeitet, also als Fremdsprachensekretärin.
Als Amateurin in die Archäologie
Ab 1868 ist sie freie Mitarbeiterin des Kieler Museums. Als Amateurin ohne Honorar. Sie reist zu den wichtigsten internationalen Archäologie-Kongressen unter anderem in Kopenhagen und Bologna, um zu netzwerken. Sie ist eine von ganz wenigen Frauen ohne Ausbildung unter den männlichen Professoren.
Ihre Bemühungen tragen Früchte. Man bietet ihr an, einen Katalog für die prähistorischen Sammlungen des neuen Culturhistorischen Museums Hamburg zu erstellen. Genau das tut sie dann auch. Zwei oder drei Jahre ohne Honorar. Besonders gelobt wird ihre regional gegliederte Systematik, ein neuer Ansatz.
Inzwischen weiß die Fachwelt jedoch, was sie an ihr hat. Sie wird allenthalben für ihre Tätigkeiten und Veröffentlichungen geschätzt. Schwerpunkt ihres eigenen Interesses ist die Vorgeschichte Schleswig-Holsteins. Sie prägt verschiedene Begriffe wie „Einzelgrabkultur“, „Prachtmantel“ und „Moorleiche“.1 Hier nur eine kleine Auswahl ihrer Artikel:
- Moor- und Erdfunde, 1868
- Deutsche Märchentexte, 1868
- Die scandinavischen Felsbilder, 1870
- Ein Wahnglaube über Menschenfresserei in Skandinavien, 1870
- Die Umschiffung Nova Semblas durch Capt. Mack, 1871
- Die altgrönländische Religion und die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer, Teil 1–3, 1871
- Ein Bronzefund bei Grabau, 1872
- Römische Alterthümer auf der cimbrischen Halbinsel, 1872,
- Worsaaes Antrag im dänischen Reichstage, betr. nötige Capitalien für erweiterte archäologische Untersuchungen, 1872
- Ein Riesenbett bei Albersdorf, 1873
- Die Gemme von Alsen, 1875
- Une erreur de traduction et les haches de pierre au Moyen age, 1876
- Die Fabrikation der sogenannten Tatertöpfe, 1879
- Die Entstehen der Schnalle, 1884
Als Kustodin nach Kiel
Im Jahr 1873 erhält sie die neu geschaffene Stelle als Kustodin des neuen Kieler Museums für Vaterländische Alterthümer, das aus zwei älteren Einrichtungen zusammengelegt wird.
Noch heute bildet Johanna Mestorfs Sammlung den Kern des Museums für Archäologie Schloss Gottorf. Sie setzt sich für eine bessere Aufbewahrung und Konservierung der prähistorischen Funde und eine zentrale Magazinierung ein und entwickelt einen Fundkatalog.
Wegen der voranschreitenden Industrialisierung und landwirtschaftlicher Intensivierung in Norddeutschland schlägt sie vor, in den Gemeinden jeweils eine Vertrauensperson zu ernennen, die als Kontaktperson zu den Museen und Forschungseinrichtungen fungiert. Bis heute wird diese Stelle noch besetzt.
Als Kustodin bekommt sie übrigens endlich ein Gehalt, doch üppig scheint es nicht bemessen zu sein. Als ihr Bruder ihr nicht mehr aushelfen kann, bittet sie 1876 offiziell um eine Gehaltserhöhung. Sie könne nicht mehr sparen, als sie es ohnehin schon tue, schreibt sie, weil sie gewissen Repräsentationspflichten nachkommen müsse. Ob die Erhöhung gewährt wird, weiß man nicht.

Weiter auf der Karriereleiter
Auch für die Literatur interessiert sich Johanna Mestorf noch. Trotz der großen Arbeitslast möchte sie 1884 mit vier anderen Frauen an der Kieler Universität als Gasthörerin an einer Vorlesung über Goethes Faust teilnehmen. Doch der Professor gibt dem Gesuch nicht statt: Er fühle sich der Beherrschung eines gemischten Auditoriums nicht gewachsen. (Erst 1908 dürfen sich Frauen in Preußen regulär immatrikulieren.)
Stattdessen wird Johanna Mestorf dann eben 1891 zur Museumsdirektorin befördert. Ein Triumph, der vielleicht dadurch geschmälert wird, das ihr als erster Frau auf diesem Posten eine achtköpfige (männliche) Kontrollkommission zur Seite gestellt wird.
Ihren Professorinnentitel 1899 erhält sie jedoch wirklich ganz allein. Sie ist inzwischen 70 Jahre alt und die erste Professorin in ganz Preußen. Vorlesungen hält sie jedoch nicht mehr ab. Sie erhält viele Ehrungen wie die Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft, den Silbernen Frauenverdienstorden oder die Schwedische Medaille der Gemahlin Oskars I. Zudem wird sie Ehrenmitglied der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte sowie der Münchner Anthropologischen Gesellschaft und vieler schwedischer Vereine.
Dazu kommt 1909 die Ehrendoktorwürde der Universität Kiel wegen ihrer Verdienste um die Moorleichenforschung. Im selben Jahr, wenige Monate nach ihrer Pensionierung, stirbt sie mit 80 Jahren.
Zumindest in Norddeutschland wurde Johanna Mestorf nicht vergessen. In Kiel wurde die Straße nach ihr benannt, an der sich das Institut für Ur- und Frühgeschichte und das Seminar für Volkskunde befinden. Auch eine Kieler Grundschule trägt ihren Namen. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof steht für sie ein Erinnerungsstein. Der Johanna-Mestorf-Preis würdigt hervorragende Doktorarbeit in den Bereichen Mensch-Umwelt-Forschung und Landschaftsarchäologie.
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Quellen:
Julia K. Koch und Eva-Maria Mertens (Hrsg.): Eine Dame zwischen 500 Herren. Johanna Mestorf – Werk und Wirkung, Waxmann 2002.
Wikipedia: Johanna Mestorf, Stand; Mai 2025
- Ich muss gestehen, den Begriff „Moorleiche“ hätte ich auch gern geprägt … ↩︎