Als Tochter den unerfüllten Traum des Vaters leben? Kann das gut gehen?
Im Fall von Marie Maynard Daly (1921–2003) schon. Ihr Vater Ivan C. Daly stammte von den British West Indies und wollte gern Chemie studieren. Doch trotz eines Stipendiums der Cornell University fehlte ihm schließlich das Geld, und so arbeitete er schließlich in New York City bei der Post.
Inspiration: The Microbe Hunters
Am 16. April 1921 kommt seine Tochter Marie im New Yorker Stadtteil Queens zur Welt. Nicht nur ihr Vater gibt ihr seine Begeisterung mit – auch die Privatbibliothek ihres Großvaters mütterlicherseits steigert ihre Begeisterung für die Naturwissenschaften. Besonders ein Buch von 1926 weckt in ihr den Wunsch, Wissenschaftlerin zu werden: The Microbe Hunters (deutsch: Mikrobenjäger) von Paul de Kruif.
Ausbildung: Columbia University
Familiäre Unterstützung ist also gegeben.
Marie Maynard Daly geht auf eine renommierte Mädchenschule schreibt sich danach am Queens College ein. Als Einwohnerin von Queens muss sie keine Studiengebühren zahlen, wohnt aber aus finanziellen Gründen trotzdem weiter bei ihren Eltern. 1942 erhält sie ihren Bachelor in Chemie mit magna cum laude und in der Folge ein nur selten vergebenes Stipendium.

Zu Kriegszeiten werden ihre beiden jüngeren Zwillingsbrüder eingezogen. Es fehlen viele Männer auf dem Arbeitsmarkt, und die Nachfrage nach naturwissenschaftlichen Innovationen ist groß. Marie Maynard Daly macht in diesem Umfeld ihren Master- und ihren Doktortitel an der New York University und der Columbia University.
Betreut wird sie von der Biochemikerin Mary L. Caldwell – eine weibliche Mentorin an Marie Maynard Dalys Seite. 1947 erlangt Marie Maynard Daly nach nur drei Jahren als erste Schwarze einen Doktortitel in Chemie in den USA. Der Titel ihrer Dissertation: A Study of the Products Formed by the Action of Pancreatic Amylase on Corn Starch. In ihrer Danksagung erwähnt sie das starke Netzwerk aus Forscherinnen, die sich gegenseitig unterstützen. Caldwell wiederum wird übrigens ein Jahr später die erste Professorin für Chemie an der Columbia.
Berufsleben: Von Zellkernen …
Während ihrer Karriere widmet Marie Maynard Daly sich ganz unterschiedlichen Themen. Eines davon ist die Erforschung von Zellkernen – eine Parallele zu Rosalind Franklin, die schließlich als „Entdeckerin der DNA“ galt, aber leider von ihren zwei männlichen Kollegen Watson und Crick ausgebootet wurde.
Dazu haben wir hier eine Podcastfolge. Und eine Romanbiografie natürlich auch.
James Watson übrigens zitiert in seiner Nobelpreisrede einen Artikel von Marie Maynard Daly, der ihn in seiner Forschung weitergebracht habe.

Marie Maynard Daly interessieren die Zellkerne vor allem in Bezug auf ihr Wachstum, was für die Krebsforschung nützlich ist. Die afroamerikanische Gemeinde ist stolz darauf, dass sie als einzige Schwarze am Rockefeller Institute arbeitet, und in einem Artikel im Interracial Review wird über sie berichtet. Heute klingt das etwas merkwürdig:
Die junge Dr. Daly arbeitet nun schon im dritten Jahr als Stipendiatin der American Cancer Society. Obwohl sie während des Großteils ihres bislang kurzen Erwachsenenlebens ihre Nase tief in Zellkerne, Chromosomen, Amylasen und andere biochemische Dingsbums vergraben hat, ist Miss Daly ein patentes und lebensfrohes amerikanisches Mädchen und kümmert sich nicht um die Aufmerksamkeit, die sie als die einzige schwarze Wissenschaftlerin im Institut auf sich ziehen muss.
(eigene Übersetzung, zitiert in Brown, S. 37/38)
Zudem erforscht sie in verschiedenen Laboren (kurz gesagt) Proteine, Zucker und Cholesterin. Sie beweist, dass ein hoher Cholesterinspiegel und Bluthochdruck zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen – ein revolutionäres Ergebnis, das die Grundlage für moderne Ernährungsempfehlungen legt.
… zur Minoritätenförderung
Während Marie Maynard Daly nach und nach immer gesichertere Positionen erreicht – 1971 wird sie schließlich Associate Professor –, kümmert sie sich auch um die Frauen- und Minderheitenförderung in MINT-Fächern. MINT steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. (Im Englischen gibt es den Begriff STEM für Science, Technology, Engineering, Mathematics, also leicht andere Schwerpunkte, aber das Prinzip ist dasselbe.)

Im Jahr 1975 nimmt sie an einer wegweisenden Konferenz der American Association for the Advancement of Science teil, nach der der Bericht The Double Bind: The Price of Being a Minority Woman in Science veröffentlicht wird: Was es bedeutet, in den Naturwissenschaften als Frau und Minderheit tätig zu sein. Der Bericht umfasst Vorschläge, wie sich die Lage verbessern lässt.

Bis zu ihrer Pensionierung 1986 ist sie Mitglied zahlloser Verbände und Vereine. Im Jahr 1988 gründet sie ein Stipendium für afroamerikanische Student:innen der Chemie und Physik am Queens College. Der Name ist Programm: Das Ivan C. and Helen H. Daly Scholarship ehrt ihren Vater Ivan (und ihre Mutter Helen), der seinen Traum eines Chemiestudiums nicht in die Realität hatte umsetzen können.
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Über ihr Privatleben ist wenig bekannt: Sie heiratet 1961 Dr. Vincent Clark aus New York und trägt seitdem den Namen Marie Maynard Daly Clark. Sie leben in Queens und später in Long Island. Marie spielt mit Begeisterung Flöte und wechselt später, als sie Krebs bekommt, der ihr das Spielen unmöglich macht, zur Gitarre. Sie liebt ihren Garten und ihre Hunde. Eigene Kinder hat sie nicht, aber mit ihrer Heirat wird sie zweifache Stiefmutter. Sie stirbt am 23. Oktober 2003.
Eine ausführliche Biografie über Marie Maynard Daly gibt es leider noch nicht.
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Quellen:
Jeannette E. Brown: African American Women Chemists. Oxford University Press 2012.
Marie Maynard Daly, Science History Institute Museum & Library, mit weiteren Leseempfehlungen auf Englisch, Stand: März 2025.
Unsung heroes in science: Marie Maynard Daly, Stand: März 2025.
Marie Maynard Daly, Wikipedia, Stand: März 2025.